Der AfE-Turm in Frankfurt soll abge­rissen werden

Bye, bye Elfenbeinturm

Nach 40jährigem Bestehen wird der AfE-Turm der Frankfurter Goethe-Universität abgerissen. Einige Studierende trauern um das hässliche Stahlbetonmonstrum. Warum eigentlich?

Porno statt Adorno«, »Bagel statt Hegel«, »Bildung ist Luxus, Luxus für alle« – diese und viele weitere Parolen schmückten die Wände im Innenraum des Frankfurter AfE-Turms, auf denen Studierende auch ihr »Recht auf Faulheit« einforderten und sich so gegen die Diktatur der weißen Wand auflehnten, die mittlerweile zum Konsens des deutschen Universitätsbetriebs geworden ist.
Bis Mai beherbergte der AfE-Turm auf dem Campus Bockenheim die Büros und Seminarräume der Fachbereiche für Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften. Die Innenräume waren heruntergekommen, die sanitären Einrichtungen seit Jahren nicht restauriert worden, und wer sich in den vergangenen vier Jahrzehnten hier aufhalten musste, kann von Glück sagen, dass nie ein größeres Feuer ausgebrochen ist. Ganz zu schweigen von den abgenutzten orangefarbenen Linoleumböden, den geschmacklosen Teppichen und der regelmäßig wiederkehrende Frage, wer eigentlich für die abstoßenden Farbkombinationen verantwortlich ist, die das gesamte Gebäude prägten und jedem schon beim ersten Durchqueren Kopfschmerzen bereiteten. Immerhin trägt ­die Universität den Namen eines Mannes, der sich viel auf seine »Farbenlehre« einbildete.
Das Gebäude wurde für 2 500 Personen konzipiert. Wie viele Menschen sich hier in den Stoßzeiten tatsächlich aufhielten, weiß wohl niemand genau. Der AfE-Turm – das Kürzel steht für »Abteilung für Erziehungswissenschaft«, für eine Abteilung, die nie in das Hochaus einzog, da sie vor dessen Eröffnung bereits wieder geschlossen wurde – war ganz offenkundig versifft und überfüllt. Gerade dieser Zustand aber lud dazu ein, sich den Turm anzueignen. In den vergangenen Jahrzehnten hat es wohl keine Studentengeneration gegeben, die nicht miterlebt hätte, wie der Turm besetzt wurde. Es gab darin selbstverwaltete Räume wie das TuCa (Turm Café), das im Januar 2007 in den fünften Stock zog, nachdem es 2002 polizeilich geräumt worden war, um Platz für ein Café des Studentenwerks zu schaffen. In der Zwischenzeit kam das TuCa im nun ebenfalls geräumten Institut für vergleichende Irrelevanz (IvI) unter. Hier wurde geraucht, sogar sehr viel geraucht. Und da es keine Fenster gab, die man hätte öffnen können, hat man das auch bald gemerkt.
Seit Mai steht das Gebäude nun leer, das gesamte Erdgeschoss ist mit Stacheldraht und Bauzäunen verbarrikadiert. Eigentlich war dort nach dem Auszug der letzten Fachbereiche ein Kunstprojekt geplant, das sich mit der bruta­listischen Architektur des AfE-Turms auseinandersetzen sollte. Ausstellung und Symposium wurden aber kurzfristig abgesagt, weil die städtische AGB Frankfurt Holding, die vor zwei Jahren den AfE-Turm vom Land Hessen erworben hatte, befürchtete, das Gebäude könne besetzt werden, und sich weigerte, die Sicherheitskosten zu tragen, die für die Durchführung des Projekts angefallen wären. Die Furcht rührte wohl vor allem daher, dass kurz vor dem geplanten Projektbeginn das benachbarte ­IvI polizeilich geräumt worden war (Jungle World 18/2013).
Das Areal rund um den AfE-Turm soll künftig zum »Kulturcampus Bockenheim« gehören, einem Großprojekt, das auf dem Gebiet des ehemaligen Campus Bockenheim entstehen soll. Hier werden sich die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und andere kulturelle Einrichtungen niederlassen. Für die gehobene grüne Mittelschicht Bockenheims entstehen in der Nachbarschaft derzeit bereits 114 neue Miet- und 79 Eigentumswohnungen in Passivbauweise und 267 weitere Autostellplätze. Zudem wird über den Bau neuer Büros und Hochhäuser nachgedacht – günstiger Wohnraum ist nicht vorgesehen. Daran ändert auch die Bürgerbeteiligung, mit der das Projekt wirbt, vorerst nichts.
An den Wänden des AfE-Turms fanden jahrelang politische Diskussionen statt, die einen manchmal zum Nachdenken, meist aber zum Schmunzeln brachten. Auch diese Konversa­tionen sollten jedoch zum kulturellen Erbe der Stadt Frankfurt gezählt werden. Denn wo findet man sonst Aufforderungen wie an diesen Turmwänden: »Euch Künstlerschweinen sollte man die Brillen von der Nase schlagen!« Nicht zu verachten war auch der Ausblick von den oberen Stockwerken: die Skyline, das bürgerliche Westend und das Messegelände. Man blickte also, während man eine Zigarette rauchte, auf das, was im PR-Jargon »Mainhattan« heißt. Aber wo noch Veranstaltungshinweise aus den achtziger Jahren hingen, interessierte das wirklich niemanden.
Seit knapp einem Jahr prangt an der Spitze des 116 Meter hohen Gebäudes nun auch die Aufschrift »Elfenbein«. Elfenbeinturm – das Symbol für eine bildungsbürgerliche Schöngeistigkeit, die so gar nicht zu dem Stahlbeton­skelett und seinem Innenleben passt. Und doch bringt kaum ein anderes Bild, kaum ein anderes Bauwerk treffender zum Ausdruck, was kritische Theorie in Frankfurt einst hieß. Schon die Architektur dieses Stahlmonstrums sperrt sich gegen jeden Verdacht, hier solle der Mensch zur Verwertbarkeit erzogen werden. Erst vergangen Sommer musste der AfE-Turm aufgrund eines Wasserschadens eine ganze Woche lang außer Betrieb genommen werden. Der Universitätsalltag kam in dieser Zeit praktisch zum Erliegen.
Die Opposition zu einer Gesellschaft, die auf Leistungs- und Zeitdruck basiert, fand ihren konsequenten Ausdruck in den Aufzügen des Turms. Es gab zwar fünf größere, aber höchstens zwei funktionierten, und auch die hielten längst nicht in allen Stockwerken. Ein Schild wies darauf hin, dass vom 21. März 1991 an lediglich die Stockwerke 9, 17, 25 und 33 angefahren wurden. Wer zu einem Seminar hoch oben musste, sagte sich also schon im Eingangsbereich: »Hier bin ich Mensch, hier kann ich’s sein!«, ergänzt um »Hier habe ich Zeit und immer eine gute Entschuldigung fürs Zuspät­kommen«. Wer sich dennoch in Selbstoptimierung üben wollte, konnte ja die Treppe nehmen. Was in den Stoßzeiten oft sogar schneller ging, denn so manches Mal wartete man bis zu 20 Minuten lang auf den Fahrstuhl. Außer freitags, da war es meist angenehm menschenleer im AfE-Turm. Viele nahmen die Treppen auch aus Furcht vor den Aufzügen, die regelmäßig steckenblieben. Hing man zwischen den Stockwerken fest, wurden die Gesichter der Insassen blass, und es war immer jemand dabei, der die Geschichte von der tödlich verunglückten Universitätsmitarbeiterin erzählte: Es geschah am 9. August 2005, der Aufzug war wieder einmal steckengeblieben. Nachdem der Pförtner die Außentüren in beiden Stockwerken geöffnet hatte, bekam die Sekretärin Panik. Bei dem Versuch, sich durch die untere Öffnung zu zwängen, fiel sie in den Aufzugschacht und starb.
Der marode Turm hat also tatsächlich ein Todesopfer gefordert. Spätestens angesichts dieser Geschichte muss man die Frage stellen, warum eigentlich Studierende dieser Todesfalle hinterhertrauern, warum der AfE-Turm in der jungen Vergangenheit Jutebeutel zierte und eine Dozentin ihre Studierenden dazu aufforderte, ihre liebsten »Turmgeschichten« aufzuschreiben und einzusenden. Um die Nostalgie zu verstehen, die viele für den AfE-Turm empfinden, ist es wichtig, sich die Geschichte des Baus und damit auch der Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt nach dem Nationalsozialismus zu vergegenwärtigen. 1951 wurde das von den Nazis geschlossene Institut für Sozialforschung wiedereröffnet. Einige Exilanten kehrten aus den USA zurück nach Frankfurt am Main, unter ihnen Max Horkheimer, der im selben Jahr zum Rektor der Universität ernannt wurde. Horkheimer konnte Theodor W. Adornos Jugendfreund, den Architekten Ferdinand Kramer, davon überzeugen, ebenfalls nach Frankfurt zurückzukommen und die Bauleitung der Universität zu übernehmen. Kramers Architektur­verständnis war funktionalistisch, die meisten Gebäude des Campus Bockenheim basieren auf einem Stahlbetonskelett, das tragende Wände größtenteils überflüssig machte und er­möglichte, die Räume an veränderte Gegebenheiten anzupassen. Kramers Konzeption einer »demokratischen Hochschule« war eine Provokation für viele Ordinarien der Universität. So ließ er zunächst das neobarocke Portal des Jügelhauses – damals noch Hauptgebäude der Universität – abreißen und ersetzte es durch Glastüren, um Funktionalität und Transparenz zu ermöglichen. Das Rektorat verlagerte er ins Erdgeschoss. Für Horkheimer ließ Kramer auch einen Schreibtisch entwerfen, den dieser aber umgehend durch Gelsenkirchener Barock ersetzte.
Doch die Goethe-Universität war Anfang der fünfziger Jahre kein Ort, an dem eine »Erziehung nach Auschwitz«, wie Adorno sie forderte, konsequent betrieben wurde. Das zeigte sich schon daran, dass die Lehrstühle wieder mit alten Kadern aus Zeiten des Nationalsozialismus besetzt wurden. Dass jüdische Exilanten nach ihrer Rückkehr an diese Universität überhaupt in bedeutende Positionen gelangen konnten, war Ergebnis eines Kompromisses, bei dem sie der Universität auch als Feigenblatt dienten. Mindestens bis zu den Studentenunruhen 1968 lehrten Vertreter der kritischen Theorie und ehemalige Nazis gleichzeitig am selben Ort. Zu dieser Zeit befand sich der AfE-Turm bereits in Planung, 1972 wurde er nach zweijähriger Bauzeit fertiggestellt und war für kurze Zeit das höchste Gebäude der Stadt. Der Einzug der Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften hatte Symbolcharakter und erinnerte auch später stets an jenen kurzen Zeitraum, in dem die Gesellschaftswissenschaften in einem Maß öffentlichen Einfluss ausüben konnten, wie es danach nie wieder möglich sein sollte.
So manchem Frankfurter gilt der AfE-Turm als Schandfleck. Nachdem Frank Junker, Vor­sitzender der AGB Frankfurt Holding, ihn als »Störfaktor im Stadtbild« bezeichnet hatte, konterte eine Soziologiestudentin: »Natürlich war der Turm ein hässliches Gebäude. Aber es war unser hässliches Gebäude, ein hässliches Gebäude, in dem wir machen konnten, was wir wollten.« Tatsächlich wird wohl niemand dem Gebäude nachtrauern, weil es so schön und praktisch war. Die einzig gerechtfertigte Begründung der Nostalgie ist, dass der AfE-Turm als Materialisierung kritischer studentischer Kultur verstanden werden konnte. Er war ein Symbol für die Erziehung zur Mündigkeit, erinnerte jeden daran, auch die Entwicklungen im Universitätsbetrieb mit Skepsis zu betrachten, und fügte sich, anders als sein Nachfolger, der Campus Westend, nicht einfach in den Zeitgeist.
Der neue Campus ist die Architektur gewordene Bologna-Reform, Ausdruck einer Erziehung zur Verwertbarkeit und Marktkonformität. Die demokratische Architektur Kramers wird durch einen neoklassizistischen Repräsentationsbau ersetzt, der die Entwicklung der Universität hin zu einem durch Drittmittel finanziertem Dienstleistungsunternehmen veranschaulicht. Das »House of Finance« wird durch Sicherheitspersonal und Kameras überwacht, wer den »Deutsche Bank Hörsaal« betreten will, muss bereit sein, sich Kontrollen zu unter­ziehen.
Anfang dieses Semesters sind auch die Fakultäten für Psychologie, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften in ein Gebäude auf dem Campus Westend gezogen. Es kam dabei, gelinde gesagt, zu Integrationsschwierigkeiten. Bereits in den ersten Wochen entstanden Sachschäden in sechsstelliger Höhe. In einem Schrei­ben, das der Universitätspräsident den Studierenden im Anschluss zukommen ließ, weist er darauf hin, wie viele Tutorien man für diesen Betrag hätte schaffen können. Seitdem gibt es auch die Facebook-Gruppe »Pro-Westend« mit über 2 000 Likes. Ihr Ziel ist es, »die Graffiti, Tags und Aufklebermassen auf dem öffentlichen Unigelände zu begrenzen und für Aufklärung unter den Studenten zu sorgen«. Es handele sich um Vandalismus, nicht um politische Meinungsäußerungen. Im AfE-Turm hätte es eine solche Gruppe höchstens als dadaistisches Kunstprojekt gegeben. Und genau deshalb trauern manche Studierende dem Stahlbetonmostrum hinterher.