Georgi Medarow im Gespräch über die Regierungskrise in Bulgarien

»Es ist eine seltsame Mischung aus direkter Demokratie und Autoritarismus«

Nach großen Protesten gegen zu hohe Stromrechnungen trat am Mittwoch vergangener Woche die bulgarische Regierung zurück. Die Jungle World sprach mit dem linken Aktivisten Georgi Medarow über die politische Situation in Bulgarien. Er promoviert an der Universität in Sofia in Soziologie und ist Mitglied der Gruppe »New Left Perspectives«, die politische Bildung und Diskussionsveranstaltungen organisiert.

Waren die Menschen, die in Bulgarien auf die Straße gingen, zuvor politisch organisiert?
Nein. Erst später kamen politisch Organisierte dazu, aber sie werden nicht als Repräsentanten der Proteste anerkannt. Die Menschen, die zumindest in Sofia am aktivsten waren, kamen aus der Umweltbewegung, von der Protestbewegung gegen das Fracking von Schiefergas. Aber das waren nicht diejenigen, die die Proteste initiiert hatten. Diese waren eher spontan als organisiert, mobilisiert wurde über das Internet, über Facebook. Es waren die hohen Stromrechnungen, die die Wut der Bürger entfachten. Vor allem arme Menschen gingen in ganz Bulgarien auf die Straßen, verbrannten ihre Rechnungen und riefen Parolen.
Kamen die Proteste tatsächlich überraschend oder gab es vorher bereits Anzeichen für eine Eskalation?
Diese Proteste kamen für alle überraschend, aber seit einigen Jahren haben Formen extremer sozialer Ungleichheit zugenommen, vor allem unter der nun zurückgetretenen Regierung, die sich damit rühmte, Sparmaßnahmen durchgesetzt zu haben. Die daraus resultierenden sozialen Spannungen konnten sich auf alle möglichen Arten äußern. Im September 2011 gab es eine ähnliche, aber viel kleinere soziale Eskalation. In einem Dorf gab es einen reichen Unternehmer und Gangster, der Beziehungen zu allen politischen Parteien unterhielt. Er befahl angeblich, einen bestimmten Jungen zu töten, und dann gab es Krawalle in dem Dorf gegen ihn, aber weil er Roma ist. Darauf folgten gegen Roma gerichtete Krawalle im ganzen Land. Das war auch eine Art sozialer Aufstand, der sich aber rassistisch äußerte. Jetzt äußert sich der Unmut gegen die Ungleichheit eher sozial, aber niemand weiß, wie es sich weiter entwickeln wird.
Gibt es rechte oder neonazistische Organisa­tionen, die versuchen, den Protest zu vereinnahmen?
Es gibt Versuche einiger rechter Organisationen, aber die Anhänger der offiziellen rechtsextremen und faschistischen Parteien wurden aus den Protesten rausgeworfen. Aber aus den falschen Gründen: Die Leute sahen sie nur als eine weitere politische Partei und sie hassen alle Parteien. Diese Proteste sind antipolitisch in dem Sinne, dass sie alle Formen politischer Repräsentation ablehnen. Aber gleichzeitig gibt es andere rechtsextreme Gruppen, die als Teil der Proteste anerkannt werden, ein neuer Typ faschistischer Organisationen, in gewisser Weise autonome Nazis.
Warum hatten die Proteste in Bulgarien im Vergleich zu denen in Griechenland auf den ersten Blick Erfolg?
Die Regierenden merkten, dass die Proteste wohl für Wochen oder Monate weitergehen und sie die Wahlen verlieren würden. Ministerpräsident Borissow sagte: »Ich will kein Blut auf den Straßen sehen«, und trat ab – ein strategischer Schritt, um als Bewahrer des Friedens und der Nation angesehen zu werden. Das war die einzige Möglichkeit, ein paar Stimmen für die kommenden Wahlen anzuziehen. Er trat aber nicht wirklich ab, sondern es war ein Versuch, die Macht wiederherzustellen.
Wird es eine politische Organisation geben oder werden die Proteste apolitisch bleiben?
Anfangs ging es um Forderungen nach der Verstaatlichung der Stromversorger, aber auch anderer Grundversorger wie Wasser­unternehmen. Am Sonntag gab es dann die größten Proteste mit Hunderttausenden Menschen im ganzen Land. Langsam werden die ursprünglichen ökonomischen Forderungen in den Hintergrund gedrängt. Die Forderungen richten sich inzwischen gegen das politische System an sich. Es gibt Forderungen danach, die Verfassung zu ändern, alle Parteien zu verbieten. Einige verlangen ein präsidiales statt eines parlamentarischen Systems, ein politisches System, das nicht auf Parteien, sondern auf Persönlichkeiten beruht. Es ist eine seltsame Mischung aus direkter Demokratie und Autoritarismus. Es ist schwer zu sagen, was passieren wird, denn es gab ein großes Verlangen danach, alle Formen politischer Repräsentation abzuschaffen. Die Leute haben auch nach Technokraten verlangt. Sie sagen: Wir brauchen nur einen guten Ökonomen. Das ist eigentlich das, was die derzeitige Regierung versprochen hatte, dass sie Experten an die Macht bringen wird, was wiederum der Grund für den Unmut war.
Sie erwarten nicht, dass es tatsächlich einen Wandel geben wird?
Ich denke nicht, dass alles beim Alten bleibt. Letztlich war es eine Äußerung gesellschaftlichen Unmuts, der, wenn nicht gegen die Sparmaßnahmen gerichtet, zumindest von ihnen ausgelöst worden war, da sie zu extremer sozialer Ungleichheit geführt haben. Das ganze politische System muss sich auf diese Proteste einstellen, aber auf welche Weise, wissen wir nicht. Vielleicht werden sich die Leute stärker selbst organisieren, manche tun es schon. Aber manchmal entwickeln sich bei diesen spontanen Formen der Organisation seltsame Ideen. Zum Beispiel haben sie in der Stadt Wraza eine neue Verfassung entworfen, die komplett antidemokratisch ist. Menschen ohne Ausbildung oder jenen, die ihre Steuern nicht bezahlen, soll ihr Stimmrecht entzogen werden. Manche Menschen haben verrückte Ideen, aber das liegt daran, dass es keine Zeit für Reflexion gab. Es gibt meiner Meinung nach auch nicht genügend kritische Intellektuelle, die Argumente vorbringen könnten für Formen neuer gesellschaftlicher Organisation.