Nishtha Jain im Gespräch über ihren Dokumentarfilm »Gulabi Gang«

»Das ist keine NGO«

Die indische Filmemacherin Nishtha Jain hat die Mitglieder der Gulabi Gang mit ihrer Kamera begleitet. Sie spricht
über die Revolte indischer Landfrauen, die von häuslicher und polizeilicher Gewalt besonders betroffen sind.

Im Dezember 2012 hat die Vergewaltigung einer jungen Inderin, die an den Folgen der Gewalt starb, Tausende Menschen auf die Straße getrieben und die internationalen Medien auf die Lage der Frauen in Indien aufmerksam gemacht. Der Dokumentarfilm »Gulabi Gang« der indischen Filmemacherin Nishtha Jain behandelt das Thema Gewalt gegen Frauen auf dem Land. Das Wort »Gulabi« bedeutet »Rosa«. Die Anhängerinnen der Gulabi Gang tragen leuchtend rosa Saris und verschaffen sich mit langen Bambusstöcken, wie sie üblicherweise die Polizei verwendet, den nötigen Respekt. Entstanden ist die Gruppe 2006, als die fünffache Mutter Sampat Pal Devi mit Verstärkung einiger Frauen einen gewalttätigen Polizisten verprügelte. Seitdem geht sie mit ihrer Gruppe regelmäßig gegen Männer- und Polizeigewalt vor und stellt Sicherheitskräfte zur Rede, die sich weigern, Vergewaltigungs- und Missbrauchsfälle zu untersuchen. Das Interview fand im Rahmen des Internationalen Dokumentarfilm-Festivals in München statt, auf dem »Gulabi Gang« als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.

Wie kamen Sie dazu, einen Film über die Gulabi Gang zu machen?
Eine Freundin bewog mich dazu. Ich komme selbst aus der Gegend, in der Sampat Pal Devi, die Gründerin der Gulabi Gang, lebt. Es ist eine extrem rückständige Gegend, und es ist erstaunlich, dass ausgerechnet dort eine solche Bewegung entstehen konnte und aktiv ist. Bei meiner ersten Begegnung mit Devi wurde schnell klar, dass wir vollkommen unterschiedliche Ideen von Feminismus haben. Ein offener Feminismus zur Befreiung der Frauen ist gar nicht ihr Ziel. Sie will bei den existierenden Strukturen ansetzen, anders wäre es wahrscheinlich auch gar nicht möglich.
Hat die Gulabi Gang denn tatsächlich Erfolg?
Die Gulabi Gang ist natürlich keine militärische Organisation oder irgendetwas Offizielles. Es ist ein spontaner Zusammenschluss von Frauen, die sich zusammengetan haben in einer Gegend, in der Frauen wirklich nichts zu sagen haben. Und sie haben mittlerweile eine Wirkung.
Wie funktioniert die Gulabi Gang, und was genau erreichen die Frauen?
Im Moment gibt es um die 400 000 Mitglieder, das ist sehr viel. Einige der Frauen sehen das sicher als Spaß, als lustige Beschäftigung. Es ist für sie aufregend, etwas außerhalb ihrer Familien und Häuser zu machen, sie fahren zu Protestveranstaltungen, sind mit anderen Frauen unterwegs, machen etwas nur für sich. Das ist ein enormer Erfolg, denn individuelle Tätigkeiten für Frauen gibt es nicht, es gibt nicht die Idee von »meinem« Leben. Es gibt nur ein Leben für die Familie oder für die Gemeinschaft und Kinder. Und hier haben sie plötzlich etwas für sich, wo ihre Stimme zählt, wo sie etwas bewegen können. Es gibt viele alte Frauen in der Gruppe, die zu Hause ihre Schwiegertöchter haben, die die Arbeit machen, das ist die Realität! Und dann gibt es Frauen, die sich tatsächlich ernsthaft einsetzen und politisch aktiv sind. Einige sind sogar schon Vorsteherinnen der Dorfgemeinden geworden, was eine extrem machtvolle Position ist. Manche sind militant geworden, andere sind eher unsicher. Bei der großen Zahl von Mitgliedern sind im Moment alle Richtungen vertreten.
Was sagen denn die Männer dazu?
Solange die Frauen kochen und sich um alles kümmern, sollen sie doch machen … .
Es gibt eine Szene im Film, in der eine Kandidatin der Gulabi Gang nicht zur Dorfvorsteherin gewählt wird, da sie nicht sämtliche Stimmen der Gang auf sich vereint. Natürlich fragt man sich: Warum wählen sie die denn nun nicht?
Das ist eben die Komplexität dieser Gesellschaft. Es spielen so viele Faktoren eine Rolle. Dorfvorsteher zu werden, ist eine ziemlich wichtige Sache. Man muss sehr viel Geld verwalten und kann tatsächlich sehr viel bewegen und kontrollieren. Wenn nun die eigene Familie auch einen Kandidaten in die Wahl schickt, geraten die Frauen in einen Konflikt, und da ist nun mal die Familie wichtiger. Oder die Kandidatin gehört einer anderen Kaste an, auch das ist ein Problem. Und einige Frauen verstehen vielleicht auch die Bedeutung von politischen Ämtern nicht, sie wissen gar nicht, wie viel dadurch tatsächlich bewegt werden kann. Sie sind alle ungebildet und treffen sich ein-, zweimal die Woche, oder fahren in unregelmäßigen Abständen zu Protestveranstaltungen. Die Gulabi Gang ist gerade mal sechs Jahre alt, das braucht alles noch Zeit, das ist keine NGO, es gibt kein Training, keine Struktur. Die Gründerin, Sampat Pal Devi, macht das alles, wie sie meint, sie hat keine Anleitung, keine Unterstützung. Es geht immer nur Schritt für Schritt, auch wenn das manchmal wenig erscheint.
Wie wird die Frauenvereinigung in den Städten wahrgenommen, gibt es irgendeine Zusammenarbeit mit feministischen Organisationen?
Nein. Der städtische Feminismus ist ein anderer. Da geht es nicht so sehr um die Familienstrukturen. Die Gulabi Gang beschränkt sich darauf, innerhalb der patriarchalen Strukturen tätig zu werden. Sie will die Frauen stärken, Zwangsheirat von Minderjährigen oder Mord an jungen Mädchen anprangern, ohne jedoch die Familienstrukturen und das Machtgefüge in Frage zu stellen. Das wäre viel zu radikal, sie hätte gar keine Chance. Sie ist schon wahnsinnig kritisiert worden für ihren Einsatz der Bambusstöcke. Zu Beginn sagte sie, Frauen sollen sich gegen die Gewalt der Männer mit Gegengewalt wehren und die Bambusstöcke dazu verwenden. Jetzt sagt sie das nicht mehr, aber die Drohung mit den Stöcken bleibt. Die tägliche Gewalt in Indien ist enorm, ohne Gegengewalt geht es nicht.
Im Film erleben wir, wie eine Anhängerin der Gulabi-Gang damit konfrontiert wird, dass ihr eigener Bruder die Schwester tötet, weil sie sich »unehrenhaft« verhalten hat. Es ist ein Problem, das die Gruppe immer wieder angeprangert hat, die Morde an Frauen und Mädchen innerhalb der Familie. Umso erstaunlicher ist die Reaktion der Frau.
Ja, es war unverständlich, dass diese Frau für die Organisation mit Herzblut arbeitet und dann genau in das Muster verfällt, das alles zu rechtfertigen. Ich habe sehr lange mit ihr gesprochen, denn ich konnte nicht glauben, was sie sagte. Sie wiederholte, wie solidarisch sie mit ihrem Bruder sei, und erklärte, wenn ihre Töchter aus ähnlichen Gründen getötet würden, wäre das für sie in Ordnung. Sie spricht diese patriarchalische Sprache, es war schockierend, das zu erleben. Insgesamt war es immer wieder erstaunlich für mich, wie offen die Menschen über ihre Ansichten gesprochen haben, sogar die Polizei. Manchmal konnte ich dann nicht an mich halten und musste trotz laufender Kamera dazwischen gehen.
Als Zuschauer ist man empört über das Verhalten der Polizei, man möchte, dass den Polizisten widersprochen wird. Es ist eine große Erleichterung, dass es tatsächlich passiert.
Es ist so, dass die Menschen dort objektiv schon wissen, dass Vergewaltigung und Mord an Frauen und Mädchen ein Verbrechen ist, aber sie haben das nicht verinnerlicht, sie denken das nicht wirklich. Und die ganze Dorfgemeinschaft hält zusammen, da kann man nicht einfach etwas anderes verlangen. In den Städten ist das anders, da können auch Frauen ihre Meinung äußern. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass der Großteil der indischen Frauen sich nach den Wünschen ihrer Eltern verheiratet. Es wird innerhalb der Kaste geheiratet, innerhalb der Klasse, das erhält das System. Liebesheiraten würden dieses System zerstören. Aber natürlich gibt es auch immer mehr Menschen, die das in Frage stellen, aber das geht sehr langsam.
Wie beurteilen Sie in diesem Kontext die Reaktionen der Menschen auf die Vergewaltigung der Studentin in Delhi?
Das war eine sehr wichtige Reaktion vieler Menschen auf ein sehr schreckliches Ereignis. Für fast einen Monat war das Leben geprägt von den Protesten Tausender Menschen. Frauenprotest hat bisher immer eine Handvoll Frauen mobilisieren können, immer die gleichen 50 bis 100 Gesichter.
Haben die Proteste den Feminismus in Indien beeinflusst?
Feministische Bewegungen in Indien kämpfen an allen Fronten. Sie haben es geschafft, geschlechterselektierende Abtreibung zu verbieten. Die Gesetze in Indien sind nicht das Problem, das Problem ist, dass die Gesellschaft so korrupt ist. Die Strafverfolgung findet nicht statt. Durch die jüngsten Ereignisse ist es tatsächlich irgendwie salonfähig geworden, das zu problematisieren. Ein Diskurs findet statt in einer breiten Öffentlichkeit, es wird diskutiert, dass es grundlegende Veränderungen in der Erziehung und Bildung geben muss. Geschlechterrollen müssen hinterfragt werden.
Die Männer werden stärker einbezogen?
Die Bewegung ist da und das Bewusstsein wird stärker. Viele Männer »bekennen« sich zum Feminismus. Aber das eigentliche Problem sind die Medien. Die Vergewaltigung in Delhi war insofern außergewöhnlich, als es ein Opfer aus der Mittelklasse getroffen hat. Aber diese Art von Gewalt findet andauernd statt, in den unteren Schichten und den ländlichen Gegenden sowieso. Ein weiteres Problem sind das Fernsehen und die Filme.
Sie meinen Bollywood?
Bollywood-Filme, das sind die Schlimmsten. Sie preisen das Patriarchat! Und die TV-Seifenopern preisen es und verharmlosen Gewalt gegen Frauen. Alle Medien ziehen an einem Strang, Fernsehen, Nachrichten, egal. Also selbst wenn wir 400 000 sind, oder sagen wir sogar eine Million, wir haben immer noch eine Billion gegen uns. Das ist ein Problem. Die meisten Menschen in Indien sind gegen Sexualaufklärung, gegen gemischte Schulen. Das bringe die Kinder auf falsche Gedanken. In Indien heißt es: »Frauenprobleme müssen von Frauen gelöst werden.« An der Macht sind aber die Männer. sEs ist an der Zeit, dass die die Verantwortung übernehmen, dass es als ein allgemeines gesellschaftliches Problem anerkannt wird.
Wie reagieren die Medien auf die Aktivitäten der Gulabi Gang?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn die Medien sind sehr aggressiv. Nicht direkt gegen die Gulabi Gang, aber sie haben einen unglaublich herablassenden und herausfordernden Ton. Nach dem Motto »Na, was macht Ihr jetzt?«
Hat sich das verändert seit den Ereignissen in Delhi?
Nein, das ist weiterhin so. Das internationale Interesse wird tief verwurzelte Haltungen der Leute nicht verändern. Das Interesse an der Gulabi Gang begann eigentlich erst im Ausland, Menschen kamen und berichteten über die Gründerin Sampat Pal Devi und ihre Aktivitäten. In Indien war das den Leuten herzlich egal. Es änderte sich ein bisschen, als Sampat Pal Devi 2012 in den Wahlkampf zog, zwar erfolglos, aber das machte sie bekannt.
Aber es gibt doch Auswirkungen?
Oh ja, die gibt es. Besonders im Internet passiert natürlich viel. Auch gibt es viel Kunst und Filme junger Feministinnen, die Bewegung ist sehr aktiv. Aber das bleibt doch stark in den Städten. Fernsehen und die Medien im Allgemeinen sind einfach ein Riesenproblem. Alle sind so korrupt, es wird so viel berichtet und gesendet, das einfach nur Müll ist. Nur die Wahrheit ist nicht dabei.

Gulabi Gang (Norwegen, Dänemark, Indien 2012). Dokumentarfilm von Nishtha Jain