Der griechische Staat geht gegen Nazis vor

Ein Mord zu viel

Nachdem ein antifaschistischer HipHopper erstochen wurde, lässt der griechische Staat die Führungsspitze der dafür verantwortlichen Nazipartei verhaften.

Wenn Syriza eine Regierungskoalition mit der Kommunistischen Partei KKE erwäge, meinte der bekannte regierungsfreundliche Journalist Babis Papadimitriou Anfang September auf SKAI-TV, dem zweitgrößten privaten Fernsehsender Griechenlands, solle die Nea Dimokratia (ND) die Zusammenarbeit mit einer »seriöseren (sic) Goldenen Morgenröte« (Chrysi Avgi, CA) prüfen. Schließlich, so schrieb er tags darauf, sei » Nationalismus keine Schande«.
Wenige Tage später überfielen Mitglieder der CA nahe dem Hafen Piräus eine Gruppe von KKE-Mitgliedern und schlugen neun von ihnen krankenhausreif. Der Angriff wurde im Zusammenhang mit Berichten gesehen, wonach die CA – mit bereitwilliger Unterstützung der Reeder – die von der stalinistischen KKE dominierte kämpferische Hafenarbeitergewerkschaft übernehmen will. Gewaltsame Angriffe sind der CA keineswegs fremd, wie Hunderte von Migranten bezeugen können, doch dies war das erste Mal seit ihrem Wahlerfolg von 2012, dass sie offen Linke attackierte.
Der nächste Fall ließ nicht lange auf sich warten. Am 18. September schaute Pavlos Fyssas, ein antifaschistischer HipHop-Musiker, mit einigen Freunden in einem Café ein Fußballspiel. Anwesend waren auch zwei Neonazis, und es kam zu einem Wortgefecht. Die Nazis machten einige Anrufe, und als Fyssas und seine Freunde das Café verließen, erwarteten sie draußen 30 Nazis. In der Folge stach einer von ihnen, Giorgos Roupakias, Fyssas ins Herz. Nun entschied auch eine rund 50 Meter entfernt stehende Gruppe von Polizisten, einzugreifen, denen Fyssas noch den Täter zeigen konnte, bevor er starb.
Da sofort klar war, dass die CA mit dem Angriff zu tun hatte, wurde für den folgenden Tag überall in Griechenland zu Demonstrationen aufgerufen. In dem Viertel, in dem Fyssas ermordet worden war, gingen mehr als 10 000 Menschen auf die Straße, mehrere hundert lieferten sich Aus­einandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei. In einem am selben Abend veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Neonazis Seite an Seite mit Polizisten Demonstranten angreifen.
Die von der ND dominierte Regierungskoalition brauchte 24 Stunden, um eine Erklärung zu dem Mord abzugeben. In der Zwischenzeit brachte Chrysanthos Lazaridis, ein zur extremen Rechten konvertierter ehemaliger Linker sowie Berater von Ministerpräsident Antonis Samaras, die »Theorie der zwei Extreme« wieder ins Spiel, indem er behauptete, mit ihren Reaktionen gössen Syriza und die gesamte Linke nur Öl ins Feuer. Der Mord sei selbstverständlich verabscheuungswürdig, so Lazaridis, doch die darauf folgende linke Gewalt zeige nur, dass die gesellschaftliche Norma­lität (lies: die Sparpolitik) von den Linken genauso wie von den Neonazis bedroht werde.
Doch in seiner offiziellen Erklärung am Tag darauf schlug Samaras erstaunlicherweise geradezu antifaschistische Töne an: Die Demokratie verfüge über die gesetzlichen Mittel, um »das Übel des Nazismus« zu bekämpfen, das »unser gesellschaftliches und politisches Leben vergiftet«. Am selben Tag legte der Minister für öffentliche Ordnung, Nikos Dendias, ein berüchtigter Hard­liner, dem obersten Gerichtshof einen Bericht über 32 Straftaten vor, in die die CA verstrickt sei. Damit sollte belegt werden, dass die CA eine »kriminelle Organisation« ist, ein Vorwurf, der dem Staat Anti-Terror-Gesetzen zufolge das Recht gibt, ihre Mitglieder zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen, selbst wenn sie dem Parlament angehören.

Bis zu dem Mord hatte der Staat die Nazis ausgesprochen nachsichtig behandelt, ja ihre migrantenfeindliche Rhetorik teilweise in Regierungspolitik umgesetzt, und es gab Belege dafür, dass etwa die Hälfte der Polizisten mit den Nazis sympathisiert, teils sogar bei ihnen aktiv ist. Die Mehrheit der Linken und der anarchistischen Szene deuteten die plötzliche Kehrtwende daher als Heuchelei, als ein Ablenkungsmanöver infolge des Mordes – immerhin war Fyssas Grieche und nicht Einwanderer –, das bald vergessen sein werde, wenn sich die mediale Aufmerksamkeit wieder legt.
Doch während Tausende in ganz Griechenland weiter demonstrierten und sich mit der Polizei anlegten, ging der Staat zur Kriminalisierung der Neonazis über. Die CA hatte die Mitgliedschaft von Roupakias zunächst zwar geleugnet, harte Beweise widerlegten dies aber. Eine Nebenfolge des Mords war zudem, dass sich mindestens zwei Mitglieder verraten fühlten und Aussagen machten, in denen sie die Struktur und Hierarchie der Partei, ihren Einsatz von »Angriffsschwadronen« sowie ihre Finanzen umfassend offenlegten. Gestützt auf diese Aussagen verhaftete die Polizei unter dem Vorwurf schwerer Straftaten die gesamte CA-Führung einschließlich des Vorsitzenden Nikolaos Michaloliakos. Zudem wurden die staat­liche Finanzierung der Partei eingestellt und viele ihrer Büros durchsucht. Bislang liegen 32 Haft­befehle vor, doch die Ermittlungen der Polizei richten sich auch nach innen: Zwei Beamte wurden wegen Beteiligung an den illegalen Aktivitäten der CA verhaftet, am 29. September folgten Haftbefehle gegen 20 weitere Polizisten. Es ist unübersehbar, dass der Staat beschlossen hat, sich der Neonazis zu entledigen.

Dieser politische Kurswechsel könnte für die Regierung durchaus vorteilhaft sein. Die Neonazis haben sich angesichts der Wirtschaftskrise als systemfeindliche Kraft inszeniert und so Stimmen und Unterstützung aus einem Teil der Bevölkerung gewonnen, der sich betrogen fühlt und sich nach einer autoritär-etatistischen Krisenlösung sehnt. Er besteht überwiegend aus einem Kleinbürgertum, das enge Beziehungen zum Staat und seinen Finanztöpfen hatte, auf dem Land aber auch maßgeblich für die Ausbeutung von Migranten verantwortlich ist. Von der Krise und dem Verschwinden staatlicher Geldzuwendungen getroffen, verspricht er sich von einer autoritären ­Lösung die Wiederaufrichtung staatlichen Schutzes vor den abstrakten Kräften der Ökonomie. Die gegen die Austerität gerichtete Rhetorik sowie die rassistische Praxis der CA boten zugleich eine Mystifikation der Krise und ein Objekt an, das der Kleinbürger ohne Angst vor Folgen zur Zielscheibe seiner Gewalt machen konnte. Indem die ND nun die Neonazis delegitimiert, hofft sie die große Zahl von abgewanderten Wählern – vor dem Mord an Fyssas lag die CA in unveröffentlichten Umfragen bei 18 Prozent – in den Schoß der rechten Familie zurückzuholen, aus dem sie stammen, um bessere Chancen gegen Syriza zu haben, die in denselben Umfragen um zwei bis drei Prozentpunkte vor der ND lag.
Zugleich hat das Verhalten der Nazis im Parlament gezeigt, wie absurd es ist, sie als eine gegen »das System« oder die Sparpolitik gerichtete Kraft zu sehen. Die CA-Abgeordneten stimmten im August 2012 für die Privatisierung der ATE-Bank und wandten sich entschieden gegen eine höhere Besteuerung der Reeder. Unter der Losung »Arbeit für den griechischen Arbeiter« eröffnete die Partei zudem lokale Büros für Arbeitsuchende und nötigte Firmen zur Einstellung von Griechen statt Einwanderern – selbstredend zu denselben ex­trem niedrigen Löhnen. Auf diese Weise kam sie der Austeritätspolitik entgegen.
Es steht somit außer Frage, dass die Neonazis für die Regierung bislang nützlich waren. Doch der Mord an Fyssas, die Verstrickungen der Polizei sowie die Angst, dass die Reaktionen gefährliche Ausmaße annehmen könnten, bewogen sie zu der Entscheidung, die CA zu opfern. So verhelfen die Neonazis der für die drastische Sparpolitik verantwortlichen Regierung zu einem wichtigen Alibi, kann sie deren Verfolgung doch als Ausweis ihrer demokratischen Prinzipien zur Schau stellen.
Syriza und Teile der Linken sind auf Regierungslinie eingeschwenkt, während die radikale Bewegung nun die Erfahrung macht, dass sich der Staat als Antifa geriert. Doch viele Positionen der CA sind längst Regierungspolitik geworden, etwa die Lager für Migranten und der rassistische Aufruf zur »Rückeroberung« der städtischen Zentren angesichts einer »Invasion« von illegalen Migranten. Die radikale Bewegung steht nun am Scheideweg: Sie kann entweder weiterhin eine Gesellschaft kritisieren und bekämpfen, die Neonazis hervorbringt, oder eben jene Gesellschaft gegen die Neonazis verteidigen, indem sie deren recht­liche Verfolgung gutheißt und so eine Regierung legitimiert, die für Verarmung und kapitalistisches Elend verantwortlich zeichnet.