Eine Schlägerei am Mount Everest

Streiks am Gipfel

Die handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Alpinisten und Trägern
Ende April am Mount Everest ist Ausdruck ökonomischer Konflikte und
westlicher Arroganz.

Rund um den Mount Everest, im Solokhumbu-Gebiet von Nepal, bereitet man sich gegenwärtig auf den 60. Jahrestag der Erstbesteigung durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay vor. Am 29. Mai 1953 standen der Neuseeländer und der Nepali mit indischer Staatsbürgerschaft erstmals auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Welt.
Ende April störten jedoch Berichte über eine Schlägerei auf 7 200 Meter Höhe die Vorbereitungen. Noch unterhalb der Todeszone, aber doch schon in sehr dünner Luft, waren drei europäische Extrembergsteiger, der Schweizer Ueli Steck, der Italiener Simone Moro und der englische Bergfotograf Jonathan Griffith, mit zunächst 17, später etwa 100 Sherpas aneinandergeraten, von denen man weder Namen noch sonstige Details erfuhr. Eine Gruppe von vier Sherpas, wie die als Lastträger bei Expeditionen im Himalaja arbeitenden Tibetaner genannt werden, hatte zwischen Camp 2 und Camp 3 Fixseile angebracht, entlang derer kommerzielle Seilschaften im Mai ihre Kunden auf den Gipfel des Everest führen. Im Everest-Basecamp halten sich derzeit bereits mehrere Hundert Bergsteiger auf, die zwischen 60 000 und 70 000 Euro zahlen.
Steck, Moro und Griffith wurden von den Sherpas aufgefordert zu warten, bis die Seile verlegt sind. Doch sie ignorierten die Bitte. Anish Gupta von der Firma Cho-Oyu-Trekking, die die Tour für die drei Europäer organisiert hatte, sagte AFP: »Man hat uns gesagt, dass unsere Kunden nicht mit den Anweisungen der Sherpa-Bergführer einverstanden waren.« Die drei Männer seien einfach über eisiges Terrain weitergegangen. Ob sich dabei eine Eisschicht gelöst hat und herabfallende Eisstücke einen der Sherpa-Arbeiter getroffen haben, ist strittig.
Nach Angaben von Ueli Steck stiegen die Sherpas ab, während die Europäer weiter die Fixseile verlegten. Steck, Moro und Griffith hatten sich zur Akklimatisation auf dieser Höhe aufgehalten, ursprünglich lautete ihr Plan, zum Jahrestag der Everest-Erstbesteigung eine neue Route zu begehen. Nach einer Weile stiegen auch die drei ins Camp 2 hinab.
Was danach passierte, liest sich in der Bild-Zeitung so: »Mob wollte drei Bergsteiger töten«. Ueli Steck berichtet: »Die Sherpas umzingelten das Zelt und sagten, ich sollte herausgeholt werden. Sie wollten mich als Ersten umbringen.« Angeblich wurde Simone Moro von 100 plötzlich dort aufgetauchten Sherpas mit einem Messer und mit Steinen angegriffen und musste auf Knien um Vergebung bitten.
Melissa Arnot, eine amerikanische Bergsteigerin, die schon viermal auf dem Everest war, hielt sich gerade in Camp 2 auf und stellte sich zwischen die Streitenden. Die Schuldfrage wollte sie nicht so eindeutig beantworten wie der deutsche Boulevard. Dem Fernsehsender ABC sagte sie: »Ich denke, die ausländischen Bergsteiger haben Fehler gemacht, die Sherpas haben mit ihrer Kommunikation Fehler gemacht.«
Wenige Tage später wurde unter Mithilfe der nepalesischen Regierung die Versöhnung organisiert. Alle Beteiligten baten um Entschuldigung. Steck und Moro gaben ihr Vorhaben auf, eine spektakuläre neue Route zum Gipfel zu erkunden, und flogen nach Europa zurück.
Derweil beginnt die Suche nach Erklärungen für den »höchsten Kampf der Geschichte«, so die Tageszeitung Nepali Times. Ueli Steck sagte dem Onlinedienst outsideonline.com, der Everest habe sich zum großen Geschäft entwickelt und die Sherpas versuchten, daraus Vorteile zu ziehen: »Die sehen das und wollen das ganze Geschäft übernehmen und die Westler rauskicken.« In der NZZ fügte er noch hinzu, die Sherpas seien, anders als man im Westen glaube, kein friedliches Bergvolk. Als weiteres Motiv fügte er Neid an. »Ich glaube, der Leiter der Sherpa-Gruppe hatte Angst, sein Gesicht zu verlieren. Sie hatten ja seit vier oder fünf Stunden die Fixseile angebracht, und dann klettern wir hoch, an ihnen vorbei, ohne ihre Seile zu benutzen, und das in anderthalb Stunden.«
Überhaupt reklamiert Steck für sich und andere westliche Extremalpinisten eine Art Vorfahrt – wie ein Porschefahrer, der sich an einer Autobahnbaustelle doch nicht von einem einfachen Arbeiter zum Langsamfahren zwingen lässt. »Wir zahlen eine Menge Geld«, so der Bergsteiger weiter, »um hier zu sein. Warum sollten wir nicht klettern dürfen? Die Leute sprechen jetzt von einem ungeschriebenen Gesetz, wonach man auf die Sherpas warten müsse, die über dir sind. Was aber, wenn du gar nicht ihre Seile benützen willst, und wenn da noch gutes Wetter ist?«
Was Steck und Moro verkörpern, ist eine andere, neue Art des Bergsteigens, der sogenannte Alpinstil. Anders als frühere Everest-Expeditionen, etwa die von Hillary und Tenzing, und auch anders als heutige kommerzielle Expeditionen, die zum Teil ihren Kunden sogar eine Gipfelgarantie geben, setzt der Alpinstil auf ein kleines Equipment, das vom Kletterer selbst getragen wird, und auf den schnellen Aufstieg ohne große Logistik.
Doch ohne die seit Jahrzehnten aufgebaute Everest-Logistik kämen auch die ihre Autonomie betonenden Alpinstil-Bergsteiger nicht auf den Gipfel: Das fängt mit der Anreise über den Flughafen Lukla auf 2 900 Meter Höhe an, der ohne Flugzeug nur nach einem Mehrtagesmarsch zu erreichen wäre. Das sind des Weiteren die Dienste der Träger, die gar nicht alle aus dem Volk der Sherpas kommen, auch wenn sich hierzulande der Begriff »Sherpa« als Synonym für »Träger« eingebürgert hat. Die Träger bringen auch das Gepäck der Alpinstil-Bergsteiger zum Basecamp auf 5 300 Meter Höhe. Und das sind die jedes Jahr neu über Spalten verlegte Leitern im Khumbu-Icefall, die immer wieder kontrolliert werden müssen. Ohne diese Hilfen wäre eine Annäherung an den Mount Everest auch für Spitzenalpinisten ein zu gefährliches Unterfangen.
Das Verhältnis zwischen den westlichen Bergsteigern und den Sherpas ist seit dem Beginn des Himalaya-Alpinismus von Konflikt geprägt, in gewisser Weise von einem Klassenkampf. Wie der amerikanische Autor Jonathan Neale in seinem Buch »Schneetiger« schreibt, war es eine von deutschen Bergsteigern am Nanga Parbat (8 126 Meter) 1934 ausgelöste Katastrophe, die das Selbstverständnis der Sherpas prägte: »Vor 1934 waren die Sahibs (die Herren; die Red.) die paternalistischen Anführer«, schreibt Neale über das Verhältnis zu den Reisenden aus Europa und Amerika. »Doch nach 1934 wussten die Sherpas, dass sie die Verantwortlichen am Berg waren«, denn: »Sie konnten es sich nicht mehr leisten, wie Kinder behandelt zu werden.«
Beinahe jede Expeditionsleitung musste sich seither mit Trägerstreiks auseinandersetzen, die – ähnlich wie Ende April – nicht selten mit Gewalt ausgetragen wurden. Auch die berühmt gewordene Frauenexpedition 1987 auf den Annapurna I (8 091 Meter), die sich als feministisches und ökologisches Projekt verstand – auf dem Gipfel wurden neben der nepalesischen und der US-Flagge auch Fahnen mit den Botschaften »Rettet die Wale« und »A woman’s place is on top« geschwenkt –, erlebte solche Arbeitskämpfe. Als die Träger mehr Geld forderten und ein Sherpa im Streit die Expeditionsleiterin Arlene Blum mit Steinen bewarf, schlug sie zurück.
Vor diesem Hintergrund wird in Nepal auch die jüngste Auseinandersetzung zwischen den drei europäischen Bergsteigern und dem angeblichen »Mob« kritisch interpretiert. Ein Ladenbesitzer aus dem Sherpa-Ort Namche-Basar sagt etwa: »Die westlichen Medien füllen ihre Spalten über diese drei Kerle, und die Sherpas haben nie eine Chance gehabt, ihre Sicht der Geschichte zu erzählen.« Die Tageszeitung Nepali Times spricht von einem »clash of cultures«. Im Bericht heißt es: »Die Sherpas riskieren ihre Leben in jeder Bergsteigersaison, indem sie eine Route durch den heimtückischen Khumbu-Icefall legen, Fixseile auf der Lhotse-Flanke legen, buchstäblich einige Bergsteiger auf den Gipfel tragen und die retten, die in der Todeszone gestrandet sind. Und sie haben sich über die anmaßende Haltung einiger Bergsteiger geärgert, die so von ihrem Ehrgeiz besessen sind, dass sie weder den Berg noch andere am Berg respektieren.«