Das Ego-Buch von Frank Schirrmacher

Denken, was man nicht weiß

Er hat wieder hingelangt: In seinem neuen Buch »Ego. Das Spiel des Lebens« erklärt Frank Schirrmacher die Welt.

Wir befinden uns mitten im Krieg. Nein, nicht im Irak, nicht am Hindukusch, nicht in Mali. Der Krieg findet in unseren Köpfen statt. Und es geht bei diesem Krieg ausschließlich um unsere Köpfe. So jedenfalls sieht es Frank Schirrmacher. Und hat daher ein Buch darüber geschrieben, das jedoch kein Buch ist, sondern gleich ein Bestseller. Schirrmacher ist ein einflussreicher Mann. Er würde wohl sagen: eine Marke.
Der Mitherausgeber der FAZ hat das Feuilleton in den vergangenen Jahren wie kein anderer geprägt, er hat Debatten entfacht, sich über bisherige Konventionen hinweggesetzt, und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, so wie sie jetzt erscheint, wesentlich gestaltet. Er wurde mit Häme überschüttet, noch mehr aber mit Auszeichnungen. In den Redaktionen fürchtet man ihn, und nicht nur ehemalige Redakteurinnen und Redakteure der FAZ arbeiten sich noch immer an dem Mittfünfziger ab. Schirrmachers Wort hat Gewicht, seine vorigen Bücher wurden allesamt Bestseller.
In diesen Tagen ist nun sein Buch »Ego. Das Spiel des Lebens« erschienen und setzte sich sofort an die Spitze der Bestsellerlisten. In »Ego« entdeckt Schirrmacher eine »Falle«, in die wir alle getappt sind. Wir alle seien Opfer des »ökonomischen Imperialismus«, der »Homo oeconomicus«, eine Modellfigur, die Schirrmacher unsere »Nummer 2« nennt, habe uns selbst überflüssig gemacht.
Das sei wie folgt vor sich gegangen: In den USA der fünfziger Jahre habe man die Spieltheorie entdeckt, um im Kalten Krieg die Strategien des Feindes, also der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, besser durchschauen zu können. Man habe die These entwickelt, dass der andere jeweils nur aus egoistischen Motiven, also zum eigenen Vorteil handele. Selbst wenn er sich scheinbar altruistisch verhalte, tue er dies nur, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Man habe mit der »Nummer 2« ein Modell des Menschen entwickelt, um ihn einschätzen, ja, seine Handlungen vorhersagen zu können. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien die Spieltheoretiker arbeitslos geworden und hätten bei Banken in der Wall Street angeheuert, um nun dort ihre kriegerische Theorie auf die Finanzmärkte anzuwenden – mit dem Ergebnis, dass nun jeder Trader von einer Maschine abhängig sei, die ihm »in Echtzeit« eine aufgrund der Spieltheorie errechnete Verhaltensweise vorhersage.
Denn die Spieltheorie sei erst mit dem Einzug der Computer in alle Büros und die heimischen Arbeitszimmer zu sich selbst gekommen, nun sei die Annahme, dass jeder Mensch ein Egoist sei, in den Algorithmen verborgen, und die »Nummer 2« übernehme die Herrschaft über unseren Kopf – auf Facebook, beim Lesen von E-Books, beim sogenannten Euro-Rettungsschirm.
Ja, wirklich, »Nummer 2« ist laut Schirrmacher inzwischen allüberall, »selbst die Natur rechnet wie ein Börsentrader«. So aber sei alles von der Geschäftemacherei infiziert, sei der »Informationskapitalismus« – denn Informationen seien die neue, mauernbrechende Handelsware der Macht – derjenige, der die Menschen von sich selbst entferne, der sie in seinem Sinne optimiere. Man werde geradezu schizophren. In Schirrmachers unnachahmlicher Diktion: »Zu handeln, wie man nicht denkt, und zu denken, was man nicht weiß, produziert enorme Widersprüche, die man, wie bei einer Krankheit, an ihren Symptomen erkennt.«
Ein »Monster« sei also von den Spieltheoretikern im Verbund mit den Rechenmaschinen freigesetzt worden, und Schirrmacher meint »Monster« buchstäblich. Er vergleicht dieses mit Stevensons »Mr. Hyde« oder der Kreatur von Mary Shelleys »Frankenstein«. Denn irgendwie kommt das Monster auch aus der Elektrizität, irgendwie habe die Dampfmaschine erst den Androiden ermöglicht, der nun als »Nummer 2« … oder sind wir der Androide … und wer sind dann die Roboter? Egal, alles hängt ja mit allem zusammen, ist böse, unaufhaltsam, tödlich, wir sind alle indoktriniert, bin ich noch ich oder schon du, wir haben unsere Seele an den Computer verkauft, hilfehilfe – doch nein, gerade als man sich das Messer an die Pulsadern setzt, um das Monster zu vernichten, in das uns amerikanische Physiker verwandelt haben, die die Elektrizität beherrschen wie – kein Witz – »Alchemisten«, kommt das letzte Kapitel, in dem uns Schirrmacher beruhigt. Denn obzwar wir, wie er zuvor behauptet hat, bereits vollständig überwacht und restlos durchdrungen vom Monster sind, können wir uns befreien, in dem wir »die Marionette töten«. »Wir müssen uns vor denen schützen, die nicht nur Misstrauen und den Kult des Egoismus beschwören, sondern auch noch einen bizarren Preisettikettenautomaten für unsere Gedanken im Inneren unseres Kopfes installieren wollen.« Kurz – man spielt nicht mehr mit, und schon ist der allmächtige Informationskapitalismus am Ende. It’s easy.
All das, was Schirrmacher da schreibt, ist wild zusammengestoppelt, willkürlich zitiert, redundant, an den Haaren herbeigezogen und durch wilde Assoziiererei und Namedropping in eine mehr oder minder zusammenhängende Form gebracht worden. Alan Posener und Cornelius Tittel wiesen in der Welt darauf hin, wie und was Schirrmacher falsch zitiert, Joachim Rohloff sezierte im Merkur Schirrmachers Sprache, hinter vorgehaltener Hand erzählen Redakteure, dass Schirrmacher sich offensichtlich reichlich beim Plot der verschwörungstheoretischen TV-Serie »The Trap« von Adam Curtis bedient habe, viele lachen über das Buch. Andere wiederum, die nicht glauben wollen, dass es Kapitalismuskritik von rechts geben könnte, feiern Schirrmacher als Vordenker der Linken, auch dann, wenn sie sich nicht trauen, ihn ausgiebig zu zitieren, da seine Thesen so hanebüchen sind.
Zudem ist leicht zu erkennen, dass Schirrmacher Ideologie und Algorithmen verwechselt, dass er dem Computer magische Fähigkeiten zuschreibt, dass er fiese Zauberer und Monstermacher am Werke sieht, die uns alle in Homunculi verwandeln wollen – nein, Homunculus sagt er nicht, denn Goethe passt gerade einmal nicht in seine Argumentation.
Doch von all dem lässt sich Schirrmacher nicht beirren. Denn »Ego« ist vor allem ein Unterhaltungsbuch für das verwirrte Postbürgertum. Es appelliert an dessen Ängste und Vorurteile (Amerika! Wall Street! Internet! Physik!). Es stellt die Errungenschaften der Moderne komplett in Frage, nicht etwa werden Computer als Werkzeuge nur falsch genutzt, nein, sie können dem Menschen gar nicht helfen, sie selbst sind der Kriegstreiber. So wie auch die Naturwissenschaft allen Boden unter den Füßen verloren hat, weil sie in Zahlen rechnet, statt auf die Seele des Menschen zu achten. Das meint Schirrmacher tatsächlich ernst. Selbst wenn er am Ende alles auflöst und man die Fesseln der zuvor wortreich als allmächtig dargestellten Algorithmen plötzlich einfach so abstreifen kann, so geht es ihm eben auch darum, die alchemistisch begabten Computer verantwortlich zu machen für die Fehler einer konservativen Politik der Marktradikalität und der traditionellen Werte – kurz, der »geistig moralischen Wende«, die Helmut Kohl ohne Spieltheoretiker 1982 herbeiführte, so wie es Reagan und Thatcher in ihren Ländern taten. Schirrmacher will die Maschinen stürmen, weil er seine Ideologie nicht in Frage stellen will. Daher ist sein Buch so vernagelt.

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. Blessing-Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro