Über alte und neue Begriffe im deutschen antirassistischen Diskurs

Too much love

Von »Non-Citizens« und ihren »Supportern«. Über problematische neue Begriffe im deutschen antirassistischen Diskurs.

In einem weitsichtigen Text mit dem Titel »The Age of Love«, in dem die postkoloniale Theoretikerin Françoise Vergès die Genealogie rassistischer Ambivalenzen zwischen Identitätspolitik und Disziplinierung des schwarzen Subjekts seitens der weißen Abolitionisten herausarbeitet, bringt sie die Geschichte dieser monströsen In­timität von Ungleichen auf dem Punkt: »Too much love!« Diese Formel scheint auch in der gegenwärtigen Debatte über die Begriffe »Citizen« und »Non-Citizen« im Zusammenhang mit den neueren Protesten von Geflüchteten, Asylbeantragenden, Papierlosen und Transitmigranten in Deutschland ihre provokative Evidenz zu haben.
Ausgangspunkt dieser Kontroverse ist die Formulierung einer »Dichotomie zwischen Staatsbürger_in/Nicht-Staatsbürger_in« im Papier »Position Asylsuchender 2013«, die oftmals auch »Citizen/Non-Citizen-Dichotomie« genannt wird. Dabei wird diese Dichotomie weniger anhand der stratifikatorischen Machtordnungen der Politik der Staatsbürgerschaft interpretiert, sondern man orientiert sich an der profanen Frage des legalen Aufenthalts im Nationalstaat, hier: der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Sinne werden lediglich »Asylsuchende, illegalisierte und papierlose Menschen« (»Antwort auf Kritiken 2013«) als »Non-Citizens« betrachtet. Andererseits werden diese negativ durch ihren »Ausschluss aus dem Produktions-, Verteilungs- und Reproduktionssystem« (Junlge World 28/2013) definiert, und dies macht die Unschärfe des Begriffs »Non-Citizen« aus.
Darüber hinaus scheint der Begriff nicht nur eine gesellschaftliche Stellung zu bezeichnen, sondern auch auf eine innere Haltung zu beziehen. Denn während der Begriff »Refugee« – eine Selbstbezeichnung, die aus der selbstorganisierten Flüchtlingsbewegung rund um die »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen« und »The Voice Refugee Forum« stammt – als schwach kritisiert wird, da er auch Kapitalisten und Bankbesitzer einschließen könne (Jungle World 28/2013), sei der Begriff des »Non-Citizen« vor dieser Ambivalenz gefeit.
Den Begründern dieses Diskurses scheint die Geschichte des Antikolonialismus und des Antisemitismus in Deutschland entgangen zu sein, wenn sie die mörderische Verwandlung von ­Kapitalisten und Bankbesitzer in »Non-Citizens« vergessen. Schlussendlich wird der »Non-Citizen« als eine Person verstanden, die in jeder Kategorie der Ungleichheit – hier werden jedoch ausschließlich race und class genannt – nicht nur unterdrückt, sondern sich dieser Unterdrückung auch bewusst ist: the most oppressed political subject.
Diese Binarität – der Begriff »Dichotomie« ist kein Teil unserer Analyse, sondern taucht in den jeweiligen Texten an wichtiger Stelle auf – erklärt auch sehr einfach, wer für den »Non-Citizen« auf der anderen Seite der Barrikaden steht, nämlich: alle anderen. Denn diese gehören zumindest zu den »Profiteuren« der Unterdrückung. Eine moralisierende Deutung, die den Critical-Whiteness-Diskurs über »weiße Privilegien« fortsetzt. Diese zu teilen und der Bewegung zur Verfügung zu stellen, ist damit der einzig mögliche Beitrag zur Bewegung der »Non-Citizens«.
Diese manichäische Perspektive hat politische Konsequenzen auch in der Form der Organisation. Die Bewegung ist in zwei Plena gespalten, nämlich jenes der »Non-Citizens« und jenes der »Citizens«. Letztere bevorzugen jedoch die Selbstbeschreibung »Supporter« oder »Unterstützer«. Gemeinsame Plena aller Beteiligten finden in der Regel nicht statt, und das Plenum der »Supporter« beschränkt sich auf die technische Umsetzung politischer Entscheidungen des Plenums der »Non-Citizens«. Diese Form der Arbeitsteilung ist politisch gewollt. Während des Hungerstreiks am Rindermarkt in München kursierte ein sogenannter »Supporter Codex«, der den »Supportern« untersagte, Entscheidungen der »Non-Citizens« in Frage zu stellen oder auch eigenständige Solidaritätsaktionen durchzuführen.

Es geht hier nicht darum, das Prinzip der getrennten Plena und den strategischen Separatismus zu problematisieren. In der Geschichte der Kämpfe um Teilhabe, Gleichheit und Freiheit ist die Stra­tegie des consciousness raising, des Sichtbarmachens eines die Gesellschaft prägenden Ungleichverhältnisses, nicht neu. Das Thematisieren und Problematisieren der Verhältnisse ist immer Teil emanzipatorischer Politik. In diesem Sinne hat auch immer die Frage der Autonomie eine große Rolle gespielt, also die Schaffung von Wissens- und Politikformen, in denen ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis artikuliert wird.
Die Vision autonomer politischer Organisationsstrukturen für und von Migrantinnen und Migranten, Geflüchteten und Sans Papiers in den antirassistischen Kämpfen hat eine lange Geschichte in Deutschland. Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten wurde 1998 in Bremen aus der Krise der migrantischen Selbstorganisation heraus geboren. Der hohe Organisationsgrad der neunziger Jahre sollte in einen neuen Kontext überführt werden, der sich nicht primär als Widerstand gegen den rassistischen Naziterror definieren ließ. Die Karawane bündelte viele lokale Initiativen, um so zum Kristallisationspunkt einer neuen Bewegung zu werden. Die organisatorische Konzeption als Modell für die anvisierte bundesweite Organisierung versuchte die lokalen, multinational zusammengesetzten Flüchtlingslager-Komitees zu verallgemeinern und war somit das Gegenstück zu den deutsch-mononationalen Flüchtlingsräten von Pro Asyl.
Mit einer anderen Schwerpunktsetzung als die ambulante »Bleiberechtskampagne« der Karawane begann die Residenzpflichtkampagne von The Voice und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg. Ausgehend von der Skandalisierung einer im europäischen Migrationsregime einmaligen Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und getragen von der Idee der Politisierung und Organisation des alltäglichen Regelbruchs gegen eine nicht hinnehmbare Schikane, gipfelte die Kampagne 2002 in einer einmaligen Demonstration in Berlin. Für drei Tage wurde der Schlossplatz in Berlin-Mitte zum Domizil für Flüchtlinge und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer. Die Aktionstage endeten mit einer bundesweiten Demonstration mit über 3 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Ein wichtiges Ziel wurde dabei erreicht: Flüchtlinge, die sonst zumeist in abgelegenen Heimen leben müssen, eigneten sich Schritt für Schritt den Berliner Schlossplatz an und unterliefen dabei die Residenzpflicht. Die meisten Flüchtlinge kamen ohne Urlaubsschein nach Berlin. Die sonst übliche Verfolgung dieser »Ordnungswidrigkeit« wurde von den Behörden für die Dauer der Aktion »Refugees Reclaim the Streets« toleriert. Vom Standpunkt der Organisation und Selbst­repräsentation der Migrantinnen und Migranten aus gesehen, gelang es damals, einen politischen Diskurs mit breiter Mobilisierung der Flüchtlingscommunities zu etablieren, in dem die eigenen Erfahrungen von Inhaftierung und Entrechtung im Zusammenhang mit der Kritik der interna­tionalen Arbeitsteilung gedacht werden konnten.
Jede Neuordnung antirassistischer Milieus erfordert neue reflexive Konzeptionen des eigenen Handelns. So auch die gegenwärtigen »Refugee Strikes« in Europa und in Deutschland. Wir möchten uns daher der Frage widmen, ob die Dichotomie »Citizen/Non-Citizen« geeignet ist, ­einen solchen Impuls auszulösen. Dabei interessiert uns diese Frage im Zusammenhang mit den antirassistischen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte in Europa und Deutschland, und wir stellen damit die Frage, wie eine antirassistische Politik aussehen kann, die unterschied­liche gesellschaftliche Positionen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten möglichst produktiv verbindet.

Problematisch an der Dichotomie »Citizen/Non-Citizen« ist aus unserer Sicht, dass sie anders als die Kategorien race, class und gender den Blick nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse richtet, sondern letztendlich vorgefundene Kategorien des Ausländerrechts reproduziert und damit auch festschreibt. Denn in der Beschwörung jener Dichotomie wird der Begriff des »Citizen« in seiner bürgerlich-normativen Faktizität als Statuskategorie wahrgenommen. Doch sogar in den Citizenship and Refugee Studies wird längst von acts of citizenships ausgegangen, also von den gelebten und erkämpften Räumen der jeweiligen Politik der Zugehörigkeit. »Citizenship« wird selbst hier also nicht als Status (von Priviligierten versus Deprivilegierten), sondern als gesellschaftliches Verhältnis verhandelt.
Nicht »Citizenship«, sondern postkoloniale Postnationalität ist heute der Impetus der Migration in Europa. Sie versucht, eine politische Praxis zu etablieren, in der soziale Akteure ihren normalisierten Repräsentationen entfliehen, sich im Akt dieser Flucht rekonstituieren und dabei die Bedingungen ihrer materiellen Existenz verändern.
Es ist der Funken der Banlieues, der die Planungssicherheit der Architekten des Integrationsterrors in Brand setzt. Anstatt wahrnehmbar, sichtbar und identifzierbar zu sein, setzt die Migration eine neue Form des Politischen und eine neue Formierung der politischen Subjektivität auf die Tagesordnung.

So beginnen wir allmählich zu verstehen, was Hannah Arendt und im Anschluss Judith Butler meinten, wenn sie vom »Recht auf Rechte« sprachen: »Dieses allererste Recht würde von keinem Staat jemals bewilligt werden, nicht einmal die Petition würde zugelassen. Das zweite Set von Rechten besteht in jenen Rechten, die durch eine wie auch immer geartete Rechtsstaatlichkeit au­torisiert werden. Aber mir scheint, das Recht auf Rechte, bei dem das erste hervorgehoben wird, eines zu sein, das noch nicht durch das Gesetz garantiert ist, aber dennoch kein ›natürliches‹ ist. Außerhalb jeglicher Gesetzlichkeit fordert es rechtlichen Schutz und Garantie. (…) Eine Freiheit auszuüben und eine Gleichheit gerade gegenüber einer Autorität geltend zu machen, die beides ausschließt, heißt zu zeigen, wie Freiheit und Gleichheit sich jenseits ihrer positiven Artikulationen bewegen können und müssen. (…) Diese Forderung nach Freiheit zu stellen bedeutet, bereits mit ihrer Ausübung zu beginnen und hinterher ihre Legitimation zu verlangen, es bedeutet, die Lücke zwischen Ausübung und Verwirklichung zu verkünden und beides auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, das die Lücke sichtbar wird und zu mobilisieren vermag.« (Judith Butler, Gayatri Spivak: »Sprache, Politik, Zugehörigkeit«, Zürich und Berlin 2007, S. 45–47)
Dieser Widerspruch stellt einen Wechsel auf die Zukunft aus. Diese andere Gesellschaft existiert bereits. Postnationale Bürgerschaft ist eine mögliche Antwort auf die Krise der Souveränität und der hochmilitarisierten Grenz- und Migrationsregime. Ein Asylantrag ist ein Antrag auf die Teilhabe an den sozialen Rechten Europas. Eine vielleicht unauflösliche Verschränkung von Unterwerfung und gleichzeitigem »Verlangen nach Existenz« (Butler 2007).