Italien hat eine Regierung und keine linke Partei mehr

Radikal verlieren

In Italien setzt die neue Regierung die Politik der alten fort. Derweil nehmen Selbstmorde und Resignation in der Krise zu.

Statt wie üblich den Schutzpatron aller von Prekarisierung Betroffenen durch die Straßen zu tragen, demonstrierte auf der diesjährigen Turiner May-Day-Parade eine Gruppe von Autonomen ihre Solidarität mit jenen, denen San Precario nicht mehr beistehen kann. »Der 1. Mai ist für euch. Die Krise tötet!« stand auf dem Plakat, das neben den Schattenrissen der in den vergangenen Monaten gezählten Suizidfälle auch ein Porträt des römischen Attentäters Luigi Preiti zeigte.
Der 49jährige arbeitslose Maurer aus Kalabrien hatte am letzten Aprilsonntag vor dem Regierungssitz in Rom mehrere Schüsse abgegeben. Dabei wurde ein Carabiniere des Wachpersonals lebensgefährlich am Hals getroffen, ein weiterer Polizist und eine Passantin erlitten leichte Verletzungen. Zu der mutmaßlich geplanten Selbsttötung kam es nicht, weil Preiti alle seine Patronen verschossen hatte und von den Sicherheitsbeamten vor Ort überwältigt wurde. Nach seiner Verhaftung gab er an, dass er mit seinem Anschlag eigentlich Politiker habe treffen wollen. Spekulationen, es habe sich um die Tat eines psychisch Kranken gehandelt, wurden von der Staatsanwaltschaft dementiert. Preitis Anwalt beschreibt seinen Mandaten als depressiv. Die Hoffnungslosigkeit seiner privaten Situation habe ihn zu der Tat getrieben, die er nun bereue. Parlamentspräsidentin Laura Boldrini forderte die Regierung zu arbeitspolitischen Sofortmaßnahmen auf, weil andernfalls die soziale Not, wie der Fall Preiti zeige, »ein Opfer zum Henker werden lasse.«

Italien befindet sich seit fünf Jahren in einer schweren Rezession. Vergangene Woche prognostizierte die europäische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE) für das laufende Jahr einen weiteren Konjunktureinbruch. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei knapp zwölf Prozent, doch die Jugendarbeitslosigkeit ist um ein Dreifaches höher. Aus dem für 2012 vorgelegten Bericht des nationalen Gesundheitsobservatoriums geht hervor, dass sich der Konsum von Antidepressiva in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht hat. Gleichzeitig ist die Suizidrate in den letzten vier Krisenjahren um 20 bis 30 Prozent angestiegen. Die Autoren des Berichts mahnen bezüglich der Gründe von Selbsttötungen zur Vorsicht, die Analyse von Abschiedsbriefen zeigt jedoch, dass seit Beginn des Jahres mindestens 25 Menschen ihren Freitod mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten begründet haben. Im Gedenken an einen entsprechenden Vorfall, der landesweit bekannt geworden ist, fand die offizielle 1. Mai-Kundgebung der drei großen italienischen Gewerkschaftsverbände in Perugia statt. Dort hatte im März ein bankrotter Kleinunternehmer in einer Regionalbehörde zuerst zwei Angestellte und anschließend sich selbst getötet.
Der Anstieg von Gewaltdelikten mit anschließender Selbsttötung belegt, dass das Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen als individuelles Versagen interpretiert wird und soziale Konflikte immer weniger von kollektiven Interessenvertretungen ausgetragen werden. Der Tatsache, dass Preiti seine Tat ausgerechnet am Tag der Vereidigung der neuen Regierung verübte, kommt deshalb eine besondere symbolische Bedeutung zu. Zwar wurde sein Anschlag allgemein verurteilt, gleichzeitig aber auch als Geste eines »radikalen Verlierers« und Symptom einer dramatischen gesellschaftspolitischen Ausweglosigkeit interpretiert.
Entgegen dem bei den Parlamentswahlen im Februar von der Wählerschaft mehrheitlich zum Ausdruck gebrachten Wunsch nach einem politischen Wechsel steht die neue Regierung für die Fortsetzung der seit November 2011 eingeleiteten Notstandspolitik. Die »Erneuerungen« in der Zusammensetzung des Kabinetts, das erstmals zu einem Drittel mit Frauen besetzt wurde, eine davon mit afrikanischem Migrationshintergrund, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um die Konsolidierung einer konservativ-marktliberalen Politik handelt. Symbol der Verjüngung des altbewährten Regierungsmodells ist der Ministerpräsident. Enrico Letta begann seine politische Karriere bei den jungen Christdemokraten, setzte sie bei den Liberaldemokraten im EU-Parlament fort und profilierte sich schließlich erfolgreich als Rechtsaußen des Partito Democratico (PD). Durch das Bündnis mit den Mitte-Rechts-Parteien sind die letzten im PD verbliebenen sozialdemokratischen Ambitionen zurückgedrängt. Lettas große Koalition steht einerseits für die persönliche Rehabilitation und politische Wiederauferstehung Silvio Berlusconis. Er hat die Umsetzung seiner populistischen Wahlversprechen wie die Abschaffung der Immobiliensteuer in das gemeinsame Regierungsprogramm diktiert und darf sich sicher sein, dass die Regierungsvertreter seiner Partei »Volk der Freiheit« (PdL) auch dafür Sorge tragen, dass seine juristischen Schwierigkeiten zu seinen Gunsten geregelt werden. Dass er andernfalls mit Koalitionsbruch drohen oder die Regierung umgehend platzen lassen wird, hat er bereits vergangene Woche deutlich gemacht. Andererseits fungiert Lettas Regierung, nachdem sich Staatspräsident Giorgio Napolitano nur unter der Bedingung einer direkten Einflussnahme auf die Regierungsbildung zu einer zweiten Amtszeit bereit erklärt hatte, als »Präsidialkabinett«. Der autoritäre Übergriff des Staatsoberhaupts leitet eine neue Phase im schleichenden Prozess der Umwandlung der repräsentativen Demokratie in ein Präsidialsystem ein. In seiner Regierungserklärung kündigte Letta die Einrichtung einer außerparlamentarischen Kommission zur Ausarbeitung institutioneller »Reformvorschläge« an. Alle zivilrechtlichen Gesetzesvorhaben, die das linksliberale Profil der Verfassung gestärkt hätten, sind dagegen aus dem Programm der Regierung verschwunden.

Im Zuge des auf Dauer gestellten Ausnahmezustands wird jede demokratische Auseinandersetzung außer Kraft gesetzt. In seiner Antrittsrede hatte Napolitano bereits in der Kontroverse um seine Wiederwahl eine »aufrührerische Umsturzgefahr« ausgemacht. Nach dem Attentat von Preiti wurden alle Kritiker des Konzepts der nationalen Einheitsregierung pauschal als geistige Unruhestifter gebrandmarkt. Aufgrund seiner Hassreden gegen die politische »Kaste« wurde vor allem Beppe Grillo eine Mitverantwortung für die Tat unterstellt, erst recht nachdem sich auf seiner Internetseite Blogeinträge häuften, in denen Aktivisten des Movimento 5 Stelle (M5S) Verständnis für Preiti äußerten. Vittorio Bertola, ein M5S-Stadtrat aus Turin, sorgte für einen zusätzlichen Eklat, als er behauptete, dass sicher einige Millionen Italiener bedauern würden, dass Preiti nicht wenigsten einen Minister getroffen hatte.
Noch vor dem Attentat in Rom verfassten die Centri Sociali aus dem italienischen Nordosten, den Marken und der Emilia Romagna ein gemeinsames Dokument, in dem sie in Anbetracht der aktuellen Situation »zwischen Tragödie und Farce« das Recht auf Rebellion bekräftigen. Die vergangenen Wochen hätten einmal mehr gezeigt, dass politische und gesellschaftliche Veränderungen nicht über Wahlen zu erreichen seien. Es komme darauf an, den sozialen Konflikt mit aller Härte und Radikalität auf die Straße zu tragen. Allerdings warnen sie davor, dem Staatsapparat einen Vorwand zur Repression widerständiger Gruppen zu liefern: »Die Auseinandersetzung muss konstitutiver Natur sein.« In Bezug auf die Umsetzung dieser »konstitutiven Praxis« bleibt das »Strategiepapier« vage. An die Erfahrung der bene-comune-Bewegung anknüpfend, sollen Themen von breitem öffentlichen Interesse im Vordergrund stehen. Insbesondere bei der Forderung nach einem »Grundeinkommen« erhofft man sich die Unterstützung größerer Teile der Bevölkerung, auch jener sozial Deklassierten, die zu isolierten Verzweiflungstaten neigen. Erstmals werden aber auch die Gefahren der Instrumentalisierung und Entpolitisierung der populären Themen durch den M5S kritisch betrachtet. Grillos »Marsch auf Rom« und seine Mobilisierung des Ressentiments bewirkten bisher nichts für die gemeinsame Sache und konnten die autokratische Wende in Rom nicht verhindern. Im Gegenteil: An der Propaganda gegen die etablierten Parteien sind letztlich nur die Demokraten zerbrochen.

Wie es mit dem PD weitergeht, soll auf einem Parteikongress im Oktober, vielleicht auch schon im Sommer entschieden werden. Vorerst hat der liberale Parteiflügel die Macht an sich gerissen und noch lässt sich nicht absehen, ob es zu einer sozialdemokratischen Abspaltung kommen wird. Die Diskussion um die Konstitution einer nunmehr seit Jahrzehnten angestrebten neuen, einheitlichen und pluralistischen Linken hat dagegen schon wieder begonnen. Neu sind jedoch weder die Themen noch die Führungspersonen. Um den Vorsitzenden der linken Metallgewerkschaft Fiom, Maurizio Landini, sammeln sich die geschlagenen Linken: Nichi Vendola, dessen Linkspartei SEL im Parlament gegen die große Koalition eine kleine Oppositionsfraktion stellt; Stefano Rodotà, der verhinderte Präsidentschaftskandidat des M5S, der sich jetzt wieder auf seine Rolle als Anwalt der bene-comune-Bewegung konzentriert; dazu einige Linksdemokraten, allesamt bereits gescheiterte Hoffnungsträger wie der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende der CGIL, Sergio Cofferati. Aufbruchstimmung erzeugen die alten Herren nicht. Die von Landini für den 18. Mai geplante Demonstration in Rom wird dennoch als Anfang verstanden. Auch die Centri Sociali werden wohl teilnehmen. Ihr Dokument schließt mit der bescheiden-resignierten Aufforderung, alle Oppositionsbewegungen aufmerksam und ohne Überheblichkeit zu beobachten: »Schauen wir mal, wie’s weitergeht.«