Die Probleme der ägyptischen Wirtschaft

Brüder vor dem Bankrott

Die islamistische Regierung Ägyptens verhandelt mit dem Internationalen Währungsfonds und arabischen Staaten über Kredite. Akuter Geldmangel ist jedoch nur das offensichtlichste Problem der Wirtschaft des Landes.

Zu den zahlreichen Vorwürfen gegen die islamistische Regierung Ägyptens gehört der, es mangele ihr an Professionalität. Etwas aber haben die Minister von ihren erfahreneren Kollegen im Westen gelernt: Wenn die Wirtschaftslage schlecht ist, präsentiere man eine angeblich auf wissenschaftlicher Grundlage erstellte Prognose, der zufolge es bald besser läuft.
Um 3,8 Prozent werde die ägyptische Wirtschaft im Haushaltsjahr 2013/14 wachsen, behauptete Planungsminister Ashraf al-Araby am Dienstag vergangener Woche. Das wäre nicht gerade ein gewaltiger Boom, wohl aber eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu den derzeit zwei Prozent, die nur knapp über dem Bevölkerungswachstum liegen. Worauf Arabys Optimismus beruht, erläuterte er jedoch nicht. Dem Land droht ein Staatsbankrott, die Kapitalflucht hält an, ernst zu nehmenende wirtschaftspolitische Ideen hat die Regierung nicht und Gian Pietro Bordignon, Direktor des World Food Programme der Uno, warnte bereits vor einer »sehr riskanten Situation«, da immer mehr Ägypterinnen und Ägyptern das Geld fehle, um eine ausreichende Menge an Nahrungsmitteln kaufen zu können.
Der Regierung könnte schon in wenigen Monaten das Geld fehlen, um Nahrungsmittel zu importieren, denn die Devisenreserven sind auf etwa 13 Milliarden Dollar geschrumpft. Ein Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar steht in Aussicht, doch obwohl beide Seiten unermüdlich verkünden, eine Einigung stehe bevor, schleppen sich die Verhandlungen seit Monaten dahin. Temporäre Erleichterung könnten die Kredite arabischer Staaten verschaffen, die Golfmonarchie Katar hat drei Milliarden, die libysche Regierung zwei Milliarden Dollar versprochen.
Wie bereits Hosni Mubarak kann auch Präsident Mohammed Mursi von der geopolitischen Bedeutung Ägypten profitieren. Mubarak hatte zuweilen recht offen erklärt, dass die Stabilität Ägyptens und damit des Nahen Ostens nicht umsonst zu haben sei. Die Streichung von Subventionen für Güter des Grundbedarfs, die anderen afrikanischen Staaten abverlangt wurde, blieb ihm weitgehend erspart. Nun aber drängt der IWF auf entsprechende Reformen, und dies zu einem für die Muslimbrüder sehr ungünstigen Zeitpunkt. Denn noch in diesem Jahr sollen Parlamentswahlen stattfinden. Was Mursis »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« (FJP), die wegen ihrer rücksichtslosen Machtpolitik und zahlreicher repressiver Maßnahmen ohnehin erheblich an Popularität verloren hat, am wenigsten gebrauchen kann, sind steigende Brotpreise.
Bei den Subventionskürzungen will man offenbar Vorsicht walten lassen. Zunächst sollen die Unternehmen schrittweise mehr für ihren Treibstoff bezahlen, kündigte Industrieminister Hatem Saleh Ende April an. Es ist unwahrscheinlich, dass der IWF sich damit zufrieden gibt. Statt hohe Einkommen und Kapitalgewinne stärker zu besteuern, wie die FJP zunächst angekündigt hatte, sollen offenbar nun doch die Verbrauchssteuern erhöht werden. Ob die Pläne unter dem Druck des IWF oder der islamistischen Bourgeoisie geändert wurden, ist unklar.
Da die westlichen Regierungen an der Stabilität Ägyptens interessiert sind, kann Mursi hoffen, dass EU und USA den Austeritätsfuror des IWF ein wenig mildern. Auch mit einer Anerkennung der »islamischen Wirtschaft« (Jungle World 15/13) als zeitgemäßer Form der Elendsverwaltung wird im Westen geliebäugelt. Doch eine Grundsatzentscheidung für den sogenannten Freihandel und die Sparpolitik wird man Mursi wohl abverlangen.
Weniger Bedingungen stellt Katar. Die Golfmonarchie ist vor allem an einer Konfessionalisierung der arabischen Politik interessiert und will Mursis islamistische Regierung stützen, verlangt aber fünf Prozent Zinsen. Halal ist das eigentlich nicht, doch für einen kommerziellen Kredit müsste Ägypten wohl den doppelten Zinssatz zahlen. Libyen ist nach Angaben der Zentralbank des Landes kulanter und verlangt keinen Zins. Ideologische Motive sind hier nicht erkennbar. Da der Aufbau von Regierung und Verwaltung noch nicht sehr weit vorangeschritten ist, gibt es wohl schlicht nicht genug Investitionsmöglichkeiten in Libyen, so dass es sinnvoll erscheint, in die Stabilität des Nachbarlandes zu investieren und sich dort Einfluss zu verschaffen.

Doch das Geld wird nicht lange reichen. Wael Zeyada, Ökonom der Bank EFG Hermes, schätzt den Kreditbedarf Ägyptens auf 20 Milliarden Dollar, und dabei geht es um kaum mehr als die Deckung der laufenden Importausgaben. Langfristig erforderlich ist jedoch ein ökonomisches Modell, das unter anderem mehr als 500 000 Arbeitsplätze pro Jahr schaffen müsste, allein um den gegenwärtigen Beschäftigungsstand zu halten. Die offiziell eingestandene Arbeitslosenrate beträgt 13 Prozent, das klingt angesichts der Zahlen aus Südeuropa fast harmlos. Doch der informelle Sektor, in dem schätzungsweise die Hälfte der Erwerbsbevölkerung tätig ist, wird nicht erfasst.
Zweifellos hat die islamistische Politik die Wirtschaftskrise verschärft. Der Versuch, die Macht zu monopolisieren, hat nicht nur die säkulare Opposition auf die Straße getrieben und zu Auseinandersetzungen geführt, die dem Tourismus, einer der Haupteinnahmequellen des Landes, nicht zuträglich sind. Auch in der Bürokratie herrscht Unruhe, derzeit eskaliert der Konflikt der Regierung mit der Justiz. Das milde ausgedrückt unklare Verhältnis der Muslimbrüder zu Recht und Gesetz erfreut die ordnungsliebende Geschäftswelt nicht.
Die Forderung der Islamisten, dass ihre innenpolitischen Gegner, die von jeder Teilhabe an der Macht ausgeschlossen sind, nun die unpopulären Sparmaßnahmen mittragen sollen, ist ebenso dreist wie realitätsfern. Die säkulare Opposition kann allerdings froh sein, dass sie einen guten Grund hat, jegliche Kooperation zu verweigern. Denn eine wirtschaftspolitische Alternative kann sie nicht bieten. Nur in der Sozialpolitik gibt es Einigkeit zwischen der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung und den meisten Gruppen der säkularen Linken. Gefordert werden vor allem eine Erhöhung des Mindestlohns, soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit sowie eine grundlegende Reform des Bildungssystems.
Trotz der harten Repression gibt es weiterhin zahlreiche Streiks. Da sich unter Mubarak in den verbliebenen Staatsbetrieben bürokratischer Stumpfsinn mit kapitalistischer Rücksichtslosigkeit vereinte, wird die Nationalisierung auch von Linken mit großer Skepsis betrachtet. Ideen der Vergesellschaftung und der Selbstverwaltung werden diskutiert, doch gibt es bislang kaum Anzeichen für eine sozialrevolutionäre Radikalisierung. Überdies müsste ein sozialistisches Ägypten mit internationaler Isolierung und einem Wirtschaftskrieg rechnen.

Die Wirtschaftspolitik wird daher im kapitalistischen Rahmen bleiben, und der Umsturz erfolgte ökonomisch betrachtet zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Auch nach Wiederherstellung der Rechtssicherheit würde Ägypten nicht gerade mit ausländischen Investitionen überschüttet. Die Landwirtschaft lässt sich kaum noch intensivieren. Nur in drei Ländern der Welt ist der Getreideertrag pro Hektar höher als in Ägypten. Neuland durch das Anzapfen unterirdischer Wasserreservoirs zu erschließen, erfordert viel Kapital und ist zudem ökologisch bedenklich, da der Grundwasserspiegel sinken könnte.
Mit dem Suez-Kanal verfügt Ägypten immerhin über eine zuverlässige Einkommensquelle, und wenn sich die Lage beruhigt, dürfte auch der Tourismus schnell wieder das übliche Niveau erreichen. Das für eine Entwicklungspolitik notwendige Kapital muss aber wohl anderswo aufgetrieben werden, durch eine Abschöpfung des Vermögens der einheimischen Bourgeoisie und die Akquise von Krediten, deren Vergabe nicht mit wirtschaftsliberalen oder ideologischen Bedingungen verknüpft ist. Erforderlich sind zudem staatliche Investitionslenkung und Wirtschaftsplanung, derer sich ja auch die asiatischen »Tigerstaaten« bedienten, um ihre Produktivität zu steigern, bevor sie sich auf den »Freihandel« einließen.
Obwohl dies kein antikapitalistisches Programm ist, sind innen- und außenpolitische Konflikte absehbar. Ägyptisches Vermögen abzuschöpfen, setzt Kapitalverkehrskontrollen voraus, die als Verstoß gegen wirtschaftliberale Dogmen gelten. Die wohl bedeutendste Oligarchengruppe ist überdies zu gut bewaffnet, um ohne weiteres enteignet werden zu können. Das Offizierskorps kontrolliert ein gewaltiges Imperium von Industriebetrieben und Dienstleistungsunternehmen, über dessen Umfang nur vage Schätzungen existieren. Obwohl der Verkauf von Nudeln und Kühlschränken schwerlich als Beitrag zur Landesverteidigung gelten kann, ist die Wirtschaftsmacht der Generäle ein Tabuthema, auch für den IWF und die westlichen Regierungen, die das Militär als Garanten der Stabilität sehen.
Ohne eine Entmachtung der islamistischen und der militärischen Oligarchie wird Ägypten sich bestenfalls von Notkredit zu Notkredit hangeln können. Gleichzeitigkeit und Dynamik der arabischen Revolten eröffnen aber eine Chance. Auch in Tunesien verlieren die Islamisten an Popularität, in Libyen haben sie die Wahlen ohnehin verloren. Ein säkular regierter Dreistaatenbund könnte auf der monetären Basis libyscher Petrodollars einen Binnenmarkt und eine Währungsunion bilden. Der Aufbau eines Sozialstaates gilt heutzutage im Westen schon fast als linksradikale Idee, wurde in der Vergangenheit aber auch von konservativen Regierungen betrieben. Eine explizit linke Politik ist für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse nicht erforderlich, wohl aber eine Abkehr von der Kasernenhofmentalität, mit der Muammar al-Gaddafi, Gamal Abd al-Nasser und andere arabische Nationalisten in der Vergangenheit staatliche Entwicklungspolitik dekretierten.

Die traditionelle arabische Linke war fast ausnahmslos extrem nationalistisch und staatshörig. Nun entsteht erstmals eine linke Basisbewegung, die vor allem gegen die starren gesellschaftlichen Hierarchien kämpft. Gewerkschaften und säkulare Gruppen bilden eine Gegenmacht, die stark genug ist, um die Islamisten zu bremsen. Diese sich als regierende Macht blamieren zu lassen, ist auf Dauer jedoch kein ausreichendes Konzept. Linke sind nicht verpflichtet, Pläne für die kapitalistische Elendsverwaltung zu entwickeln. Es ist legitim und wohl auch politisch sinnvoll, sich auf soziale Forderungen zu beschränken. Einfluss auf die Entwicklungspolitik kann auch eine außerparlamentarische Gegenmacht nehmen. Die Wirtschaftspolitik gänzlich den Herrschenden zu überlassen, kann sich jedoch als fatal erweisen, denn ein ökonomischer Zusammenbruch könnte zu einer Hungersnot und zur Rückkehr der direkten Militärherrschaft führen.