Die sozioökonomischen Ursachen der Krawalle in Schweden

Die Einbauküche ist nicht alles

Die Ursachen der Krawalle in Schweden liegen in der sozial-räumlichen Segregation. Schwedische Rechtsextreme nutzen die Konflikte zur Hetze gegen Migranten.

Brennende Autos, Jugendliche, die Steine auf Polizisten werfen, ein Ministerpräsident, der von »wütenden jungen Männer« redet, »die an Gewalt glauben«  – diese Bilder wirken bekannt. Es könnte um Clichy-sous-Bois 2005 oder Tottenham 2011 gehen, aber diesmal ist es Husby, ein Vorort von Stockholm mit 11 193 Einwohnern, 80 Prozent von ihnen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Hier fingen die Unruhen an, zahlreiche Autos wurden in Husby angezündet, in der Nacht zum 20. Mai, nachdem Schweden Gold bei der Eishockey-WM gewonnen hatte.
Mit Erstaunen ist konstatiert worden, dass in Schweden große soziale Segregation herrscht. In keinem anderen OECD-Land ist die Ungleichheit in den vergangenen 30 Jahren derart gestiegen, wenngleich der Lebensstandard insgesamt vergleichsweise hoch ist. Vororte sind am schlimmsten von der Segregation betroffen. In Stadtteilen wie Husby und Rinkeby (Stockholm), Rosengården (Malmö) und Bergsjön (Göteborg) ist die Arbeitslosenquote sehr hoch, viele Jugendliche sind auch nicht in einem Ausbildungsverhältnis.
Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt von der liberal-konservativen Moderaten Sammlungspartei hatte während der tagelangen Riots klargemacht, dass er nicht plant, die Vororte zu besuchen. Er schickte seinen Integrationsminister Erik Ullenhag von der Liberalen Volkspartei, als ob es bei den Problemen allein um Integration gehe. Dieser redete in einer Oberschule in der Nähe von Husby über die Wichtigkeit von Arbeit und Ausbildung, gleichzeitig wollte er »klarmachen, wie unser Rechtsstaat funktioniert«.

Seit dem Beginn der Riots gab es in den Medien einen breiten Konsens, dass ihnen sozioökonomische Ursachen zugrunde liegen. Armut, Stigmatisierung, Segregation und Rassismus werden genannt. Bei einer Parlamentsdebatte über die Krawalle am Freitag vergangener Woche wurden aber nur die immer gleichen Floskeln über die Bedeutung von Arbeit und Ausbildung wiederholt. Einzig die schwedischen Grünen hatten einen konkreten Vorschlag: Alle Jugendlichen sollen 2014 einen Sommerjob bekommen.
Dass die Unruhen nach etwas über einer Woche aufgehört haben, ist der sogenannten Zivilgesellschaft zu verdanken. Nachbarn, Eltern sowie Mitglieder von Sportvereinen und muslimischen Gemeinden sind nachts herumgelaufen, um mit potentiellen Randalierern zu reden. Die Menschen aus Husby beklagen, dass ihre Initiativen kaum unterstützt und ihre Stimmen nicht gehört würden. Angebote öffentlicher Einrichtungen werden außerdem abgebaut, privatisiert und zentralisiert.

Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) haben die Aufstände genutzt, um gegen Migranten zu hetzen. Zu Anfang gab es auch Unterstützung für deren Politik von Olle Engström, einem Kommunalpolitiker der Moderaten Sammlungspartei, der meinte, dass die Riots Folgen einer »zu optimistischen und unkontrollierten Einwanderung« seien. Er trat aber kurz danach zurück.
Jimmy Åkesson (SD), der die Debatte am Freitag vergangener Woche anleitete, musste sich selbst Fragen zur Gewalt auf den Straßen gefallen lassen. Die SD-Abgeordneten Erik Almqvist und Kent Ekeroth hatten vergangenen Herbst den kurdisch-schwedischen Komiker Soran Ismail mit einem Eisenrohr bedroht und ihn und seine Freunde rassistisch beschimpft. Ekeroth sitzt immer noch im Parlament. Åkesson wurde auch mehrmals dazu aufgefordert, sich von den »Bürgerwehren« zu distanzieren. Inspiriert von Ak­tionen der English Defence League während der Riots in London 2011, haben sich auch in Schweden Fußballhooligans, Neonazis und Anhänger der SD über Facebook und Twitter zu »Bürgerwehren« organisiert, um Migranten zu verprügeln; innerhalb weniger Tage hatten sie 800 Unterstützer. Der antirassistischen Zeitschrift Expo zufolge sind unter ihnen viele wegen Misshandlung, Verstoß gegen das Waffengesetz und Hetze gegen Bevölkerungsgruppen Vorbestrafte. Die rechtsextremen Nationaldemokraten sprechen auf ihrer Internetseite von einer »Kriegserklärung«. Auch Kommunalpolitiker sind bei den »Bürgerwehren« dabei: Stig-Erik Werner ist Stadtrat der SD in Tidaholm, Daniel Spansk repräsentiert die rechtsextreme »Partei der Schweden« in Nykvarn. Der Boulevardzeitung Aftonbladet erzählte er, er sei mit 150 Nationalisten in Tumba unterwegs gewesen.

Wie in Frankreich und Großbritannien sollen auch die Krawalle in Husby, die sich später auf viele Stadtteile in ganz Schweden ausbreiteten, eine Reaktion auf Polizeigewalt gewesen sein. Am 13. Mai war Lenine Relvas-Martins, ein Rentner aus Portugal, der seit 1975 in Schweden wohnte, vor den Augen seiner Frau in seiner Wohnung von einer Spezialeinheit der Polizei erschossen worden. Es ist immer noch unklar, was genau passiert ist, da sich einige anfängliche Informationen der Polizei als falsch herausstellten. Die Polizisten wollen in Notwehr gehandelt haben, aber viele Menschen in Husby vermuten, dass sie unangemessen reagiert haben, zumal sie gleich mehrere Schüsse abgaben. Eine interne polizeiliche Untersuchung des Vorfalls hat bereits begonnen. Megafonen, eine Organisation, die in Husby und Umgebung soziale und politische Arbeit leistet, fordert eine unabhängige Untersuchung und eine Entschuldigung der Polizei gegenüber der Familie des Opfers. Auch am ersten Tag der Aufstände sollen Polizistinnen und Polizisten in Husby unangemessen gehandelt haben. Einem Sprecher von Megafonen zufolge hätten sie oft Schlagstöcke eingesetzt und Jugendliche als »Ratten«, »Affen« und »Faulenzer« rassistisch beschimpft.
Husby ist in den achtziger Jahren als Teil des sogenannten Millionenprogramms gebaut worden: eine Million neue Wohnungen mit modernem Standard wie Einbauküchen und gemeinsamen Waschküchen. Es sollte keine Geschäfte in den Häusern selbst geben, sondern ein Einkaufszentrum mit U-Bahn-Anbindung in die Stadt. »Die mentale Segregation ist ein direktes Resultat der räumlichen Segregation«, meint die Soziologin Irene Molinas, die zu diesem Thema forscht. Die heutigen Probleme hätten damals ihren Anfang genommen. Miet-, Eigentums- und Genossenschaftswohnungen wurden in Stockholm getrennt gebaut, so musste man keine unangenehmen Klassenunterschiede erleben. Schon in den siebziger Jahren wurden die Bewohner Husbys stigmatisiert, weil sie in hässlichen Plattenbauten wohnten. Als Flüchtlinge zuzogen, kam zur kulturellen Ausgrenzung der Rassismus. »Das ist der Grund dafür, dass man hier weniger Rücksicht nehmen muss. Beispielsweise konnte die Polizei hier Helikopter einsetzen, mit Hunden reingehen bei Durchsuchungen, physische Gewalt anwenden, die Medien belügen«,sagt Molinas. Das wäre nicht möglich in weißen, reichen Stadtteilen wie Östermalm«
Als das Frauennetzwerk Streetgäris friedlich gegen Polizeigewalt und Vandalismus in Husby protestierte, stellten die Aktivistinnen fest, dass fast die Hälfte der Anwesenden Journalisten waren. Sie fragten sich, warum die Journalisten erst Interesse zeigten, wenn Autos brennen. Doch viele Einwohnerinnen und Einwohner haben jetzt Hoffnung, dass wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit bleibt, die dort dringend notwendig ist. Es läuft bereits ein Projekt für mehrere Millionen Euro mit dem Ziel, für Husby und Umgebung bessere Wohnungen, Ausbildung und Arbeit zu besorgen. Seit Beginn des Projekts ist die Arbeitslosigkeit in Husby aber weiter gestiegen. Wo wird das Geld investiert? In einer Schule durften 13- bis 15jährige einen iPad ausleihen. Basar Gerecci, Rami Al-Khamisi und Amir Kekya von Megafonen zufolge ist das nicht, was Husby braucht. Neue demokratische Strukturen, die ein Mitspracherecht der Einwohnerinnen und Einwohner garantieren, wären ein Anfang.