Die Eskalation der Proteste gegen die ägyptischen Muslimbrüder

Rote Linien

Die deutsche Außenpolitik hat sich den ägyptischen Muslimbrüdern angenähert. Aber die Revolte gegen deren autoritäre Herrschaft eskaliert.

Es waren fromme Wünsche, die der deutsche Außenminister Guido Westerwelle Ende 2011 formulierte, um die Annäherung des deutschen Staats an die Muslimbrüder in Ägypten und al-Nahda in Tunesien rhetorisch zu unterfüttern. Er sprach von »roten Linien«, die nicht überschritten werden dürften, die Islamisten sollten »auf Gewalt verzichten, sich zu Demokratie, Rechtsstaat, Pluralismus sowie zum inneren und äußeren Frieden bekennen«. Kurz darauf sprach er in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nicht einmal mehr von Islamisten, sondern von »islamisch orientierten Kräften« und »moderat islamischen Parteien«, die sich zu »islamisch-demokratischen Parteien« entwickeln könnten.
Die Realität sieht anders aus. In Ägypten hat die Revolte gegen den institutionellen Putsch der Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das die aufständische Bewegung gegen Mubarak in den Schatten stellt: offener Aufruhr in Kairo, in der Textilregion Mahalla, in den ökonomisch wichtigen Städten am Suez-Kanal wie Port Said. Menschenrechtler beklagen, die Polizei handele mittlerweile wie eine Bande. »Nach dem Tod eines Offiziers in Beni Suef, einer armen Stadt südlich der Hauptstadt, wurde sein mutmaßlicher Mörder von Polizisten fast totgeschlagen, während hochrangige Offiziere zuschauten und nicht intervenierten. Polizisten lassen sich auf kollektive Strafaktionen ein, indem sie private Wohnungen überfallen, um ganzen Nachbarschaften eine Botschaft zu übermitteln. Sie werden ebenfalls verdächtigt, eine Reihe prominenter Aktivisten gekidnappt zu haben«, schrieb der Blogger Issam al-Amrani am Montag in The National. Mittlerweile finde eine »offene Rebellion« gegen die Regierung von Mohammed Mursi statt, Polizisten hätten sich geweigert, an Hotspots Dienst zu tun, der Polizeistreik habe zehn Gouvernorate erreicht und beginne, »wie eine offene Meuterei auszusehen«. Der Grund: Die Polizisten wollten nicht als Sündenböcke für eine politische Krise herhalten, die von den regierenden Muslimbrüdern geschaffen worden sei. Die Militärführung will offenbar als über den streitenden Fraktionen stehend gelten und hält sich derzeit zurück.
Nicht nur die Polizei ist außer Rand und Band. Die Muslimbrüder haben bereits Milizen gebildet, im Dezember wurden von diesen unter der Aufsicht von Polizeikräften betriebene Folterkeller in Kairo entdeckt. Kein Wunder, dass sich immer mehr Jugendlich vom Black Bloc oder den Ultras angezogen fühlen und sich militant gegen Islamisten und Repressionskräfte zur Wehr setzen. »Jeder männliche Teenager in Kairo wird behaupten, nun ein Ultra zu sein, und es scheint, dass jede Straße ihre Insignien und ihren bevorzugten Slogan ›All Cops are Bastards‹ trägt«, meinte Issam al-Amrani. Nur schön ist das nicht, teils scheinen sich wahre »Gangs of Cairo«-Szenarien mit Knüppel schwingenden Kids abzuspielen. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Revolte gegen Mubarak am 25. Januar, dem ägyptischen »Tag der Polizei«, begann, und dass eine ihrer Ikonen Kha­led Said war, den Polizisten getötet hatten. Seit dem Sturz Mubaraks hat keine Regierung auch nur zaghaft eine Reform der Polizeikräfte in Angriff genommen.
Was bleibt von Westerwelles »roten Linien«? Nichts. Aber vermutlich wird die deutsche Außenpolitik weiter auf die Muslimbrüder als Stabilisierungsfaktor setzen. Das hat bereits bei Mubarak prächtig funktioniert.