Ein Nachruf auf Yoram Kaniuk

Ein pessimistischer Kämpfer

Er war ein kluger Mann mit einem wunderbaren schwarzen Humor. Nun ist der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk
mit 83 Jahren verstorben.

Mich interessiert das alles nicht mehr. Ich spreche darüber, weil Sie mich fragen. Doch zwei Minuten nach unserem Gespräch werde ich nicht mehr daran denken.« Mit diesen Sätzen endet ein Interview, das der Autor dieses Nachrufs im April 2012 für die Jungle World mit Yoram Kaniuk führte. Es ging in dem Gespräch um die diffamierenden Äußerungen von Günter Grass über Israel. Kaniuk wirkte dabei sehr müde und resigniert. Seine jahrelange Krebserkrankung, sein Alter, aber auch all die vielen, scheinbar vergeblichen Kämpfe, die er in seinem Leben geführt hatte, forderten ihren Preis. Andererseits waren Resignation und Pessimismus so etwas wie die Leitmotive seines Lebens. Erst vor wenigen Wochen sagte Kaniuk in einem Interview: »Ich hab’s nicht geschafft. Ich bin kein erfolgreicher Schriftsteller geworden.« Dabei war er in Israel für seinen letzten Roman »1948«, der erst dieses Jahr auf Deutsch erschien, sogar mit dem renommierten Sapir-Preis ausgezeichnet worden. Das allerdings hatte den Schriftsteller selbst vielleicht am meisten überrascht.
Kaniuk hatte in den vergangenen Jahrzehnten immer das Schlimmste erwartet, zugleich jedoch auf das Beste gehofft – nur so konnte er wohl all die politischen, kulturellen und sozialen Auseinandersetzungen führen, die mit ihm verbunden werden. Kaniuk befasste sich in seinen 17 Romanen – außerdem verfasste er mehrere Kinderbücher und diverse Kurzgeschichten – zumeist mit den großen Themen: der Shoa, der Geschichte und Gegesnwart des Staates Israel, Deutschen und Juden, Israelis und Palästinensern, dem Leben und dem Tod. Er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 25 Sprachen übersetzt.
Geboren 1930 in Tel Aviv, meldete sich Kaniuk mit 17 freiwillig zur Palmach, einer Spezialeinheit der jüdischen Untergrundarmee Hagana, und zog in den israelischen Unabhängigkeitskrieg. Er habe getötet, bevor er das erste Mal ein Mädchen geküsst habe, sagte Kaniuk einmal. Die Schrecken dieses Krieges sind der Gegenstand seines letzten Romans, den er erst sechs Jahrzehnte nach dem Krieg schreiben konnte. Obwohl: Bereits 1949 hatte er ein Buch über den Krieg verfasst, doch alle Verlage lehnten es ab. Es sei nicht gut, hieß es. »Vielleicht stimmt das ja«, sagte Kaniuk rückblickend. Möglicherweise musste er zunächst Abstand gewinnen. Über Paris ging der Kriegsveteran in die USA und tauchte in die Künstlerszene ein. Der »wichtigste Grund, warum ich damals nach Amerika ging, war, dass ich all dem entfliehen wollte«, erklärte Kaniuk.
Während dieser Zeit, über die er später seinen ersten autobiographischen Roman »I Did It My Way« verfasste, lernte Kaniuk auch seine nichtjüdische Ehefrau Miranda kennen. Mit ihr kehrte er 1961 nach Israel zurück. 1968 verarbeitete er die Leidensgeschichten, die ihm Überlebende der Shoa während seiner Arbeit auf einem Schiff nach Israel berichteten, in dem später verfilmten Roman »Adam Hundesohn«. Obwohl er selbst den Lagern entgangen war, weil seine Eltern schon vor seiner Geburt nach Palästina ausgewandert waren, erlangte Kaniuk mit dem Buch große Anerkennung unter den Überlebenden in Israel. In Deutschland hingegen fand sich erst über zwei Jahrzehnte später ein Verlag, der es drucken wollte.
Zeit seines Lebens konnte Kaniuk nicht verstehen, warum sich Juden nach der Shoa wieder in Deutschland niederließen. Er sei »zwischen Weimar und Buchenwald gezeugt« worden, schrieb er ironisch. Obwohl seine Eltern beide aus Osteuropa stammten, fühlte sich Kaniuk der deutsch-jüdischen Kultur der »Jeckes« eng verbunden. Und doch wusste er nur zu gut um die antisemitische Seite dieser Kultur: »Günter Grass jedenfalls repräsentiert die zu Luther und Goethe zurückreichende Kontinuität der deutschen Seite – die, die Juden immer wieder ermordet hat«, sagte er vor einem Jahr im Interview.
Als die Jungle World ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Kongress veranstaltete, war Kaniuk einer der Referenten. Von der Reaktion weiter Teile der deutschen Linken auf die Attentate fühlte sich der israelische Schriftsteller an das erinnert, was er ein Jahrzehnt zuvor schon einmal erlebt hatte. Nach dem zweiten Golfkrieg, als der irakische Diktator Saddam Hussein Israel mit deutschem Giftgas bedrohte, diskutierte Kaniuk mit Günter Grass auf einer öffentlichen Veranstaltung. Kaniuk war schockiert, wie »Grass die Unvernunft der deutschen Linken verteidigt, die mit dem Mörder und Diktator Saddam sympathisierte«, und hielt ihm, dessen Mitgliedschaft in der Waffen-SS damals noch nicht bekannt war, vor, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen (um später zu erfahren, dass andere schon vor ihm zu dieser Feststellung gekommen waren). Kaniuk verarbeitete diese verstörenden Erfahrungen mit dem heutigen Deutschland in seinem 2002 erschienenen Buch »Der letzte Berliner«.
2005 war Kaniuk bereits an Krebs erkrankt und konnte sich die Behandlung nicht leisten. Sein deutscher Freund Rolf Eden unterstützte ihn finanziell. »Er hat mir damit das Leben gerettet«, konstatierte Kaniuk später. Eden, den viele nur als Berliner Playboy kennen, war zusamen mit Kaniuk in der Palmach gewesen. Doch anders als Eden drängte es Kaniuk immer wieder zur Verarbeitung des Vergangenen. Nachdem er sich von dem zweiwöchigen Koma erholt hatte, in das er infolge von Komplikationen nach einer Krebsoperation gefallen war, schrieb er über diese Nahtoderfahrung einen zweiten autobiographischen Roman – »Zwischen Leben und Tod«.
»1948«, sein letztes Buch, war zugleich sein letzter autobiographischer Roman. »Ich wollte zwei Mythen zerschlagen«, sagte Kaniuk über das Werk. Zum einen den Mythos vom Heldentum der israelischen Kämpfer von 1948 – »Krieg bedeutet für Soldaten zunächst mal nichts anderes als zu töten, um nicht selbst getötet zu werden«, daran sei »nichts Heroisches.« Zum anderen den Mythos von der Nakba – der »Katastrophe« der Araber, die von den Israelis vorsätzlich vernichtet oder vertrieben worden seien. »Sie haben den Krieg begonnen. Wir haben auf ihre Angriffe reagiert.« Und aller Kritik zum Trotz, die Kaniuk an der israelischen Politik den Palästinensern gegenüber immer wieder äußerte, wusste er über die Staatsgründung: »Aber wir mussten es tun. Hätten wir es damals nicht getan, wäre es nie geschehen.«
Heftig kritisierte Kaniuk auch den zunehmenden Einfluss der Religion auf das Leben in Israel. »Ja, ich möchte ein Jude sein!« erklärte er 2011. »Aber eben nicht im religiösen Sinne.« Damals hatte er vor Gericht erstritten, dass sein amtlicher Status von »Religion: jüdisch« in »ohne Religion« geändert wurde und damit einen wichtigen Erfolg für die Trennung von Staat und Religion in Israel errungen.
Dazu passt, dass Kaniuk eine herkömmliche Beerdigung ablehnte. Er wollte seinen toten Körper der Wissenschaft schenken, damit er in dieser Form »ein paar Jahre weiter existieren« könne. Nachdem vor einiger Zeit der Krebs zurückgekehrt war, wusste Kaniuk, dass er nicht mehr viel Zeit haben würde. Vor wenigen Monaten notierte er in seinem Weblog: »Ich schrei­be mit einem gewissen Bedauern und dem nicht so angenehmen Gefühl, dass meine Zeit gekommen ist.« Am 8. Juni starb dieser große Schriftsteller, dieser kluge und humorvolle Mann, in seiner Geburtsstadt Tel Aviv.