Über Wählerdiskriminierung in den USA

Change we can’t believe in

In den USA hat der Oberste Gerichtshof Teile des Voting Rights Act, der die gleiche Beteiligung von Minderheiten an den Wahlen gewährleisten soll, für verfassungswidrig erklärt. In einigen Bundesstaaten hat sich am Rassismus wenig geändert.

»Die Dinge haben sich verändert im Süden«, und zwar »dramatisch«, lautete das Urteil des US-amerikanischen Supreme Court vorvergangene Woche. Es erklärte Paragraph 4b des Voting Rights Act für verfassungswidrig. Dies sei »ein groß­artiger Tag für Shelby County und Amerika«, freute sich Frank Ellis, Bezirksstaatsanwalt von Shelby County, Alabama. Enttäuscht äußerte sich hingegen Präsident Barack Obama. Das Urteil sei ein Rückschritt und beende eine »jahrzehntelange gute Praxis«. Weniger diplomatisch äußerten sich Bürgerrechtler. »No justice, no peace«, schrieb der bekannte Bürgerrechtler Al Sharpton in der Huffington Post. Das Urteil sei ein verheerender Schlag vor allem gegen Afroamerikaner.
Der Voting Rights Act wurde 1965 auf Druck der Bürgerrechtsbewegung verabschiedet, um allen Bürgerinnen und Bürgern der USA, unabhängig von ihrer Hautfarbe, das gleiche Wahlrecht zu garantieren. Paragraph 2 verbietet jegliche Wahlpraktiken oder -abläufe, die Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe oder als Mitglied einer sprachlichen Minderheit benachteiligen. Da vor allem die ehemaligen konföderierten Staaten regelmäßig Gerichtsurteile und Antidiskriminierungsgesetze umgingen, sieht Paragraph 5 auch vor, dass Staaten mit einer »Geschichte rassistischer Diskriminierung« jegliche Änderung ihrer Wahlgesetze vom Justizministerium genehmigen lassen müssen. Paragraph 4 legt anhand bestimmter Kriterien fest, welche Bundesstaaten, Counties und Kommunen eine solche Genehmigung benötigen. Bislang fielen darunter die Bundesstaaten Alabama, Alaska, Arizona, Georgia, Louisiana, Mississippi, South Carolina, Texas und Virginia sowie einige Landkreise in Florida, New York und anderen Bundesstaaten.
Fast genau 50 Jahre nachdem Martin Luther King im Gefängnis von Birmingham seinen berühmten »Letter from Birmingham Jail« geschrieben hatte, entschieden die Regierenden im benachbarten Shelby County, die Zeit sei reif für einen Wandel, und klagten gegen den Voting Rights Act. Paragraph 4 verletze die Autonomie der Bundesstaaten und die auf einige Staaten beschränkte Genehmigungspflicht widerspreche der »gleichen Souveränität aller Bundesstaaten«, urteilte die konservative Richtermehrheit unter Vorsitz von John Roberts. Der Voting Rights Act sei eine »starke, aber notwendige Medizin« gewesen, um das »hinterlistige und allgegenwärtige Übel« der rassistischen Diskriminierung in einigen Teilen des Landes zu bekämpfen, aber »diese außergewöhnliche Situation« sei nicht länger gegeben. Der Voting Rights Act habe weitgehende Parität in der Wahlbeteiligung von Schwarzen in den von der Freigaberegel betroffenen Staaten erreicht, aber die in Paragraph 4 angewandte Formel sei nicht mehr zeitgemäß und verfassungswidrig.

Eine Minderheit des Gerichts unter Vorsitz von Richterin Ruth Bader Ginsburg sieht das anders. Sie betont, dass der Kongress das Recht habe, in Fragen der Wählerdiskriminierung in Befugnisse der Bundesstaaten einzugreifen. Der Kongress habe die Regelung 1970, 1975 und 1982 geprüft, für weiterhin notwendig befunden und die Regelung zuerst um fünf, später um 25 Jahre verlängert. Zuletzt 2006 hätten der Senat, ohne Gegenstimme, und eine große Mehrheit des Repräsentantenhauses den Voting Rights Act bestätigt. Wählerdiskriminierung sei mitnichten ein Phänomen der Vergangenheit. »Einige Teile des Südens haben sich geändert, ihr Landkreis nicht«, hatte die Richterin Sonia Sotomayor vom Supreme Court in einer Anhörung dem Anwalt von Shelby County entgegnet.
In Shelby County sind elf Prozent der Bevölkerung Schwarze und 85 Prozent Weiße, die als mehrheitlich republikanisch und konservativ gelten. Ernest Montgomery ist der einzige schwarze Abgeordnete im Stadtrat von Calera City in Shelby County. 23 Prozent der Bevölkerung von Calera City sind Schwarze. Als die Stadt 2008 durch eine Neuaufteilung der Wahlkreise den einzigen mehrheitlich schwarzen Wahlbezirk abschaffte, erhob das Justizministerium Einspruch. Diesen ignorierte die Stadt, Montgomery verlor seinen Sitz im Stadtrat. Das Justizministerium klagte daraufhin, die Wahl musste wiederholt werden und Montgomery wurde mit breiter Mehrheit wiedergewählt.
Montgomery ist nur ein Fall von vielen. Seit 1982 hat das Justizministerium mehr als 2 400 Änderungen des Wahlrechts in von Paragraph 4b betroffenen Staaten blockiert oder annulliert. Die Richterminderheit des Supreme Court weist zudem darauf hin, dass die Zahl der Verfahren nach Paragraph 2 des Voting Rights Act zwischen jenen und allen anderen Bundesstaaten in etwa gleich sein müsste, wäre die Diskriminierung in den betroffenen Südstaaten tatsächlich zurückgegangen. Dennoch habe es in ersteren viermal so viele erfolgreiche Verfahren wegen Diskriminierung nach Paragraph 2 gegeben. Auch wenn sich einiges geändert habe, seien ohne die abschreckende Wirkung des Voting Rights Act die »ohne Zweifel beeindruckenden Fortschritte gefährdet«, schreibt die Richterminderheit in ihrem Votum.

Dass die Sorge nicht ganz unberechtigt ist, zeigte sich bereits kurz nach der Entscheidung. Sechs Bundesstaaten kündigten an, ihre Wahlgesetzgebung zu verschärfen oder bisher blockierte Wahlgesetze in Kraft zu setzen. Bis auf Texas und Florida waren dies alles Staaten, die ursprünglich von Paragraph 4 des Voting Rights Act erfasst wurden. Diese Staaten mussten bis vor kurzem zuerst beweisen, dass eine Änderung von Wahlgesetzen nicht diskriminierend wirkt. Das Urteil schiebt die Beweislast wieder Individuen zu, die nun erst klagen müssen. In Zukunft werde es daher viel schwerer, gegen Wählerdiskriminierung vorzugehen, betont die Richterminderheit. 40 Jahre nach der Verabschiedung des Voting Rights Act habe sich die Diskriminierung von Minderheiten bei den Wahlen verlagert. Heutzutage sei nicht mehr der Zugang, sondern das effektive Ausüben des Wahlrechts bzw. der effektive Einfluss der Stimme, Ziel der meisten diskriminierenden Praktiken.
Auch die Präsidentschaftswahlen 2012 waren von langen Schlangen vor zu kurz geöffneten Wahllokalen in mehrheitlich schwarzen Distrikten geprägt. In Florida mussten Schwarze und Latinos im Durchschnitt deutlich länger darauf warten, ihre Stimme abzugeben, ermittelte eine Ende Juni veröffentlichte Studie. Am längsten warten mussten Wähler in Miami-Dade County, einem der Landkreise in Florida, die vermutlich entscheidend waren im äußerst knappen und umstrittenen Wahlsieg von George W. Bush im Jahr 2000.

Entgegen der pessimistischen Einschätzung vieler Bürgerrechtsorganisationen und weiter Teile des liberalen Establishments gab es aber auch positive Reaktionen auf das Urteil. »Der Kongress hat nun die Möglichkeit, unsere Demokratie zu stärken und zu erweitern«, sagte ein Vertreter des NAACP, der ältesten Bürgerrechtsorganisation der USA. Dass der heillos zerstrittene Kongress aber bis zu den Kongresswahlen 2014 eine Änderung des Voting Rights Act verabschieden wird, gilt als unwahrscheinlich. Nicht auf den Kongress vertrauen, sondern die Gunst der Stunde nutzen, um erneut auf die Straße zu gehen, will hingegen Al Sharpton. Zusammen mit dem Enkel von Martin Luther King und anderen will der Moderator von MSNBC am 24. August, zum 50. Jahrestag des Marsches von 1965, einen erneuten »Marsch auf Washington« organisieren. Damit Martin Luther Kings Traum endlich wahr wird.