Was ändert sich durch die Förderung von Schiefergas?

Die Welt wird schiefer

Die »Schiefergasrevolution« und die Renaissance der Kohle werden das Ende des fossilen Kapitalismus noch etwas hinauszögern – mit verheerenden ökologischen und ungewissen geopolitischen Folgen.

Die Liste liest sich wie das Who is Who der US-amerikanischen Musik- und Künstlerszene: Lady Gaga, die Beastie Boys, Beck, Mitglieder von Sonic Youth und Schauspieler wie Robert De Niro unterstützen die von Yoko Ono initiierte Protestseite »Artists against Fracking«. Das ist ein Indiz dafür, welche Relevanz in den USA die Proteste gegen diese neue Art der Energiegewinnung gewonnen haben. Auch der dieses Jahr auf der Berlinale erstmals in Europa gezeigte Film »Promised Land« von Gus Van Sant greift das Thema auf und sorgte diesseits und jenseits des Atlantiks für Aufmerksamkeit. Kürzlich wurden Pläne von einer Gruppe Bundestagsabgeordneter von CDU und FDP bekannt, die Förderung von Schiefergas in Deutschland noch vor der Bundestagswahl unter Umweltschutzauflagen zu ermöglichen. Doch auch in Deutschland regt sich Widerspruch, zahlreiche Initiativen haben sich in der Dachorganisation »Gegen Gasbohren« zusammengeschlossen. Manche Medien sehen gar das Potential für eine neue Protestwelle.
Die Proteste in Europa und den USA richten sich vornehmlich gegen die unmittelbar bedrohlichen Folgen des »Fracking« wie die Verschmutzung des Grundwassers. Die Extraktionsmethode muss aber auch in einem breiteren Kontext gesehen werden. Weil viele bedeutende Ölvorkommen zur Neige gehen und wahrscheinlich nicht genug neue Quellen erschlossen werden können, um den wachsenden Bedarf zu decken, wird versucht, die kapitalistische Produktionsweise aus ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wie Öl, Kohle und Gas zu befreien, etwa durch den Ausbau der Energiegewinnung aus erneuerbaren Energiequellen wie Sonne, Wind und Wasser. So hat sich die EU zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien an der Gesamtenergieproduktion auf 20 Prozent zu erhöhen. Neben der Abhängigkeit von erschöpfbaren fossilen Energieträgern spielt auch das Klimaschutzziel – die Reduktion der Emissionen des Treibhausgases CO2 – eine Rolle.

Doch derzeit scheint sich in den USA – von wo schon die fordistische und finanzmarktgetriebene innerkapitalistische Revolution ausging – eine neue industrielle Revolution zu ereignen: die »Schiefergasrevolution«. Das Schiefergas ist ein in Tonstein gespeichertes Erdgas der sogenannten unkonventionellen Sorte. Das heißt, die Gewinnung ist im Vergleich zum konventionellen Gas sehr aufwendig. Um das Gas von den Steinen zu trennen, wird per Bohrer eine Mischung aus zahlreichen chemischen Substanzen und sehr viel Wasser unter die Erdoberfläche gepresst. Rund um den Bohrstrang entstehen dadurch gasdurchlässige Strukturen. Dieses Verfahren wird »Hydraulic Fracturing« (hydraulische Rissbildung), kurz »Fracking« genannt. Da zahlreiche Studien auf die negativen ökologischen und gesundheitlichen Folgen wie Lärmbelästigung, Flächenverbrauch und Verunreinigung von Grund- und Trinkwasser hingewiesen haben (Jungle World 20/2011), war es in den USA aufgrund von Umweltauflagen bis vor wenigen Jahren nicht verbreitet. Erst als die Auflagen – nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Firma Halliburton – 2005 gelockert wurden, stieg die Förderung von Schiefergas rasant an. Während der Anteil des Schiefergases an der gesamten US-Gasproduktion im Jahr 2000 lediglich fünf Prozent betrug, waren es 2010 bereits 23 Prozent. Derzeit wird von einer Zunahme der Förderung um jährlich 20 Prozent ausgegangen. Die Vorräte in den USA sind riesig, nach denen in China die zweitgrößten weltweit. Der jüngsten Prognose der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge werden sich die USA bis 2020 von einem Energieimporteur zu einem -exporteur entwickeln. Zwar lag die IEA in der Vergangenheit mit ihren Prognosen auch schon mal daneben, doch hat diese Entwicklung – zumindest mittelfristig – bedeutende Konsequenzen nicht nur für die USA, sondern für das gesamte Weltsystem – und zwar in geopolitischer wie ökologischer Hinsicht.
Für die USA könnte sich ein Reindustrialisierungsprozess abzeichnen. Durch das Sinken der Energiepreise in den USA gewinnt der Standort im weltweiten Konkurrenzkampf an Attraktivität. Die FAZ zitierte unlängst eine vertrauliche Studie des Bundesnachrichtendienstes, danach könnten in den USA infolge des Schiefergasbooms bis zu drei Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Das mag übertrieben erscheinen, US-Präsident Barack Obama etwa geht von niedrigeren Zahlen aus. Doch auch Analysten des Finanzdienstleisters Citigroup sehen im Schiefergasboom großes Potential: Es lohne sich wieder, in den USA zu produzieren. In der Tat werden bereits im petrochemischen Bereich und der Stahlproduktion Unternehmensverlagerungen in die USA beobachtet. Überdies stünden die Chancen gut, dass die USA bis 2020 ihr enormes Haushaltsdefizit halbieren könnten. Das wiederum würde den US-Dollar als Leitwährung stärken.

Zusammengenommen könnte dies zu einer deutlich veränderten geopolitischen Konstellation führen, wie Robert D. Kaplan in einer Analyse für den privaten Nachrichtendienst Stratfor ausführt. Ob und wie viel Schiefergasvorkommen in einem Land vorhanden sind, werde zu einer bedeutenden Frage. Zu den Gewinnern werden laut Kaplan die USA, Kanada, Australien, Polen und die Ukraine zählen, während die traditionellen Gasexporteurstaaten – allen voran Russland – sich auf der Verliererseite wiederfinden könnten. Vor allem der Nahe Osten, der für die USA seit 1945 als Öllieferant von fundamentaler Bedeutung war, wird für sie weniger wichtig werden. Schon wird gemutmaßt, ob die USA dort demnächst ihre Militärpräsenz einschränken könnten. China und andere Schwellenstaaten wie Indien dürften bereits darauf warten, dieses mögliche Machtvakuum auszufüllen. Das alles ist jedoch Spekulation, denn es gibt auch Beobachter, die im Schiefergasboom nur eine kurzfristige Blase sehen.
Werner Zittel, einem Vorstandsmitglied der »Association for the Study of Peak Oil and Gas«, zufolge zeichne sich in Nordamerika bereits das Ende des Schiefergas-Hypes ab. Hauptverantwortlich dafür sei ein technisches Problem: die Förderrate. Diese sinke nämlich bei Schiefergas viel schneller als bei konventionellen Gasfeldern. »Wir sprechen hier von einem Abfall in der Förderung von 50 bis 80 Prozent pro Jahr«, sagte Zittel im Oktober der SZ. Hinzu kommt, dass die US-Energiebehörde EIA ihre Angaben über die Schiefergasvorräte voriges Jahr um 42 Prozent nach unten korrigiert hat. Wenn die Gaspreise wie derzeit weiter sinken, könnte das aufwendige »Fracking« schließlich bald nicht mehr lukrativ sein.
Was schon deutlicher prognostiziert werden kann, sind die verheerenden Folgen für den Klimaschutz. Wie die Studie »Shale gas. Unconventional and unwanted« der Umweltorganisation Friends of the Earth Europe zeigt, führt der derzeitige Schiefergas-Boom einerseits zu einem Rückgang der Investitionen in erneuerbare Energien, weil diese im Vergleich zu anderen nicht die höchsten Profite versprechen – das Kriterium für die kapitalistische Produktionsweise. Andererseits, so die Untersuchung, gebe es immer mehr Beweise dafür, dass Schiefergas kein fossiler Energieträger mit relativ geringen Treibhausgas­emissionen ist. Zwar liegen diese bei der Verbrennung selbst um die Hälfte niedriger als bei Kohle oder Öl, doch muss der gesamte Nutzungszyklus berücksichtigt werden und vor allem, dass bei der Extraktion unbeabsichtigt Methan freigesetzt wird. Diese Verbindung aber ist ein 20- bis 30fach wirkungsvolleres Treib­hausgas als Kohlenstoffdioxid. Deshalb halten Wissenschaftler Schiefergas in Gewinnung und Verbrauch für genauso klimaschädlich wie oder gar noch schädlicher als Kohle. Die klimaschädliche Wirkung könnte bis zu 30 Prozent höher ausfallen.

Auch der schmutzigste aller fossilen Treibstoffe erlebt seit geraumer Zeit eine heimliche Rückkehr – und das liegt auch am Schiefergas-Boom. Denn durch das zusätzliche Energieangebot Schiefergas ist die Nachfrage nach Kohle in den USA gesunken und damit auch der Preis, wobei ein Teil der nicht nachgefragten Kohle in andere Länder exportiert wird. Da die Preise für Zertifikate des EU-Emissionshandels zurzeit ebenfalls sehr niedrig sind, ist es zu einer deutlichen Verlagerung von Gas zu Kohle gekommen und zwar nicht nur in Schwellenländern wie China und Indien, sondern auch in Ländern wie Deutschland und anderen, die sich offiziell den Klimaschutzzielen verpflichtet haben. Es wird daher prognostiziert, dass Kohle binnen zehn Jahren Öl als wichtigsten Energielieferanten überholt haben wird. Das Fatale aus der Perspektive des Klimaschutzes ist dabei: Die Steinkohlevorräte reichen noch für mindestens 130 Jahre und die Braunkohlevorräte für 230 Jahre, außerdem ist dieser fossile Energieträger leicht abzubauen und billig. »Das Kohlezeitalter ist nicht zu Ende, noch lange nicht«, konstatiert daher Claudia Kemfert, Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Aufgrund dieser Entwicklung geht Greenpeace davon aus, dass sich die Emission von CO2 bis 2030 um 60 Prozent erhöhen wird. Allein die Realisierung der derzeit geplanten 14 größten fossilen Energiegewinnungsvorhaben würde laut dem Greenpeace-Bericht »Point of no Return« zu einem Anstieg der globalen Temperaturen um fünf bis sechs Grad Celsius bis zum Jahr 2100 führen – eine beängstigende Vorstellung.
Es wird also keinen fundamentalen ökologischen Umbruch geben, weil die nächste schwarze Zahl im Quartalsbericht oder Jahresabschluss im Kapitalismus immer wichtiger sein wird als die Frage, ob in einem oder zwei Jahrhunderten so manche Küstenstadt des Globalen Südens noch existieren oder in den Fluten der Meere verschwunden sein wird. Ulrich Grillo, der neue Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, drückte es in einem Interview mit der FAZ Ende Januar so aus: »Wir können uns langfristig keine grünen Gedanken erlauben, wenn wir nicht schwarze Zahlen schreiben.«