Regelkunde für Fußballjournalisten in Düsseldorf

Die fiktive Weisheit der Zeitlupe

In Düsseldorf haben sich rund 40 Fußballjournalisten in Regelkunde schulen lassen – und dabei feststellen müssen, dass sie die Schiedsrichter oft voreilig und zu hart kritisieren.

Das Foul haben alle gesehen, aber was gibt es nun, außer einem Freistoß? Eine Verwarnung? Oder gar einen Platzverweis? Die meisten Anwesenden zögern mit der Entscheidung, weshalb der Referent sie ermahnt: »Das dauert viel zu lange! Der Schiedsrichter muss in Sekundenbruchteilen entscheiden. Also: Hoch die Dinger!« Der Referent, das ist Hellmut Krug, Berater der Deutschen Fußball Liga (DFL) in Sachen Schiedsrichterei und früherer Fifa-Referee, die Anwesenden sind allesamt Sportjournalisten, und bei den »Dingern« handelt es sich um gelbe und rote Plastikkarten, die zuvor ausgegeben wurden.
Es ist keine alltägliche Szenerie und keine alltägliche Veranstaltung, wenngleich sie bereits das sechste Jahr in Folge stattfindet: Die Schiedsrichterkommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und der Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS) haben Medienvertreter aus den Bereichen Print, Online, Hörfunk und Fernsehen eingeladen, sich anhand von Videoszenen in Regelkunde schulen zu lassen. Rund 40 von ihnen sind dem Angebot gefolgt und ins Hotel Tulip Inn gekommen, das in der Düsseldorfer Fußballarena liegt. Neben Hellmut Krug erläutert auch Bundesliga-Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer strittige Entscheidungen der Bundesliga-Vorrunde und steht Rede und Antwort.
Was für die Journalisten den Charakter einer Fortbildungsveranstaltung hat, ist für Krug und Kinhöfer auch der Versuch, bei den Teilnehmern um mehr Verständnis für die mit der Schiedsrichterei verbundenen Schwierigkeiten zu werben. Schließlich sind es die Medien, die maßgeblich darüber bestimmen, welches Bild die Öffentlichkeit von den Unparteiischen und ihren Entscheidungen hat. Thorsten Kinhöfer, hauptberuflich Leiter der Abteilung Controlling eines Energieversorgers, kann ein Lied davon singen. »Die Leute nehmen Ihre Meinung auf, denn Sie sind für sie die Experten«, erklärt er im Fritz-Walter-Saal des Hotels an die Journalisten gerichtet. »Und wenn Sie sagen oder schreiben, Schiedsrichter Kinhöfer hat richtig gelegen, dann kommen meine Kollegen und sagen: ›Toll gepfiffen!‹ Umgekehrt heißt es entsprechend: ›Na, wieder Scheiße gebaut?‹«
Dabei weichen die Bewertungen in den Medien und die offiziellen Beurteilungen durch die Beobachter des DFB teilweise erheblich voneinander ab, wie Hellmut Krug deutlich macht: »Wir orientieren uns in keiner Weise an den Noten von Bild, Kicker und Co. Zwar sind wir nicht so weltfremd zu sagen: Das ist alles dummes Zeug, was da geschrieben wird. Aber die meisten Medien, in denen die Schiedsrichter benotet werden, sehen nicht die Gesamtleistung, sondern nehmen falsche Einzelentscheidungen zum Anlass, dem Schiedsrichter eine schlechte Note zu geben.« Und das sei bedenklich, zumal die Unparteiischen – anders als die Spieler – einen Fehler nicht im Laufe einer Partie wiedergutmachen könnten. Natürlich wirkten sich schwerwiegende Irrtümer auch auf das offizielle Beobachtungsergebnis aus, so Krug weiter. »Aber wenn man erst zwei oder drei Wiederholungen benötigt, um zu erkennen, dass der Schiedsrichter falsch gelegen hat, kann man nicht von einem krassen Fehler sprechen. Genau das passiert in den Medien allerdings leider immer wieder.«
Um zu veranschaulichen, wie knifflig die Entscheidungsfindung für die Referees häufig ist, zeigen Krug und Kinhöfer den Medienvertretern etliche Spielszenen zunächst nur einmal in der Originalgeschwindigkeit und lassen sie dann unter Zeitdruck entscheiden: Handspiel oder nicht? Foul oder Ball gespielt? Abseits, ja oder nein? Gelbe oder rote Karte? Viele Journalisten zögern mit ihren Festlegungen und liegen dann auch noch oft falsch, wie sich zeigt, wenn die verlangsamte Wiederholung eingespielt wird. Hellmut Krug formuliert das pädagogische Ziel dieser Übung gegenüber dem Schiedsrichter-Podcast »Collinas Erben« so: »Die Medien sollten erkennen, dass vieles nur auf Zeitlupenwissen beruht. Der erste Eindruck, den sie haben, ist auch der, den der Schiedsrichter hat. Alles, was dann dazukommt, zeigt möglicherweise, dass der Schiedsrichter falsch gelegen hat – aber häufig eben erst nach der dritten, vierten Zeitlupe.« Thorsten Kinhöfer ergänzt: »Es wäre wünschenswert, wenn die Medien auch einmal deutlich machen würden, warum ein Schiedsrichter einen Fehler gemacht hat – beispielsweise, weil ihm Spieler die Sicht behindert haben oder weil er eine Situation aus seiner Position gar nicht erkennen konnte, obwohl er völlig richtig stand.«
Dabei sind die weitaus meisten Entscheidungen, die ein Bundesliga-Schiedsrichter im Laufe eines Spiels zu treffen hat, vollkommen korrekt. Eine Quote von über 90 Prozent – bei rund 220 Entscheidungen pro Spiel – hat man beim DFB ausgerechnet, das ist ein Wert, den nur ganz wenige Spieler erreichen, wenn man zum Vergleich ihre Passsicherheit heranzieht, also die Prozentzahl der beim Mitspieler angekommenen Zuspiele. Besonders zufrieden sind die Verantwortlichen für das Schiedsrichterwesen mit den Entscheidungen der Referees in der Bundesliga-Vorrunde beim heiklen Thema Handspiel und bei der Vergabe von gelben und roten Karten. »In dieser Hinsicht lagen die Unparteiischen fast immer richtig«, lobt Hellmut Krug. Verbesserungsbedarf sei hingegen bei der Beurteilung des Ellenbogen- und Armeinsatzes in Zweikämpfen ausgemacht worden; hier hätten die Bundesliga-Schiedsrichter zuletzt nur in der Hälfte der strittigen Szenen regelgerecht entschieden.
Krug und Kinhöfer beantworten aber auch Fragen der Journalisten, etwa zum Thema Profischiedsrichter. Hellmut Krug erläutert, dass ein guter Referee mittlerweile zwischen 80 000 und 100 000 Euro pro Jahr verdienen könne; dazu müsse er die Arbeitszeit in seinem Job reduzieren und vom DFB flexibel einsetzbar sein. »Aber wir wollen ausdrücklich auch, dass die Schiedsrichter ein zweites Standbein haben, also ihren Beruf teilweise beibehalten«, so Krug weiter. Die Forderung nach einem Profischiedsrichter sei zwar »gut und schön«. »Aber erstens: Warum sollte der besser pfeifen? Und zweitens: Wenn man als Vollprofi auf dem Platz steht, bringt einen jede Fehlentscheidung der Arbeitslosigkeit näher. Was das für ein Druck ist!« Ein Fußballspieler stehe nicht in diesem Maße unter Druck, denn er habe immer noch die Möglichkeit, zu einem anderen Verein zu wechseln. Ein Schiedsrichter könne das nicht. »Und wenn der mit 35 plötzlich arbeitslos wird und fünf Jahre lang nicht in seinem Beruf gearbeitet hat, dann hat er ein Problem«, sagt Krug. Deshalb wolle man am bestehenden Modell unbedingt festhalten.
Was sie sich wünschten, werden die beiden Referenten abschließend gefragt. Mehr Verständnis der Medien für die Schwere des Schiedsrichteramtes, antwortet Hellmut Krug. Thorsten Kinhöfer sieht das genauso und hätte außerdem gerne »einen größeren Respekt der Trainer im Umgang mit den Schiedsrichtern«. Denn das Auftreten der Übungsleiter sei manchmal viel zu aggressiv. »Die Schiedsrichter sind ein selbstverständlicher Bestandteil des Spiels, und ein Trainer geht ja auch nicht so auf gegnerische Spieler los wie teilweise auf die Unparteiischen«, sagt der 44jährige. Da nicken die Journalisten. Doch wie lange wird ihre neu gewonnene Empathie gegenüber den Referees anhalten?