Über den 17. Juni 1953

Ein Tag des Volkes

Der 17. Juni 1953, die politische Gewalt und das historische Gedächtnis der Bundesrepublik.

Rummelplatz«, Werner Bräunigs großer, unvollendet gebliebener Roman über die Schwierigkeiten des Aufbaus des Sozialismus in der frühen DDR anhand der Geschichte des Uranbergbaus, endet fernab des eigentlichen westerzgebirgischen Schauplatzes in Halle an der Saale, wohin sich zwei der Protagonisten des Buchs am 17. Juni 1953 anlässlich einer Dienstreise begeben haben. In Halle werden Hermann Fischer, Brigadier bei der Wismut und erfahrener Genosse, und Christian Kleinschmidt, ein junger Bergbaustudent aus Leipzig, Zeugen der Demonstrationen Hallenser Arbeiter und Arbeiterinnen, die in den Streik getreten sind und zuhauf in das Stadtzentrum strömen. Nach Erledigung ihres dienstlichen Auftrags mischen sich Fischer und Kleinschmidt gemeinsam mit ihrem Fahrer unter die Teilnehmer der Demonstration, woraufhin sich Fischer als alter Kommunist bald bemüßigt sieht, das Wort an die Streikenden zu richten und sie daran zu erinnern, dass sich ihr Protest nur gegen sie selbst wenden könne. Fischers Appell, die Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaats nicht gegen die Rückkehr zum Kapitalismus einzutauschen, findet unter den Anwesenden indes kein Gehör – der Protagonist des Romans wird von einigen Demons­tranten vom provisorischen Podium gezerrt und derart brutal zusammengeschlagen, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt. Bereits während Fischer sprach, hatten sich ältere Bilder seiner Erinnerung bemächtigt: die aggressive Stimmung unter den Demonstranen, das Absingen der ersten Strophe des Deutschland-Lieds wie auch die Erstürmung der Hallenser Haftanstalt gemahnten ihn an das »Dritte Reich«. (1)
Ein wie in »Rummelplatz« beschriebener Vorfall ist für Halle, wo sich am Nachmittag und frühen Abend des 17. Juni 1953 in der Tat mehrere zehntausend Menschen versammelten, um das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft der SED, freie Wahlen und die deutsche Einheit zu fordern, nicht dokumentiert; dennoch trifft Bräunig mit seiner Beschreibung eine Problematik des »Volksaufstands«, die in der Auseinandersetzung mit dem bis heute als nationaler Gedenktag begangenen 17. Juni kaum eine Rolle spielt. Das spontane Absingen der ersten Strophe des Deutschland-Lieds, die im »Dritten Reich« Nationalhymne war, ist für jene Zeit aus mehreren Städten überliefert, ebenso Brandstiftungen (darunter auch das Verbrennen von Büchern), Plünderungen und die Androhung und Ausübung körperlicher Gewalt gegen Repräsentanten des Regimes oder Personen, die als solche erachtet wurden, bis hin zu Lynchjustiz und -morden. So jagte etwa in der brandenburgischen Kleinstadt Rathenow ein Mob den als Stasi-Spitzel verfemten Mitarbeiter der Handelsorganisation (HO), Wilhelm Hagedorn, durch die Straßen, versuchte ihn erst aufzuhängen, dann zu erschlagen und schließlich zu ertränken; Hagedorn, der sich mit Mühe in die Obhut der Volkspolizei retten konnte, erlag noch am selben Tag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Insgesamt waren unter den 55 identifizierten Opfern des Aufstands mindestens vier Todesopfer auf Seiten der Sicherheitskräfte zu beklagen, die bei der Erstürmung von Haftanstalten und Parteieinrichtungen sowie bei anderen Tumulten durch die Hand von Aufständischen ums Leben kamen; die Zahl der (nicht näher klassifizierten) Verletzten und Schwerverletzten geht in die Hunderte. (2) Während des 17. Juni wurden ferner insgesamt etwa 1 600 Gefangene aus Strafvollzug oder Untersuchungshaft befreit, ohne dass die Demonstranten in allen Fällen überprüften, wen sie da eigentlich in die Freiheit entließen – tatsächliche oder vermeintliche politische Gefangene, gewöhnliche Kriminelle oder auch verurteilte Funktionäre des Naziregimes.
Jene Gewalttaten und die Wiederkehr faschistischer Parolen wollen nicht zum überlieferten Bild des 17. Juni als freiheitlichem Aufstand passen, wie es auch anlässlich des 60jährigen Jubiläums in diesem Jahr wieder zelebriert wird. Gleichwohl ist weder die historische Forschung zum 17. Juni noch die Medienöffentlichkeit diesen verstörenden Begleiterscheinungen des »Volksaufstands« je hinreichend nachgegangen. Sie zum Ausgangspunkt einer kritischen Geschichte des 17. Juni zu machen, wurde versäumt. Trotz einer Vielzahl von Studien, die insbesondere nach dem Mauerfall entstanden, fehlt bis heute eine Untersuchung, die die gegen den SED-Staat und seine Repräsentanten gerichtete Gewalt des 17. Juni näher, geschweige denn objektiv beleuchtet. Hinweise in diese Richtung, etwa von Intellektuellen der DDR wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Hans Mayer, Stefan Heym und Stephan Hermlin, die die Niederschlagung des Aufstands auch mit ebenjenen Exzessen begründet haben, sind stets als ideologisch motivierte Rechtfertigungsversuche und damit als übertrieben und unglaubwürdig abgetan worden.
Ein ähnliches Urteil wäre wohl auch über Werner Bräunig gefällt worden, wäre »Rummelplatz« nicht erst posthum im Jahr 2007 erschienen. Seine vielversprechende Karriere als Arbeiterschriftsteller endete jedoch jäh Mitte der sechziger Jahre – eben wegen jener ungeschminkten Darstellung der Arbeitsbedingungen in der Wismut in seinem Manuskript zu »Rummelplatz«, das unter anderem vom Neuen Deutschland als »Beleidigung der Werktätigen« gerügt wurde. Bräunig geriet 1965 in die Mühlen einer von Erich Honecker initiierten kulturpolitischen Debatte, die zahlreichen kritischen DDR-Künstlern nihilistische und pornographische Tendenzen vorwarf; in Ungnade gefallen und desillusioniert, brach er 1966 die Arbeit an seinem ursprünglich als Trilogie angelegten Romanvorhaben ab und verfiel dem Alkoholismus, dem er 1976 im Alter von 42 Jahren erlag. Dass Bräunig, der zumindest zur Zeit der Niederschrift von »Rummelplatz« (ab 1960) nicht mehr als willfähriger Apologet des SED-Regimes, sondern vielmehr als unbequemer, wenngleich überzeugter Sozialist gelten kann, den 17. Juni und den Tod eines seiner Hauptprotagonisten an das Ende des ersten Teils seines Romans stellte, was ein Teil der Rezensenten auch sogleich bemängelte, macht die Frage, ob jenes Datum nicht ambivalenter ist als gewöhnlich dargestellt, umso dringlicher.
Es kann nicht darum gehen, die wenige Tage nach dem 17. Juni von der SED-Führung kolportierte These des vom Westen gesteuerten »faschistischen Putschversuchs« zu revitalisieren; dies verbietet sich nicht nur wegen der an stalinistische Methoden erinnernden Repression, die auf ihn folgte (die DDR-Justiz verhängte insgesamt zwei Todesurteile sowie etwa 1 600 Freiheitsstrafen; Militärtribunale der Roten Armee verfügten 18 standesrechtliche Erschießungen). Auch die grundlegende Berechtigung der Arbeitsniederlegungen und die Forderungen der Streikenden nach demokratischer Mitbestimmung können nicht in Zweifel gezogen werden. Vielmehr gilt es, jene Deutung der SED selbst historisch zu kontextualisieren. Zu diesem Zweck soll der These vom »faschistischen Putschversuch« – jenseits ihrer Instrumentalisierung durch die SED – noch einmal aus anderer Perspektive nachgegangen werden: Es ist nämlich zu fragen, ob jene Interpretation nicht doch einen Kern an Wahrheit enthält, stellt man in Rechnung, dass die politischen Bekundungen der ostdeutschen Bevölkerung im Zuge des 17. Juni beinahe zwangsläufig Momente der nationalsozialistischen Vergangenheit revozierten. Bereits Stephan Hermlin hatte 1980 angesichts der Gewalttaten während des 17. Juni zu Bedenken gegeben, dass es schon »seltsam (hätte) zugehen müssen«, wenn die nationalsozialistische Vergangenheit an diesem Tag, acht Jahre nach Zusammenbruch des »Dritten Reichs«, »keine Rolle gespielt hätte«. (3) Aus dieser Perspektive ergibt sich auch ein anderer Blick auf den Ort des 17. Juni in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. Schließlich liegt die Frage nahe, ob die gewalttätigen und völkischen Bekundungen am 17. Juni nicht auch deshalb ausgeblendet wurden (und werden), weil seine vom politischen Establishment und von der staatsnahen Historiographie vorangetriebene Indienstnahme als willkommenes Gegenmodell zum wenig sinnstiftenden NS-Erbe nicht gefährdet werden soll. Da anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Ereignisse in diesem Jahr die kritiklose Fortführung dieser Erzählung zu beobachten ist, scheint eine historische Beschäftigung mit dem 17. Juni und seiner Rezeption angebracht.

Der »Volksaufstand« als »Putschversuch«?

Mit heutigem Kenntnisstand kann die Behauptung von der vom Westen »gesteuerten« Erhebung tatsächlich als Legende bezeichnet werden. Die Streiks und Demonstrationen entzündeten sich an Normerhöhungen von zehn Prozent, die am 9.Juni 1953 vom ZK der SED bekräftigt worden waren, und artikulierten die allgemeine Missstimmung über den Kurs der SED seit 1952, in deren Mittelpunkt wirtschaftspolitisch die Entwicklung der Schwerindustrie zu Lasten des Konsums gelegt hatte. Ironischerweise war die Normerhöhung eine Antwort auf den gestiegenen Militärhaushalt der DDR, der nach Ablehnung von Stalins Deutschland-Offerte an die Westalliierten ein Jahr zuvor und der daraufhin eingeschlagenen engeren Bindung an den Ostblock zum Zweck des Aufbaus einer eigenen Armee, der späteren NVA, drastisch angehoben worden war. Die gegen tatsächliche oder vermeintliche Klassenfeinde gerichtete, äußerst repressive Politik der kompromisslosen Bestrafung von Bagatelldelikten sowie der beschleunigte Fortgang der Verstaatlichungen von Privateigentum taten ihr Übriges. Eine »Steuerung« der Proteste aus dem Westen ist nicht belegt, auch wenn der Rias an der Verbreitung der Aufstandsmeldungen in der gesamten DDR erheblichen Anteil hatte und aus West-Berlin Tausende Demonstranten in den Ostteil der Stadt strömten, um sich den Massenaufläufen anzuschließen. Die westlichen Alliierten und die christdemokratisch geführte Bundesregierung zeigten sich von den Ereignissen überrascht und deuteten sie anfänglich sogar als eine gezielte Fehlinformation der SED-Regierung. Im Verlauf des Aufstands hielten sie sich zurück, da sie an einer Eskalation der Lage in der Viermächtestadt nicht interessiert waren (die Amerikaner untersagten den Verantwortlichen des Rias gar, den in Ost-Berlin kursierenden Aufruf zum Generalstreik zu verbreiten). Bevor der 17. Juni seit den siebziger Jahren eine Domäne der westdeutschen Konservativen wurde, war es in den fünfziger Jahren bezeichnenderweise die SPD, die Bundeskanzler Konrad Adenauer Versagen bei der Unterstützung der Aufständischen vorwarf.
Weniger eindeutig verhält es sich mit der Klassifizierung als »Putschversuch«. Auch wenn die Erhebungen spontan und in einer Atmosphäre angestauter Frustration über das SED-Regime entstanden, mithin zentralistische Führung, geschweige denn militärischer Durchschlagskraft, entbehrten, ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Teil der Demonstranten den Sturz des verhassten Systems anstrebte, also durchaus den Staatsstreich wollte. Macht man sich zudem die Haltung der SED zu eigen, wird die Interpretation der Erhebung als Putschversuch verständlicher. Genau genommen folgte diese Deutung mit der Bezeichnung der Ereignisse des 17. Juni als »faschistischem« Umsturzversuch der Faschismus-These Georgi Dimitrows von 1935, die den Nationalsozialismus bekanntlich als »reaktionärste« Spielart des Finanzkapitals deutete und damit die Massenbasis, die der Nationalsozialismus in der deutschen Bevölkerung besaß, ignorierte. Die SED als Erbin der KPD musste, entsprechend ihrer anachronistischen Gleichsetzung von Faschismus und Kapital, in den Demonstranten des 17. Juni gar keine überzeugten Nazis mit genuin nationalsozialistischer Ideologie sehen, deren Existenz man heute als notwendig für eine solche Klassifikation erachten würde; ihr genügte allein (auch weil sie die Klassenfrage mit Gründung der DDR für gelöst ansah) die gegen den Kurs der SED gerichtete Motivation, um die Protestierenden als Agenten von »Kapital und Reaktion« und damit als »faschistisch« zu denunzieren. Dass in der Bundesrepublik weite Teile der Öffentlichkeit (am extremsten die sogenannte Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, die Sabotage- und Terrorakte auf dem Territorium der DDR ausführte) gegen die ohnehin stets nur als Interregnum betrachtete »Sowjetzone« hetzten und »das Kapital« in der Tat bereit stand, der DDR lieber früher als später den Garaus zu machen, dürfte dieses Bild ebenso wie auf den Demonstrationen zu vernehmende Forderungen nach Revision der Grenzziehung im Osten nicht unerheblich gestützt haben. Dies sagt noch wenig darüber aus, welche Elemente der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Demonstrationen zur Geltung kamen, wohl aber etwas über das eingeschränkte Weltbild der SED, die ein Ereignis des Kalten Kriegs offensichtlich mit weltanschaulichen Kategorien der dreißiger Jahre interpretierte und damit ihrerseits an einer realistischen Einschätzung der Ereignisse scheiterte.
Unterdessen kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl der Demonstranten, die der Arbeiterschaft entstammte, sicher nicht die umstandslose Wiederherstellung des »Dritten Reichs« anstrebte (wobei es auch diese Haltung gegeben haben mag), sich zum Teil von der Gewalt distanzierte und auch gegen sie vorging. Vielmehr kam in ihrem Auftreten, wie die Häufung der Proteste in den alten Industrierevieren Mitteldeutschlands belegt, die Tradition der Arbeitskämpfe der Weimarer Republik zum Ausdruck, die ihnen nun behilflich war, sich gegen das strenge Arbeitsregiment der SED aufzulehnen. (4) Für diejenigen Demonstranten, die sich den von den Betrieben in die Innenstädte ziehenden Belegschaften anschlossen – Angestellte, Handwerker, Ladenbesitzer, Hausfrauen, Studenten und Studentinnen, Jugendliche –, ist dies freilich weniger eindeutig auszuschließen, und dies nicht nur, weil über deren soziale Zusammensetzung und Weltbild bislang schlichtweg keine seriösen Studien existieren. Auch der bisweilen geäußerte Einwand, dass revolutionäre Erhebungen nun einmal nicht ohne Gewalt abliefen, vermag nicht zufriedenzustellen. Die von verschiedenen Zeitzeugen aus allen Schauplätzen der Erhebung berichteten antikommunistischen Äußerungen wie »Jetzt bist du dran!«, »Schlagt ihn tot!« oder »Hängt sie auf!« und die in diesem Sinne erfolgten Übergriffe (5) gehen jedenfalls deutlich über eine nachvollziehbare Entrüstung angesichts des repressiven Charakters der SED-Herrschaft hinaus. Dass sich im Vorgehen eines nicht unerheblichen Teils der Demonstranten verdrängte Aspekte der deutschen faschistischen Vergangenheit Bahn brachen, ist demnach nicht auszuschließen. Angesichts dessen ist es erhellend, sich näher mit der Wahrnehmung der Ereignisse des 17. Juni durch ­jüdische DDR-Bürger und überzeugte Sozialisten der mittleren Ebene zu beschäftigen, die sich am Tag selbst unter die Demonstranten gemischt hatten.

Unliebsame Erinnerungen

So reagierten jüdische Bürger der DDR, ob parteilos oder Parteimitglieder der SED, mit großer Sorge auf den 17. Juni und mit einhelliger Erleichterung auf seine Niederschlagung. Eugen Gollomb etwa, Auschwitz-Überlebender und späterer Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, der durchaus Kritik am Kurs der SED und dem Karrierismus eines Teils ihrer Funktionäre geübt hat, verspürte angesichts der Niederschlagung des Aufstands ein irritierendes Gefühl der Erleichterung, da er die Ereignisse als mögliche Vorboten von Schlimmerem deutete: »Aber wenn man Leute geschlagen hat – jede Sache beginnt ja nicht gleich mit Gaskammern. Das beginnt erst mit solchen Sachen. Bis man wieder dran ist, und dann kann sich das wiederholen, was gewesen ist. Und wir wissen auch, dass auch verschiedene totgeschlagen wurden.« (6) Der Schriftsteller Jurek Becker lässt den Protagonisten seines Romans »Der Boxer«, den jüdischen Überlebenden Arno Blank, angesichts des 17. Juni urteilen, dass er die gegenwärtige politische Ordnung gewalttätigen Umwälzungen vorziehe, die (bis auf die Befreiung vom Hitler-Faschismus) ihm als Juden stets eine Verschlechterung seiner Lage gebracht hätten. (7)
Ähnlich wie Gollomb und Beckers Protagonist verspürte ein Großteil der in der DDR lebenden Juden Angst und Panik, dass »es« wieder los gehen könnte. Die Massenaufläufe, Übergriffe, Plünderungen und das von Rachegelüsten bestimmte Auftreten vieler Demonstranten weckten bei ihnen acht Jahre nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« Erinnerungen an die Machtergreifung von 1933 und die antijüdischen Gewalttaten des Mobs unter dem Nationalsozialismus. Die Übergriffe mussten sich dazu noch nicht einmal gegen Juden oder jüdische Einrichtungen richten. So sind aus Leipzig zwei Beispiele dafür überliefert, dass die Demonstranten Repräsentanten des SED-Regimes (darunter den späteren LDPD-Vorsitzenden, Manfred Gerlach, zu dieser Zeit stellvertretender Leipziger Oberbürgermeister) unter Androhung von Gewalt zwangen, in einer Art Selbstbezichtigung mit umgehängten Schildern Protestzüge anzuführen – eine unheimliche Reminiszenz an ähnliche Vorfälle während antijüdischer Ausschreitungen in der Nazizeit und an die Partisanenbekämpfung der Wehrmacht in den besetzten Gebieten. (8) Nicht von ungefähr wird in Selbstzeugnissen von Juden aus dieser Zeit wiederholt von großem Misstrauen gegenüber den Deutschen berichtet. Sie wussten nicht, wer ihrer Nachbarn und Arbeitskollegen, geschweige denn wer unter den grölenden Demonstranten zuvor dem NS-Regime gedient, sich an jüdischem Eigentum bereichert oder an den Verbrechen mitgewirkt hatten. Ihre Erfahrungen sprachen jedenfalls dafür, dass dies umstandslos auf alle Deutschen zutreffen konnte. Ein ähnliches Misstrauen hegte man freilich auch gegenüber der SED-Führung, deren unter dem Stichwort des »Kosmopolitismus« geführte Kampagne von Parteisäuberungen noch wenige Monate zuvor, im März 1953, zu einem Exodus weiter Teile der Jüdischen Gemeinden aus der DDR geführt hatte.
Angesichts der Exzesse der mit größtem Misstrauen beobachteten deutschen Bevölkerung wurden die Panzer der Roten Armee – der einstigen Befreier vom Nationalsozialismus – nachgerade euphorisch und mit Erleichterung begrüßt. Zugleich evozierten die Ereignisse wohl die in der jüdischen Geschichtsschreibung gespeicherte, gleichsam überzeitliche Erfahrung, dass sich politische Umwälzungen gleich welcher Art angesichts der zeitweisen Suspendierung des Rechts, die sie schaffen, von jeher gegen Juden hatten richten können. Zuletzt war dies in Deutschland während der Frühphase der Revolution von 1848 zu Tage getreten, als viele ländliche Regionen Deutschlands von einer Welle antijüdischer Ausschreitungen erschüttert worden waren – was bezeichnend für die Ambivalenz deutscher Demokratietradition ist. Der Hinweis auf die Bedeutung der Befürchtungen jüdischer DDR-Bürger soll gar nicht nahelegen, dass tatsächlich die Errichtung eines »Vierten Reichs« und die Fortführung der antisemitischen Verfolgung gedroht hätten. Gleichwohl überrascht es, dass diese Ängste und Sorgen bislang nicht zum Ausgangspunkt genommen worden sind, um das überlieferte Bild der Gewalttaten einer Prüfung zu unterziehen.
Die Einschätzungen von SED-Mitgliedern, älteren zumal, von denen sich viele während der Ereignisse des 17. Juni bereitwillig unter die Streikenden mischten, um mit ihnen zu diskutieren, waren ähnlicher Art. So ist eine der ersten Assoziationen von Bräunigs Romanfigur Hermann Fischer angesichts des Auftretens der Massen in Halle die an »Gestapo-Keller« und das darin während des »Dritten Reichs« erlittene Leid deutscher Antifaschisten. Offensichtlich erinnert ihn das Auftreten eines Teils der Demonstranten, die jene, die sich als Parteigänger der SED zu erkennen gaben, mit unverhohlenem Hass beschimpften, physisch bedrohten oder gar nach dem Leben trachteten, an die Brutalität und die Vernichtungsphantasien von Nazis während der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Die Möglichkeit, dass sich unter den Demonstranten tatsächlich eine nicht unerhebliche Zahl ehemaliger Nazis befand, die die Gelegenheit des 17. Juni ergriff, um im Moment der Rechtlosigkeit endlich mit den »Roten« abzurechnen und angestauten Aggressionen, die die autoritäre Staatsmacht für gewöhnlich zu unterbinden wusste, freien Lauf zu lassen, dürfte in der Tat recht hoch gewesen sein. Es gab ja auch in der DDR durchaus die Ewiggestrigen, die heimlich Hakenkreuze auf Häuserwände und Toiletten schmierten, die Sabotageakte in den Betrieben durchführten oder bei jeder Gelegenheit zu verstehen gaben, es müsse mal wieder richtig durchgegriffen werden. So richtete sich der Zorn des Rathenower Mobs auch deshalb gegen Wilhelm Hagedorn, weil dieser nach Kriegsende eine Vielzahl von Einwohnern, die sich den Nazis angedient hatten, den Behörden gemeldet hatte. Zudem dürfte es unter ehemaligen Wehrmachtssoldaten, Kriegsrückkehrern, Ausgebombten und Halbkriminellen ein bislang unterschätztes Potential an Verrohung, Brutalität und Sadismus gegeben haben, das zu einer deutlich höheren Gewaltbereitschaft gegen die »Russenknechte« führte. »Es war nicht mehr mein Berlin«, kommentierte der nach dem Krieg in die SBZ zurückgekehrte jüdische Kommunist Joachim Chaim Schwarz (unter dem Pseudonym Carl-Jakob Danziger), »es war ein langsam verwesender Kadaver. Fratzen hatten den Krieg überlebt, kleine Füchse, der Typ des sich selbst Erhaltenden, des Listenreichen. Maden, Achtgroschenjungs, Agentchen fetter Bosse ringelten sich im Leichnam.« (9) Insofern hatte die vielfach belächelte und als Übertreibung abgetane Darstellung der SED, die Demonstrationen seien von »Elementen«, »Rowdys« und »Krakeelern« angeführt worden, durchaus etwas beängstigend Reales. Weniger von sozialen Forderungen angetrieben, wie der Kern der Streikenden, nahmen diese Menschen die Gelegenheit plötzlich sich einstellender Rechtlosigkeit wahr, um ihren Ressentiments gewalttätig Ausdruck zu verleihen.

Das Nachleben des 17. Juni

Warum aber hat sich die historische Forschung jenen regressiven Begleiterscheinungen des 17. Juni nie ernsthaft zugewandt? In der DDR selbst blieb eine Auseinandersetzung mit dem 17. Juni verständlicherweise ein Tabu. Die Brüskierung der Partei, deren Führungsrolle durch die Erhebung von denen, die sie zu führen vorgab, nachhaltig in Frage gestellt worden war, wog zu schwer, als dass sie eine Beschäftigung damit erlaubt hätte. (Interessanterweise wurde die offizielle Sprachregelung in der DDR zum 17. Juni in den siebziger Jahren jedoch dahingehend modifiziert, dass nunmehr nur noch von einem »konterrevolutionären Putschversuch« die Rede war). Zugleich war das Ereignis ideologisch und propagandistisch derart aufgeladen und der Blick der DDR-Historiographie derart verengt, dass die im 17. Juni revozierten Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit allein in literarischer Form zum Gegenstand gemacht werden konnten – bezeichnenderweise häufig von jüdischen Schriftstellern wie Stefan Heym (»Fünf Tage im Juni«, 1974), Stephan Hermlin (»Die Kommandeuse«, 1954), Jurek Becker (»Der Boxer«, 1978) und Anna Seghers (»Das Vertrauen«, 1968). Diese befanden sich ihrerseits insofern in einem Dilemma, als sie selbst Kritik an der stalinistischen Politik der SED üben mochten, aus Überzeugung und biographischen Gründen heraus aber an der DDR als alternativlosem sozialistischen Projekt festhielten.
Letztlich erfuhren die Ereignisse des 17. Juni auch in der Bundesrepublik eine Ideologisierung, die der Frontstellung im Kalten Krieg geschuldet war. Bereits im August 1953 wurde das Datum zum »Tag der deutschen Einheit« erklärt und als solches bis ins Jahr 1989 begangen, bevor es im Einigungsvertrag durch den 3.Oktober abgelöst wurde. Während Adenauer der symbolischen Bedeutung des 17. Juni zurückhaltend gegenüberstand, da die mit dem Datum prominent verknüpfte Erinnerung an die verhinderte Einheit seinen Plänen der Westbindung zuwiderlief, sahen die politische Rechte und die SPD im 17. Juni zumindest während der fünfziger Jahre ein Datum, an dem an die deutsche Teilung und die »Knechtschaft« durch die SED erinnert werden konnte – was die Rechte mit Hinweis auf die notwendige Wiederherstellung der deutschen Einheit in den Grenzen von 1937, die SPD unter Bezug auf ihre Rolle als einzig legitime Führerin der deutschen Arbeiterklasse begründete. Dabei kam der 17. Juni der bundesdeutschen Öffentlichkeit insofern zupass, als er sich im Gegensatz zum NS-Erbe als unbelastetes Symbol der nationalen Selbstdarstellung eignete. Mit Antritt der SPD-Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt 1969 entdeckten auch die Konservativen den »Volksaufstand«, der sich aus ihrer Sicht nun anbot, die auf Verständigung setzende Ostpolitik Brandts, die auf eine Anerkennung der DDR hinauslief, zu diskreditieren. Gleichwohl entwickelte sich der 17. Juni bis zum Ende der alten Bundesrepublik, die sich in ihrer Existenz als vermeintlich neutrale »große Schweiz« eingerichtet hatte, zu einem weitgehend inhaltsleeren Feiertag, an dem lediglich die politische Führung an die deutsche Teilung erinnerte – wer sich darüber hinaus in den achtziger Jahren positiv auf den 17. Juni und die deutsche Einheit bezog, hatte fast schon einen Exotenstatus inne. (10)
Nach 1989 wandelte sich die Bedeutung des 17. Juni, wobei die nationale Gedenkpolitik ihn nun, mit dem Signum des Siegers der Geschichte versehen, als Vorgeschichte zum Vollzug der deutschen Einheit interpretierte. Seine noch während des Kalten Kriegs übliche Deutung als Aufstand für eine universalistisch gedachte, an keine Bedingungen geknüpfte »Freiheit« trat stillschweigend zurück, stattdessen wurde er zum demokratischen Fanal der Deutschen. Dieses Bild erreichte zum 50jährigen Jubiläum der Ereignisse im Jahr 2003 seinen Höhepunkt, als Bundespräsident Johannes Rau den 17. Juni als einen »der stolzen Tage in der deutschen Geschichte« bezeichnete, der einen »unschätzbaren Beitrag zum Ansehen des ganzen Deutschland« geleistet habe. Damit wurde der 17. Juni nicht nur – durch ein SPD-Mitglied – vollends seiner ursprünglich sozialkritischen Stoßrichtung beraubt, zugleich avancierte er endgültig zum Ausweis einer vermeintlich überzeitlichen deutschen Demokratietradition.
Auch die Vielzahl von Studien, die nach Öffnung der Archive und im Zusammenhang mit dem Jubiläum entstand, rückt die regressiven Momente des 17. Juni nicht ins Bild. Dies mag mehrere Gründe haben. So ist die Forschung zur DDR-Geschichte heute weitgehend eine der Sieger. Sie folgt weniger dem Drang nach Erkenntnis als dem politischen Auftrag, die Unmenschlichkeit des SED-Regimes herauszustellen. Handelt es sich bei den Autoren zudem (und dies ist bei nicht wenigen der Fall) um ehemalige Dissidenten aus der DDR, hängt ihren von offizieller Seite mit beträchtlichen Mitteln geförderten Arbeiten nicht selten der Ruch einer nachholenden Abrechnung an. Sie können sich einem Ereignis, als dessen Erben sie sich sehen, offenbar fast schon zwangsläufig nicht unbefangen und kritisch nähern. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein 2005 erschienener Sammelband zum 17. Juni, in dem jeder kritischer Zugang wie auch nur die Erwähnung der oben beschriebenen Gewalttaten fehlen, was daher rühren dürfte, dass knapp die Hälfte der 21 Beiträgerinnen und Beiträger zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Beschäftigte bei der Bundesstelle zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen (BtSU) waren. (11) Hinzu tritt nicht selten eine antikommunistische Grundhaltung, die in den Gewalttaten weniger eine problematische Eruption vergangener Zeiten als den berechtigten Ausdruck gegen die SED-Diktatur gerichteter Auflehnung sieht  – als wäre gegen diese jedes Mittel recht gewesen. Der Lynchmord von Rathenow gerät dann – beispielsweise in einer Publikation aus dem Jahr 2003 – zu einem bedauernswerten Extremfall, den sich Wilhelm Hagedorn als Vertreter eines diktatorischen und verhassten Regimes letztlich selbst zuzuschreiben hatte. (12)
Wie an der Äußerung Raus über das »Ansehen« Deutschlands deutlich wird, wirkt in Hinblick auf den Platz des 17. Juni in der offiziellen Erinnerung der Bundesrepublik fort, was sich bereits seit den fünfziger Jahren abzeichnete: Der 17. Juni fungiert als Gegenerzählung zum Erbe des Nationalsozialismus. Der Aufstand gegen die SED war gleichsam der dringend benötigte Beweis für die Wandlung des deutschen Volks, das sich wenige Jahre nach Hitler nun gegen eine Diktatur aufgelehnt habe. Nach dem Fall der Mauer und der damit verbundenen Neukonstitution der Bundesrepublik als geeinte Nation verstärkte sich dieses Bedürfnis. Die im Zuge des 50jährigen Jubiläums 2003 offensiv betriebene Eingemeindung des 17. Juni in eine ihrerseits stark halluzinatorische Züge tragende deutsche Demokratietradition ist freilich nur aufrecht zu erhalten, indem die verstörenden Momente des 17. Juni abgespalten werden zugunsten einer totalitarismustheoretischen Sichtweise, die beide Systeme als »Diktaturen« tendenziell gleichsetzt. Dass sich ein Teil der Demonstranten in ihrer Auflehnung gegen die SED der Sprache und der Feindbilder des nationalsozialistischen Deutschland bediente, stört dieses Bild nachhaltig, wohl auch, weil die Frage im Raum steht, ob ein Aufstand vor 1945 gegen das wesentlich repressivere NS-System nicht deshalb unterblieb, weil die Deutschen sich in ihrer Mehrheit mit diesem identifizierten. Insofern weist die hegemoniale Erzählung vom 17. Juni untergründig auch auf die verborgen wirkende Präsenz der Shoa als Kern des Nationalsozialismus hin. Im Sinne einer verlängerten Schuldabwehr scheint die Verantwortung für den Genozid an den europäischen Juden jedenfalls immer noch – wissentlich oder unwissentlich – geleugnet zu werden.

Der Autor lebt in Leipzig und ist Mitglied des Roten Salons im Conne Island.

Anmerkungen:

(1) Werner Bräunig: Rummelplatz, Berlin 2007, S. 585–621
(2) Siehe die Aufstellung auf der Internetseite http://www.17juni53.de/tote/index.html
(3) Stephan Hermlin: Gespräch mit Ulla Hahn, in: ders.: Äußerungen 1944–1982, Berlin/Weimar 1983, S. 411 f.
(4) Bernd Gehrke: »Räumt euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!« Eine Nachbetrachtung zum 50. Jahrestag des Juni-Aufstands, in: »Express. Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit« 2003, Nr. 8/9
(5) Unabhängige Autorengemeinschaft (Hg.): Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953, Schkeuditz 1999
(6) Zit. n. Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Berlin 1999, S. 407
(7) Jurek Becker, Der Boxer, Rostock 1978, S. 253 f.
(8) Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003, S. 156
(9) Carl-Jakob Danziger: »Die Partei hat immer recht«, Frankfurt/Main u. a. 1980, S. 49
(10) Edgar Wolfrum: Ein ungebetener Erinnerungsort? Der 17. Juni 1953 im nationalen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland, in: Roger Engelmann/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005, S. 414–425
(11) Roger Engelmann/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), a.a.O.
(12) Ilko-Sascha Kowalczuk, a.a.O., S. 190