Das jüdische Viertel in Budapest

Jüdisch hip

Im Jüdischen Viertel in Budapest treffen jüdische Geschichte und Gegenwart, Subkultur und Kommerz aufeinander. Was geht, was bleibt?

Vor der neologen Synagoge am Theodor-Herzl-Platz steht eine lange Menschenschlange. Für die Besichtigung der größten Synagoge Europas muss eine Eintrittskarte gelöst werden. Das »Jüdische Viertel« im VII. Bezirk Budapests ist wegen seiner historischen Bauten und Ausgehmöglichkeiten ein beliebtes Touristenziel. Doch mit seinen zahlreichen Synagogen, koscheren Geschäften und Restaurants, jüdischen Schulen und Kulturzentren bleibt das Viertel auch ein wichtiges Zentrum für jüdisches Leben in Ungarn.
Dazu hat es sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt, als Jüdinnen und Juden über die Donau in die Gegend außerhalb der Stadtmauern auf die Pester Seite Budapests zogen. Innerhalb der Stadtmauer war ihnen eine Ansiedlung jahrhundertelang verboten, erst 1867 wurden sie im Habsburgerreich der restlichen Bevölkerung rechtlich gleichgestellt. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten zwei Drittel der 200 000 Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung Budapests in Erzsébetváros und Terézváros, dem VII. und VI. Bezirk. Auch wenn dort in einigen Gegenden mehr als die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, blieben sie stets gemischte Viertel, in denen auch zahlreiche andere Minderheiten lebten. Von den über 800 000 Jüdinnen und Juden, die vor 1945 im damaligen Ungarn lebten, überlebten jedoch nur knapp 200 000 die Shoa. Unter der deutschen Besatzung und den Pfeilkreuzlern wurde das Jüdische Viertel zum Ghetto, in dem Zehntausende an Hunger, Krankheit und direktem Mord starben.

Inzwischen leben noch fast 100 000 Jüdinnen und Juden in Ungarn, der Großteil davon in Budapest. Anfang der Neunziger blühte das jüdische Leben wieder auf, erzählt die Soziologin Eva Bognar. Nach dem Ende des Realsozialismus wollten sich viele wieder stärker mit ihrer jüdischen Identität auseinandersetzen. Die Großelterngeneration habe nicht über den Horror der Shoa reden wollen und die Elterngeneration während der realsozialistischen Ära kaum etwas über jüdische Kultur erfahren, so Bognar, die selbst aus einer jüdischen Familie kommt. Viele junge Jüdinnen und Juden versuchen heute, ihr Jüdischsein neu zu definieren. Die negativ durch den Antisemitismus bestimmte Identität soll einer positiven weichen. Bei den zahlreichen jüdischen Musik- und Kulturfestivals und anderen kulturellen Aktivitäten stehe der Spaß und das Hipsein im Vordergrund, sagt Bognar. Des Weiteren gibt es verschiedene Blogs der jüdischen Gemeinde, etwa »Judapest«, die sich vor allem an junge Menschen richten. Auch junge, moderne Rabbis bemühen sich darum, eine positive jüdische Identität zu stärken. Als traditionell orthodox gelten nur rund 50 Familien im Jüdischen Viertel.
Zwar existiere Antisemitismus natürlich weiterhin, doch für den Alltag in Ungarn sei dieses Problem nicht so bedeutend wie beispielsweise die schlechte wirtschaftliche Lage, meint Bognar. Auch Andrea Ausztrics von der jüdischen Kulturorganisation Marom meint, die antisemitischen Ausfälle führender ungarischer Politiker hätten wenig Einfluss auf das tägliche Leben, antisemitisch motivierte Überfälle gebe es beispielsweise selten. In Gesprächen staune sie jedoch immer wieder, wie viele Ungarinnen und Ungarn plötzlich mit antisemitischen Klischees aufwarten, und verbale Beschimpfungen habe sie auch schon oft ertragen müssen.
Die politische Situation sei natürlich schlimm, man sitze aber nicht auf gepackten Koffern, bestätigt Ádám Schönberger, der Leiter von Marom. Das jüdische Leben gedeihe in Ungarn nicht unbedingt, wie gerne behauptet, verschwinde aber auch nicht. Zwar würden viele aus ihrem Bekannten- und Freundeskreis das Land vor allem in Richtung Israel, Amsterdam und Berlin verlassen, trotz des Antisemitismus sei dafür aber die ökonomische Situation ausschlaggebend gewesen, sagen Ausztrics und Schönberger.

Marom versteht sich als multikulturell. Im von der jüdischen Organisation einst betriebenen Kulturzentrum Sirály lief zusammen, was das Jüdische Viertel für viele heute so attraktiv macht: jüdische Kultur und Subkultur. Mitte der nuller Jahre besetzte Marom zusammen mit einer Gruppe für unabhängiges Theater ein leerstehendes Gebäude in der Király utca im Jüdischen Viertel. Die Besetzerinnen und Besetzer machten sich die unklaren Besitzverhältnisse aufgrund eines Rechtsstreits, den der Bezirk mit dem Eigentümer des Gebäudes führte, zunutze. So wurde ein wichtiger Ort für unabhängige Kultur in Budapest geschaffen.
Bereits die sozialistische Bezirksregierung wollte die Besetzung nicht dulden, der Rechtsstreit erschwerte jedoch eine Räumung. Mit der folgenden konservativen Bezirksregierung wurde schließlich über einen Mietvertrag verhandelt. Da sich das Sirály in seinen letzten Monaten von einem Zentrum verschiedenster NGOs und kultureller Initiativen auch zu einem Treffpunkt der im vergangenen Winter protestierenden Studierenden entwickelt hatte, brach die Regierung die Verhandlungen ab. Im März diesen Jahres wurde das Sirály geräumt, als Grund wurde nur die illegale Besetzung genannt. Dass Kritik an der Regierung und Selbstorganisation unterbunden werden sollte, ist aber wahrscheinlicher. Inzwischen hat Marom einen neuen Ort für ein Kulturzentrum gefunden, in einem Gebäude, dessen vormaliger Besitzer Abgaben für die Immobilie nicht zahlen konnte. Die unabhängige Theatergruppe residiert inzwischen im Hátsó Kapu, unweit der orthodoxen Synagoge.
Bei einem Streifzug durch das Jüdische Viertel und dessen Umgebung sieht es auf den ersten Blick eigentlich so aus, als gebe es hier eine lebendige Besetzer- und Subkultur. An jeder Ecke lädt ein sogenannter Ruinenpub mit künstlerischem Flair in seinen Biergarten. Geboten werden Kunst und Kitsch in charmanten, abbruchreifen Gebäuden. Zwar stehen viele Häuser in der Gegend leer, Besetzungen sind aber kaum noch möglich. Ein ehemals von Punks besetztes Gebäude ein paar Häuser vom Sirály entfernt ist auch bereits vor längerer Zeit geräumt worden.
Die meisten Ruinenpubs imitierten die Besetzerkultur nur, meint János Sugár, Konzeptkünstler und Kunstdozent an der ungarischen Akademie der bildenden Künste in Budapest. Auch aufgrund der Kulturpolitik der ungarischen Regierung (siehe Dschungel-Seiten 6-7) gebe es nur noch wenige Orte für unabhängige Kultur. Als Beispiele im Jüdischen Viertel nennt er das Hátsó Kapu und Zöldséges, einen Gemüseladen, der für Veranstaltungen schnell umgebaut werden kann. Sugár hat schon immer in dem Viertel gewohnt und sieht die städtische Entwicklung kritisch. Anfang der Neunziger gab es noch Technopartys und viel Subkultur in den abbruchreifen Gebäuden. Auch entstanden die ersten Ruinenpubs, wie der Szimpla Kert, tatsächlich aus der Subkultur, inzwischen sei das Geschäft jedoch absolut kommerziell. Schlaue Unternehmer hätten das Potential der Ruinenpubs entdeckt, eigentlich seien sie »für Touristen und reiche Kids aus Buda«, sagt Sugár, und viel zu teuer für die lokale Bevölkerung. Das Ganze ähnele einer Filmkulisse.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war ungefähr die Hälfte der Gebäude in Budapest zerstört. Es gab zwar ehrgeizige Aufbaupläne, oft wurden aber nur die Fassaden renoviert. Während des Realsozialismus verfielen viele alte Gebäude weiter. Nach der Wende wurde ein großer Teil der einst kommunal verwalteten Gebäude privatisiert. Das Jüdische Viertel war nie ein besonders reiches Viertel, es gab viele Sozialbauwohnungen, die Nähe zum Zentrum machte die Grundstücke jedoch attraktiv. Viele alte Gebäude wurden daher abgerissen, um moderne Häuser mit mehr Stockwerken zu errichten.
Indirekt verdanken die Ruinenpubs ihren Aufstieg auch der Korruption und der Immobilienspekulation. Einige Bezirkspolitiker wollten beim Stadtumbau nicht leer ausgehen, wie ein vor einigen Jahren aufgedeckter Korruptionsskandal um Immobilienverkäufe zeigte. Im Februar 2012 wurden der ehemalige Bezirksbürgermeister des VII. Bezirks, György Hunvald, und andere Personen unter anderem wegen Amtsmissbrauchs, Unterschlagung öffentlicher Gelder und Betrugs verurteilt. Zwischen 2002 und 2009 sollen sie Immobilien des Bezirks unter Wert an Briefkastenfirmen verkauft haben, um sie später teurer weiterzuverkaufen. In anderen Bezirken soll es ähnlich gelaufen sein. Nach der Aufdeckung des Korruptionsskandals standen, da zudem die Finanzkrise den ungarischen Immobilienmarkt traf, viele Gebäude des Bezirks leer. So kamen die Betreiber einiger Ruinenpubs günstig an Zwischennutzungsverträge.
Ständig werden neue Kneipen und Restaurants in den beliebten Ausgehbezirken eröffnet. In ein paar Jahren werde es hier dann wie im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg aussehen, meint Schönberger. Für die alten Anwohnerinnen und Anwohner bedeutet die Aufwertung des Viertels jedoch nicht unbedingt eine Verdrängung aufgrund steigender Mieten wie beispielsweise in Berlin. Denn nicht nur korrupte Politiker erwarben Immobilien, auch viele Ungarinnen und Ungarn konnten nach der Wende Wohneigentum kaufen. Einige stehen heute eher vor dem Problem, dass sie die Hypothekenraten oder Neben- und Heizkosten in den oft maroden Häusern nicht mehr aufbringen können. Inzwischen stehen viele historische Bauten zwar unter Denkmalschutz, vor dem Verfall schützt das aber nicht. Alle Wohnungseigentümer müssten gemeinsam für eine Renovierung aufkommen, dazu reiche meist das Geld nicht, da die Realeinkommen seit Jahren sinken, meint Schönberger, der selbst in einem alten Haus im Jüdischen Viertel wohnt.
Für einige Ungarinnen und Ungarn werde die Gegend aufgrund der Touristenströme inzwischen unattraktiv, sagt er. Ihre Eltern, die schon immer im Jüdischen Viertel lebten, hätten Angst um ihr Auto und beschwerten sich über die Urinpfützen, die betrunkene Touristen im Hauseingang hinterlassen, pflichtet Ausztrics ihm bei, Wegziehen wollten sie jedoch nicht, wegen der sozialen Kontakte. Für junge Menschen aus dem Westen seien die Mieten und Immobilienpreise im Jüdischen Viertel noch so attraktiv, dass sie in Scharen herzögen, sagt Schönberger. Darunter sind übrigens auch einige Jüdinnen und Juden. Junge Ungarinnen und Ungarn ohne Wohneigentum hingegen ziehen inzwischen lieber in günstigere Bezirke Budapests. Und auch die Subkultur zieht weiter, so ist beispielsweise die Kneipe Gyula im VIII. Bezirk so gut in der Plattenbaugegend versteckt, dass sie für Touristenaugen fast unentdeckt bleibt.