Vermisst afrobrasilianische und junge Autoren auf der Buchmesse

Geração 00

Brasilien präsentiert sich auf der Buchmesse als das »Land der vielen Stimmen«. Wenn man die Liste der deutsch­sprachigen
Neuerscheinungen durchsieht, fällt jedoch auf, dass die meisten Autoren aus der weißen urbanen Mittelschicht stammen.
Vertreter der jungen Generation sind ebenso unterrepräsentiert wie afrobrasilianische Autoren.

Tarifa zero para a poesia« (»Nulltarif für die Poesie«) steht auf dem Plakat, das Nicolas Behr während eines Podiumsgesprächs hochhält. Das Publikum der Festa Litererária Internacional im brasilianischen Paraty (FLIP) versteht die Anspielung des Dichters und lacht. Auch, als er den Zuhörern ein Schild mit der Aufschrift »Todos por um poema melhos do que este« (»Alle für ein besseres Gedicht als dieses«) entgegenhält. Behrs poetische Interventionen spielen auf die Proteste der Menschen an, die im Juni dieses Jahres in vielen Städten Brasiliens zu Hunderttausenden auf die Straßen gingen, um gegen die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr zu demonstieren, und auf Zetteln und Plakaten ihr Forderungen artikulierten. Die höheren Ticketpreise waren nur der zündende Funke für die Proteste. Die Demonstranten forderten zuerst »Passe livre« (Freifahrtschein), prangerten aber bald auch andere Misstände wie das schlechte Bildungs- und Gesundheitssystem, die Korruption der Regierung und die Verschwendung von Steuergeldern für die Fußballweltmeisterschaft 2014 an.
Die Proteste, die durch das gewalttätige Vorgehen der Polizei an Intensität sogar noch zugenommen hatten, stellen eine Zäsur in der jüngsten Geschichte des Landes dar. Es fällt deshalb schwer, die neue brasilianische Literatur nicht vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zu betrachten. Unwillkürlich fragt man sich, ob das Bild Brasiliens, das die Autoren in ihren Romanen und Kurzgeschichten vermitteln, mit diesem neuen, repolitisierten Brasilien in Einklang zu bringen ist. Überraschen dürfte es nicht, dass sich die jüngsten Ereignisse in den auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten literarischen Werken nicht spiegeln – dazu sind sie zu neu. Der brasilianische Autor Paulo Scott machte kürzlich sogar Anzeichen dafür aus, dass die Straßenproteste jeden Moment wieder ausbrechen könnten. Auch deshalb werden sie ein Thema sein, auf den Podien und in den Hallen der Frankfurter Buchmesse: Wird diese neue Generation von Autoren, die Geração 00, die im neuen Jahrtausend zu schreiben begonnen hat, die Proteste literarisch verarbeiten? Wird die Erfahrung, dass die sonst so friedliche brasilianische Mittelschicht aufbegehrt, die Literatur verändern? Die Bücher, die Brasilien auf der Buchmesse repräsentieren, sind vielfach noch in einer Zeit verfasst worden, als das Land vor Selbstbewusstsein strotzte: Es hatte 1999 den drohenden Staatsbankrott abgewehrt und war zehn Jahre später zur sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen.
Zunächst wirkt die Liste der Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse recht beeindruckend: Rund 80 belletristische Werke erscheinen auf Deutsch – ein großer Teil der Autoren wurde zum ersten Mal übersetzt. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass darunter nur wenig neue und junge Autoren sind; um die 30 Autoren erscheinen zum ersten Mal auf Deutsch, von einem guten Dutzend bereits seit Jahren etablierter Autoren erscheinen neue Bücher, einige wichtige Autoren des 20. Jahrhunderts wie Jorge Amado, Machado de Assis und João Guimarães Rosa wurden mit Neuübersetzungen gewürdigt. Doch es gibt auch einige (teils wichtige) Neuauflagen wie den 1928 veröffentlichten Roman »Macunaíma« (Suhrkamp) von Mário de Andrade oder den 1943 erschienenen Roman »Nahe dem wilden Herzen« (Schöffling & Co.) der damals erst 23jährigen Clarice Lispector. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutschen Verlage sich weniger für die zeitgenössische brasilianische Literatur haben begeistern können, als dies etwa 2010 beim Gastland Argentinien der Fall war. Dass es in der brasilianischen Gegenwartsliteratur weit mehr zu entdecken gäbe, zeigt aber ein Blick in die rund 15 Anthologien, in denen auch unbekantere Autoren abseits des literarischen Mainstreams präsent sind. Es scheint, dass die zeitgenössische brasilianische Literatur nicht den Erwartungen deutscher Verleger entspricht, die wiederum versuchen, den Lesewünschen des Publikums zu genügen. Favelas, Gewalt, Fußball, Karneval und Samba, Indios im Kampf um den Amazonas oder die Aufarbeitung der Militärdiktatur – diese Themen kann man finden, doch es sind nicht die vorherrschenden.
Die Geração 00 wehrt sich gegen plakative Zuschreibungen und wählt häufig überraschende eigene Themen oder experimentiert mit Stilmitteln, die bisweilen die Literatur in der Literatur selbst reflektieren. Oft werden ihre Anliegen in Familiengeschichten oder Liebesgeschichten verkleidet. Michel Laub etwa erzählt in seinem Roman »Tagebuch eines Sturzes« (Klett-Cotta) die Geschichte eines Überlebenden der Shoa, der über sein Schicksal nicht spricht und Selbstmord begeht, als sein Sohn 14 Jahre alt ist. Der Junge ist fortan traumatisiert. Erst der Enkel beginnt nach einer Lebenskrise, die Familiengeschichte dreier Generationen aufzuschreiben. Adriana Lisboa schildert in ihrem Roman »Der Sommer der Schmetterlinge« (Aufbau) das Leben zweier Schwestern, die sich nach den Jahren der Militärdiktatur und der Repression wiedertreffen. In Daniel Galeras Roman »Flut« (Suhrkamp) ergründet ein junger Mann an einem Küstenort im Süden des Landes die Geheimnisse seiner Familie. Auch Beatriz Bracher untersucht in ihrem Roman »Antonio« (Assoziation a) eine tragische Familiengeschichte. Angesiedelt ist die Handlung in der oberen Mittelschicht São Paulos: Vater und Sohn verlieben sich im Abstand von 20 Jahren in dieselbe Frau und zeugen jeweils ein Kind mit ihr – eines der Kinder versucht später die Familiengeschichte zu rekonstruieren. Carola Saavedra versetzt in ihrem dritten Roman »Landschaft mit Dromedar« (C.H. Beck) ihre Protagonistin Érika auf eine namenlose Insel, wo sie ihre Gedanken und Erlebnisse auf Tonbänder spricht, die sich an einen Mann namens Alex richten, der vielleicht einmal ihr Liebhaber gewesen ist. In Paulo Scotts Roman »Unwirkliche Bewohner« (Klaus Wagenbach) entspinnt sich eine Liebe zwischen einem politisch engagierten Jurastudenten aus gutbürgerlichem Milieu und einem Mädchen aus einem Indianercamp an der Ausfallstraße von Porto Alegre. In João Paulo Cuencas Roman »Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall« (A 1) verliebt sich ein junger japanischer Angestellter in eine polnisch-rumänische Kellnerin. Der Schauplatz des Romans ist ein futuristisch verfremdetes Tokio. Marcelo Ferroni widmet sich in seinem Agenten-Thriller »Anleitung zum Guerillakrieg« (Suhrkamp) den sagenumwobenen letzten Lebensjahren des Che Guevara.
Es fällt schwer, die jungen Autoren und ihre Texte auf einen Nenner zu bringen. Gemeinsam ist ihnen die Weigerung, an die große Erzähltradition des lateinamerikanischen Romans anzuknüpfen, die noch 1994, als Brasilien zum ersten Mal Ehrengast der Buchmesse in Frankfurt war, in João Ubaldo Ribeiros 1988 veröffentlichtem Epos »Brasilien, Brasilien« lebendig war.
Eher vage ist auch das Motto des Auftritts in Frankfurt: »Brasilien – ein Land voller Stimmen«. Es ist als Bekenntnis zu einer Vielfalt zu verstehen, die in dem Land selbst lange als Makel und Hemmnis auf dem Weg zur Modernisierung galt. Inzwischen wird die Heterogenität Brasiliens, wie der Soziologe Roberto DaMatta unlängst schrieb, als große Chance gesehen. Doch dass all die vielen Stimmen tatsächlich in den nun auf Deutsch erscheinenden Büchern vertreten sind, darf bezweifelt werden, stammen die Autoren doch größtenteils aus der weißen urbanen Mittelschicht.

Szenenwechsel: Berlin-Mitte, Am Kupfergraben. Ricardo Aleixo und Ana María Gonçalves entdecken an einer Gebäudefassade gegenüber der Museumsinsel Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg. Beide sind Gäste des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Ricardo Aleixo lebt in Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais. Er ist Poet, Sound-Designer, Komponist und Performer und hat das Festival de Arte Negra mitbegründet. Es ist das wichtigste Kunst-und Kulturfestival der afrikanischen Diaspora in Brasilien. Ana María Gonçalves stammt ebenfalls aus Minas Gerais und lebt heute als Autorin in New Orleans.
»Die aktuelle Literatur Brasiliens«, sagt Aleixo, »blickt in alle Welt und übersieht vielleicht deswegen einige der Probleme daheim.« Aleixo und Gonçalves verstehen sich selbst als afrobrasilianische Autoren, die, wie sie im Gespräch kritisieren, in Brasilien, aber auch im Ausland noch zu wenig wahrgenommen würden. Um das zu ändern, erzählt Gonçalves, wird derzeit ein Katalog afrobrasilianischer Autoren erstellt, um Veranstaltern von Buchmessen und Festivals Werke und Schriftsteller vorzustellen. »Langsam begreift man, dass wir auch Teil des Marktes sind«, sagt die 1970 in Ibiá geborene Schrifstellerin.
Obwohl 40 Prozent der Bevölkerung Brasliens afrikanische Vorfahren haben, sind auf der Buchmesse nur wenige afrobrasilianische Autoren vertreten. Das gilt für die offizielle brasilianische Messedelegation wie für die Autoren, die in Deutschland Verlage gefunden haben. »Die Verlage in Deutschland bilden nur in kleinerem Maßstab das ab, was auf dem brasilianischen Buchmarkt los ist.«sagt Aleixo. Für afrobrasilanische Autoren ist es auch im Jahr 2013 nach wie vor schwer, ein Buch zu veröffentlichen – und wenn es ihnen gelingt, werden sie eher selten zu Messen oder Festivals eingeladen.
Keine Ausnahme ist da leider auch Ana Maria Gonçalves. Ihr monumentales Epos »O defeito de cor« ist 2006 in Brasilien erschienen. Bis heute hat sich kein deutscher Verlag dafür gefunden. Inspiriert von der Biographie der afro­brasilianischen Freiheitskämpferin Luisa Mahin, schildert die Autorin in dem 900 Seiten umfassenden Buch die Geschichte von Kehinde, die achtjährig aus Dahomé nach Brasilien verschleppt und versklavt wurde und später als freie Frau wieder in ihre Heimat zurückkehrt – ohne ihren Sohn, der wiederum von seinem Vater, einem Portugiesen, als Sklave verkauft wurde.
»Das Tragische ist«, sagt Aleixo, »dass afro­brasilianische Autoren in der Vergangenheit eine größere Rolle gespielt haben. Drei der vier Gründerväter der brasilianischen Literatur waren Afrobrasilianer: Machado de Assis, Lima Barreto und Cruz e Sousa«, zählt Aleixo auf. »Nur Euclides da Cunha war ein Weißer.« Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. »Der Rassismus in Brasilien führte zu seltsamen Allianzen«, sagt Gonçalves. Einige der Abolitionisten hätten nur für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft, weil sie befürchteten, die brasilianische »Rasse« würde durch einen weiteren Zustrom von Afrikanern zu sehr »kontaminiert«. »Branqueamento«, also die »Verweißung« der brasilianischen Kultur war das Ziel. Dieser Rassismus, sagt Aleixo, wirke in Brasilien immer noch nach. »Als Schwarzer kann man zwar ein erfolgreicher Sportler oder Musiker sein, aber kein Schriftsteller.«

Laura Erber ist eine junge Autorin, die an der Rolle des Schriftstellers als Intellektuellem, der sich in die gesellschaftlichen Debatten einmischt, festhalten möchte. Sie lebt in Rio de Janeiro, unterrichtet an der staatlichen Universität Ästhetik und Theatertheorie, ist Bildendende Künstlerin und Autorin. Soeben erschien im Verlag Editora Alfaguara ihr Roman »Esquilos de Pavlov« (auf deutsch etwa »Pawlowsche Eichhörnchen«). Der Roman, der bislang noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, handelt von einem jungen Rumänen, der sich von einer europäischen Künstlerresidenz zur nächsten hangelt – immer in Begleitung seines Katers Li Po. Auch wenn dies zunächst nach einem postmodernen Künstlerroman einer abgeklärten Schriftstellerin klingt, konnte man die Autorin auf Facebook als eifrige Kommentatorin der Proteste erleben. »Das stärkste Bild der Proteste waren«, erzählt sie, »zwei riesige Schatten, die auf die Regierungsgebäude von Brasília geworfen wurden. Zwei kleine Menschen übersetzten mit ihren vergrößerten Schatten die poetischen und politischen Kraft jener symbolischen und konkreten Besetzung der Räume der Macht.«
Warum auch die brasilianische Revolte eine »Facebook-Revolution« war, erklärt Erber so: In Echtzeit habe man erleben könne, wie Menschen nach Ausdruck ringen, Probleme benennen, die man bislang ignoriert hatte  – »denen aber dennoch täglich Brasilianer zum Opfer fallen«. Ein Prozess der Repolitisierung sei zu beobachten gewesen, Masken von Intellektuellen, die sich immer als links bezeichnet hatten, seien gefallen, und sie hätten sich als rückwärtsgewandt und konservativ erwiesen. »Es macht in Brasilien jetzt wieder einen Unterschied, ob man links oder rechts ist.«
Nicolas Behr hat sein dichterisches Schaffen einer einzigen Stadt gewidmet: Brasília. »Es ist die Stadt mit der größten Ungleichheit Brasiliens, die reichste Stadt mit der ärmsten Peripherie. Ein Spiegel des Landes. Eine gescheiterte Utopie-Stadt«, erklärt der Dichter, räumt aber gleichzeitig ein, dass ihn die Dynamik der Proteste selbst überrascht habe. Er habe nur an einer einzigen Demonstration teilgenommen. Dafür hat er aber noch ein paar Protestplakate mehr gedichtet: »O Poema lido jamais sera vencido« (»Ein gelesenes Gedicht wird nie besiegt«).

Timo Berger ist Autor, Übersetzer und Mitbegründer des Poesiefestivals Latinale, das sich aktueller lateinamerikanischer Literatur widmet. Zuletzt von ihm herausgegeben: »Popcorn unterm Zuckerhut. Junge brasilianische Literatur«, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 144 Seiten, 9,90 Euro.