Die Debatte um die angebliche »Armutszuwanderung«

Ressentiments auf Wanderung

Es gibt keine »Armutszuwanderung« aus Osteuropa. Die Protagonisten der Debatte stört das nicht, schließlich herrscht Wahlkampf.

Reenactment wird die möglichst authentische Neuinszenierung konkreter historischer Ereignisse genannt. Ziel ist es, Geschichte erlebbar und somit verständlich sowie die Gedanken und Intentionen der historischen Akteure nachvollziehbar zu machen. Anhänger des Reenactment dürften dieses Jahr voll auf ihre Kosten kommen. Nicht nur die sogenannte Völkerschlacht bei Leipzig wird anlässlich ihres 200. Jahrestags mit Tausenden Statisten nachgespielt, auch in der Politik scheint das Reenactment zurzeit populär zu sein.
Als Bezugspunkt dienen die Ereignisse rund um den 26. Mai 1993, den Tag, an dem das Asylrecht faktisch abgeschafft wurde. Zuvor hatte der damalige bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) geklagt: »Was wir nicht brauchen können, das sind die Wirtschaftsschmarotzer aus der ganzen Welt.« Der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU) pflichtete ihm bei und gab der Hoffnung Ausdruck: »Vielleicht gibt es ja doch noch einige Deutsche, die ihren Wohlstand nicht mit einer Milliarde Inder teilen möchten.«

Im Jahr 2013 teilen viele Deutsche ihren Wohlstand immer noch ungern. Im Gegensatz zur Nachstellung historischer Schlachten handelt es sich bei der anhaltenden Debatte um »Armutszuwanderung« aber nicht um Klamauk. Anlass der Diskussion ist unter anderem der Wegfall der Beschränkungen für den Zugang auf den deutschen Arbeitsmarkt, für EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien. In einem Positionspapier forderte der Deutsche Städtetag in diesem Zusammenhang mehr Unterstützung für die Kommunen bei der Bewältigung von »Armutszuwanderung« aus Rumänien und Bulgarien. Es sei zu befürchten, dass die Migranten dazu verleitet würden, »sich illegal Einkommen zu verschaffen, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten oder der Prostitution sowie der Bettelei nachzugehen«. Im Jahr der Bundestagswahl kommt das Thema für Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) offensichtlich sehr gelegen. In einem ZDF-Interview beklagte er »eine bestimmte Zahl, die nur hierher kommt, um Sozialleistungen zu bekommen«, und somit für deutsche Steuerzahler »beträchtliche zusätzliche Kosten« verursache. Er bediente sich des bewährten Vokabulars von »Leistungsmissbrauch« und »erschlichenen Sozialleistungen« und präsentierte sein Patentrezept: Zuwanderer sollten stärker überwacht, wenn nötig ausgewiesen und mit einer Wiedereinreisesperre belegt werden, sonst drohe ein »Flächenbrand«, der »wie ein Sprengsatz für die europäische Solidarität« wirke.
Der Bayernkurier, das Parteiorgan der CSU, übertraf den Minister noch in der Wahl der rhetorischen Mittel. Eine »massenhafte Einwanderung von Roma aus Südosteuropa in die deutschen Sozialsysteme« sei zu befürchten, es drohe ein »grenzenloses Schmarotzertum«. Der Bremer SPD-Politiker Martin Korol behauptete, Roma lebten in einer »archaischen Welt«, in der viele Kinder gezeugt würden, sich aber niemand für die Gesellschaft verantwortlich zeige. Er fügte hinzu: »Viele junge Roma-Männer schnüffeln sich mit Klebstoffdämpfen das Gehirn weg.« Diese Äußerungen auf Korols Homepage unterschritten für seine Parteikollegen in der Bremer Bürgerschaft das »Mindestmaß an prinzipieller politischer Übereinstimmung«, er wurde aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen.

Die Schlagzeilen einiger Tageszeitungen hatten einen ähnlichen Tenor. »Droht Deutschland eine Roma-Welle?« fragte etwa Bild. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung warnte vor der »Armutseinwanderung«, diese sei eine »Gefahr für den sozialen Frieden«. Gern wurde in den zugehörigen Artikeln aus Kriminalitätsberichten zitiert, nach denen im Vergleich zu anderen »nichtdeutschen Tatverdächtigen« unter Bulgaren und Rumänen in den vergangenen Jahren eine erhöhte Kriminalitätsrate festzustellen sei.
Auch die üblichen Zahlenspiele wurden gedruckt. Die Rheinische Post prognostizierte beispielsweise für 2014: »180 000 Rumänen und Bulgaren kommen.« So seien allein im Jahr 2011 nach Angaben des Statistischen Bundesamt 147 000 Rumänen und Bulgaren eingewandert. Die Zahl habe sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Die Kölnische Rundschau stellte in der vergangenen Woche unter der Schlagzeile »Zuwanderung so hoch wie zuletzt 1995« ähnliche Rechenspiele an. »Mehr als eine Million Menschen verlegten 2012 ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik«, eröffnete die Zeitung den Bericht. »An zweiter Stelle der Herkunftsländer stand Rumänien (116 000), an dritter Bulgarien (59 000)«, wurde ausgeführt. Am Ende des Artikels erwähnte die Zeitung aber kurz ein nicht unerhebliches Detail: »So kehrten im vergangenen Jahr auch rund 712 000 Menschen Deutschland den Rücken.« Die Zahl der zurückkehrenden Rumänen und Bulgaren war jedoch nicht zu finden, ein Rückschluss auf die Größenordnung der Zuwanderung ist also anhand des Artikels gar nicht möglich. Wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Mai mitteilte, gibt es aber mehrere Untersuchungen, in denen eine solche Rechnung angestellt wird. So wies das Netzwerk Migration darauf hin, dass 2011 zwar tatsächlich 147 000 Personen aus Bulgarien und Rumänien eingewandert seien, aber nach Abzug der Abwanderer gerade einmal 58 000 geblieben seien, wie aus den Angaben des Statistischen Bundesamts hervorgehe.
Zudem erwähnte das Berlin-Institut eine Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), das der Berichterstattung über die »Ar­mutseinwanderung« den Titel »Unstatistik des Monats« verliehen hatte. Der sogenannte Zuwanderungssaldo 2011 liege wegen derjenigen, die zurück nach Bulgarien und Rumänien gegangen waren, bei 58 350 Personen. Dies entsprach einem Anteil von 0,086 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Das RWI verwies außerdem darauf, dass 80 Prozent der Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007 aus den beiden Ländern nach Deutschland gekommen waren, erwerbstätig seien. Fast die Hälfte sei beruflich qualifiziert, jeder Fünfte hochqualifiziert. Ein anderes Ergebnis wäre auch verwunderlich, schließlich dürfen bislang nur Rumänen und Bulgaren in die Bundesrepublik einwandern, die einen Hochschulabschluss und eine qualifizierte Beschäftigung in Deutschland vorweisen können oder als Saisonarbeiter unter prekären Bedingungen Spargel stechen, Erdbeeren pflücken oder als Schausteller arbeiten.

In der Debatte spielt dies freilich keine größere Rolle. Stattdessen machen antiziganistische Stereotype der Delinquenz und des Nomadisierens die Runde. Das ist nicht verwunderlich: Nach einer Umfrage von Emnid schlägt Sinti und Roma von allen abgefragten gesellschaftlichen Gruppen die stärkste Ablehnung entgegen. Mehr als die Hälfte der Deutschen hat demnach antiziganistische Ressentiments.
Von diesen versucht nicht nur Innenminister Friedrich im beginnenden Wahlkampf zu profitieren. Die NPD verteilt derzeit Flugblätter mit der Parole: »Zigeunerflut stoppen! Kriminalität bekämpfen!« Und vielleicht wollte der Kölner Erzbischof Joachim Meisner im April ja auch nur einige Menschen in seine Kirche locken, als er sagte, Roma seien »in unsere Zivilisation nicht zu integrieren«.