Antiziganismus in Ungarn

Deklassiert und verhasst

Rechtsextreme Aufmärsche und abgestelltes Trinkwasser: Der Hass auf und die Gewalt gegen Roma in Ungarn sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Die antiziganistische Stimmung wird aber nicht nur von Rechtsextremen geschürt.

Den Ergebnissen der Volkszählung von 2012 zufolge leben 315 583 Roma in Ungarn. Geht man hingegen von den Schätzungen des Europäischen Rats aus, sind es 700 000, knapp ein Zehntel der ungarischen Bevölkerung. Bei der Volkszählung gaben die Befragten ihren Status allerdings selbst an und die meisten wollten eben eines nicht sein: Romni beziehungsweise Rom in Ungarn. Denn die Diskriminierung seitens der Mehrheitsgesellschaft ist massiv, ebenso wie die Benachteiligung beim Zugang zu Ressourcen.
Das zeigt sich in allen Lebensbereichen: So liegt die Lebenserwartung der Roma gegenwärtig etwa zehn Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt und die Säuglingssterblichkeit ist doppelt so hoch wie bei Nicht-Roma. Eine drastische Diskriminierung gibt es nicht nur bei der medizinischen Versorgung, sondern auch bei Bildung, Beschäftigung und insbesondere auf dem Wohnungsmarkt.

Viele Roma leben in Budapest und in der nordöstlich gelegenen Stadt Miskolc – meist in den Randbezirken. Die Gentrifizierung hat viele Roma aus den Zentren vertrieben. Budapests einst als »Roma-Ghetto« bezeichneter 8. Bezirk ist nach Abrissen und Neuaufbau nun weitgehend der Hamburger Hafencity vergleichbar.
Die Mehrheit der Roma aber lebt in den äußerst armen Komitaten, also Verwaltungsbezirken, Borsod-Abaúj-Zemplén und Szabolcs-Szatmár-Bereg im Nordosten des Landes. Dort gehören die Häuser der Roma oft nicht zur eigentlichen Ortschaft, sondern sind abgelegen in der sogenannten »Roma-Reihe« zu finden. Das ist mehr als nur ein Sinnbild für lang tradierte Ausgrenzung. Die Lebensumstände von Roma und Nicht-Roma in diesen Regio­nen vergleicht eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). Das Armutsrisiko für Roma ist demnach in diesen Landesteilen mehr als doppelt so hoch wie das von Nicht-Roma, Roma leben doppelt so häufig in einem Haushalt, in dem es keine Küche, Toilette, Dusche oder Strom gibt. Während zudem mehr als jeder dritte Rom und jede dritte Romni zumindest einmal im Monat hungrig schlafen ging, gilt das unter den Nicht-Roma »nur« für jeden Zehnten. »Verglichen mit den in ihrer unmittelbaren Nähe lebenden Nicht-Roma lassen sich erhebliche Unterschiede feststellen, wobei die Situation der befragten Nicht-Roma ebenfalls häufig besorgniserregend ist«, urteilt die FRA.
Es zeigt sich ein Bild der Armut, aller­dings mit graduellen Abstufungen. Denn selbst bei den ohnehin Abgehängten ist von der Existenz einer ethnisierten Unterschicht auszugehen. Wo zu realsozialistischen Zeiten die Schornsteine der Schwerindustrie rauchten, sind heute ganze Landesteile zu Brachen geworden. Dass Roma damals materiell besser gestellt waren, ist allgemein anerkannt – allerdings mit der Einschränkung, dass sie zwar absolut gesehen mehr Teilhabe genossen, relativ gesehen ihnen aber bereits zu jener Zeit die niedrigsten Positionen zukamen. Ressentiment und Vorurteil determinieren die Rangordnung, gestern wie heute.

Das virulente antiziganistische Hass- und Gewaltpotential wird bei der Auflistung all dieser ethnisierten Ausschlüsse noch gar nicht erfasst. Roma werden nicht nur marginalisiert, sondern auch schikaniert, was sich am eklatanten Ausmaß der rhetorischen wie praktischen Abwertung zeigt. So agitierte die militant rechte Jobbik mit ihrem Slogan der »Zigeunerkriminalität« weite Teile der ungarischen Mehrheitsgesellschaft. Die Partei bedient sich dabei aus dem Repertoire antiziganistischer Vorurteile und codiert ein Stereotyp der rassistisch zugeschriebenen Kleinkriminalität um. Zum ersten Mal tönte die Jobbik von der »Zigeunerkriminalität« 2006 im Kontext einer brutalen Tötung eines Nicht-Rom durch mehrere Roma nach einem durch das Opfer verursachten Verkehrsunfall im Ort Olaszliszka. Seitdem instrumentalisiert die Nazipartei pausenlos tragische Einzelereignisse. Für ihren aggressiven Antiziganismus erhielt sie nicht nur drei Mandate im Europäischen Parlament, sie erreichte 2010 auch knapp 17 Prozent der Stimmen bei den ungarischen Parlamentswahlen.
Der antiziganistische Jargon ist aber ebenso in der Mehrheitsgesellschaft zu finden. Den diffa­mierenden Aussagen des Journalisten und Fidesz-Mitglieds Zsolt Bayer stellt man besser eine Triggerwarnung vorweg: »Der Großteil der Zigeuner ist zum Zusammenleben nicht geeignet (…). Sie wollen sofort jeden ficken, den sie erblicken. Wenn sie auf Widerstand stoßen, morden sie (…). Diese Zigeuner sind Tiere, und sie benehmen sich wie Tiere. Sie sollen nicht existieren, die Tiere. Das muss man lösen – mit allen Mitteln!« Von der antiziganistischen Hassrede der Jobbik ist diese Position nicht zu unterscheiden. Bayer aber gilt als enger Freund von Ministerpräsident Viktor Orbán. Der Historiker Géza Jeszenszky schrieb in einem Universitätslehrbuch sinngemäß, es gebe so viele Behinderte unter den Roma, weil deren Kultur den Inzest zulasse. Weiterhin am­tiert Jeszenszky als Botschafter Ungarns in Norwegen. Und es war auch ein Fidesz-Bürgermeister, der im Sommer in der Ortschaft Ozd den Wasserdurchfluss der öffentlichen Brunnen kappte, so dass die örtlichen Roma keinen adäquaten Zugang zu Trinkwasser hatten – bei Temperaturen um 40 Grad. Gerade das letzte Beispiel zeigt, wie sich der strukturelle Ausschluss und die gesellschaftliche Feindseligkeit miteinander verbinden.
Auf diesem Wechselspiel baut auch die Praxis der inzwischen verbotenen, der Jobbik nahe stehenden Ungarischen Garde und ihrer Nachfolgeorganisationen auf. Seit sechs Jahren marschieren die militanten Rechten landesweit auf, zum Teil in Uniformen, die denen der Gendarmen gleichen, die während der Shoa die Deportation von Roma vollstreckten. Derzeit betreibt die Garde mit ihren bis zu 3 000 Mitgliedern eine beispiellose Symbol- und Machtpolitik, terrorisiert die ungarischen Roma und erobert sich immer weiter reichende Handlungsspielräume. Als beispielhaft dafür kann ihr mehrwöchiges Auftreten im Ort Gyöngyöspata gelten, wo die Garde 2011 zeitweise das Gewaltmonopol außer Kraft setzte und als Bürgerwehr ihre antiziganistische Rhetorik gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern in die Tat umsetzte (siehe Junge World 14/11, 18/11, 31/11 und 33/12).

Dass sich trotz erneuter gesetzlicher Verschärfungen und des Verbots der Garde im Jahr 2009 für die Rechtsextremisten derartige Handlungsspielräume ergeben, wirft ein schlechtes Licht sowohl auf die vorige wie auch die jetzige Regierung und die Arbeit der staatlichen Institutionen, insbesondere der Polizei. Dieser werden etwa im Rahmen der Ermittlungen zu der Serie der Morde an Roma in den Jahren 2008 und 2009, bei der sechs Roma starben und zahllose weitere schwer verletzt wurden, schwere Vorwürfe gemacht, denen erst jetzt erneut nachgegangen wird. Die Haupttäter wurden im August nach einem langwierigen Prozess zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.
Für die größte der 13 anerkannten ungarischen Minderheiten ist eine extreme Diskriminierung, deren Maßstäbe sich ständig verschieben, Normalität. Dafür sprechen auch mehre Gerichts­urteile, bei denen Roma für Gewalt an »ethnischen Ungarn« verurteilt wurden, und das mit Rückgriff auf die zum Minderheitenschutz eingeführte hate crime-Gesetzgebung. Ein weiteres Beispiel ist die von fulminanten Inklusionsversprechen begleitete nationale Umsetzung der europäischen Roma-Rahmenstrategie, mit der die Fidesz-Regierung zugleich ein gewaltiges Arbeits­pflichtregime etabliert und im Rahmen von harten Sanktionen zahllose Roma wie Nicht-Roma von jeglicher staatlicher Unterstützung aus­schließt.
Bis man in Ungarn wieder gerne Romni oder Rom ist, muss sich sehr vieles ändern. Derzeit sieht es nicht danach aus, weshalb viele das Land verlassen, in dem ihre Familien schon mehr als 600 Jahre leben.