Die orthodoxe Kirche in Rumänien kennt keine Krise

Die Macht der Patriarchen

Pilgerreisen zu den Klöstern, immer mehr Sozialeinrichtungen und der Bau einer imposanten Kathedrale mitten in Bukarest: Die orthodoxe Kirche ist in Rumänien sehr populär. Wegen der Wirtschaftskrise kürzt die Regierung derzeit Löhne und Sozialleistungen, doch Geld für neue Kirchen gibt es immer. Seit der Wende traut sich keine rumänische Regierung, die orthodoxen Bischöfe zu verstimmen. Doch langsam wird Kritik laut.

Im Morgengrauen bilden die Pilger eine Schlange, die auf dem Platz vor der weißen Kathedrale anfängt und bis zum Fuß des kleinen Hügels reicht. Menschen aus allen Ecken des Landes sind in die Hauptstadt gereist, sie warten ruhig in der frischen Herbstluft. »Der Heilige wird uns das ganze Jahr über segnen«, erhofft sich Florica Badea, die mehr als 400 Kilometer zurückgelegt hat, um wie immer an dem jährlichen Festtag von Dimitrie Basarabov, dem Schutzheiligen von Bukarest, teilzunehmen. Wie die 67jährige Frau aus einem Dorf in der Bukowina haben einige der Angereisten den ganzen gestrigen Tag im Zug gesessen und sich bereits am Abend angestellt. Viele beten jetzt mit leiser Stimme, mit einem Büchlein oder einer Gebetsschnur in der Hand.
Die Polizei hat, wie bei politischen Demonstrationen, einen Zaun mitten auf der Straße aufgebaut und achtet nun darauf, dass es nicht zu heftigem Gedrängel kommt. Kurz nach Sonnenaufgang treten Messdiener auf das große Podest, das vor der Kirche aufgebaut ist. Sie decken die Tische, schmücken sie mit Blumen und hängen Ikonen an die Hinterwand. Die Techniker von Trinitas TV installieren ihre Kameras und Mikrophone. »Bald fängt der Morgengottesdienst an und dann, während der Liturgie, werden die Gebeine des Heiligen aus dem Altar herausgeholt«, freut sich Florica Badea. »Das geschieht nur einmal im Jahr und deshalb ist für uns dieser Tag, an dem wir die Reliquien verehren dürfen, ein ganz besonderer.«
Auch die Vertreter der orthodoxen Kirche freuen sich über diesen Tag – und die Hunderttausenden Gläubigen, die wie Florica Badea an jedem 27. Oktober den Heiligen Dimitrie und damit auch das Bukarester Patriarchat feiern. Gläubigenschwund? Fehlanzeige! Vor allem in den Dörfern, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung Rumäniens lebt, können die Geistlichen nach wie vor problemlos viele Menschen in die Kirchen locken, und zwar nicht nur an großen Feiertagen, sondern an jedem Sonntag.

»Nach 45 Jahren des offiziellen Atheismus erlebte unsere Kirche nach der Wende eine wahre Auferstehung«, sagt Vater Constantin Stoica, Pressesprecher des Patriarchats. Die Zahlen scheinen diese Aussage zu bestätigen. Laut jüngsten Umfragen geben 95 Prozent der Rumänen an, dass sie an Gott glauben, fast 85 Prozent bezeichnen sich als orthodox. Auch die Popularität der orthodoxen Kirche und das Vertrauen in sie bleiben mit über 60 Prozent hoch, obwohl diese Werte in den neunziger Jahren noch höher waren. »Im schmerzhaften Übergang von einer sehr konservativen Form von Staatssozialismus zu einem System der deregulierten Marktwirtschaft hat die Kirche eine wichtige Rolle gespielt«, sagt Kultur- und Kultusminister Daniel Barbu, der früher an der Bukarester Universität Politologie unterrichtete. »Dabei übernahm die Kirche identitätsstiftende und soziale Aufgaben, die in den etablierten westlichen Demokratien Prärogativen des Staats sind.«
Doch der Staat ist in Rumänien schwach. In den neunziger Jahren konnte er mangels Geldes seine wichtigsten Aufgaben kaum erfüllen. Renten und Löhne im öffentlichen Sektor wurden nur verspätet gezahlt, endemische Korruption zerstörte das Vertrauen in die Justiz und Polizei, die Bürger fühlten sich jahrelang im Stich gelassen. Perspektivlosigkeit und bittere Armut prägten das Leben vieler Rumäninnen und Rumänen bis kurz vor dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2007 und auch danach blieb die Situation, trotz des raschen Anstiegs der Einkommen, schwierig, vor allem in Dörfern und Kleinstädten. »Es waren schwierige Zeiten für die Rumänen und in solchen Zeiten wendet man sich an die Kirche, die auch historisch eine wesentliche Rolle im Leben der Gemeinden und der Nation spielte«, sagt Stoica.
Um die Armut zu lindern und das Versagen des Staates zu kompensieren, gründete das Patriarchat soziale Einrichtungen, die Kirche baute damit einen Bereich wieder aus, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten des Staats abtreten musste. Seitdem expandieren die weltlichen Institutionen der Kirche wie nie zuvor: Kinder- und Seniorenheime, Lebensmittelausgaben für die Bedürftigen, Kleidungssammelstellen für Hochwasseropfer, die wegen der maroden Infrastruktur und der massiven Abholzung jedes Jahr gerettet werden müssen.
»Nach der Wende zog sich der Staat aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens einfach zurück. Es galt und gilt heute noch eine strikte Markt­ideologie und eine Art Sozialdarwinismus, der die gegenwärtige Gesellschaft wesentlich prägt«, sagt der linke Publizist und Blogger Costi Rogozanu. »Die sozialen Aufgaben des Staates blieben einfach jahrelang unerfüllt und die Kirche sprang in diese Lücke. Doch ihr Werk ist weder systematisch noch nachhaltig, dafür aber sehr konservativ – und mit Steuergeldern finanziert«, kritisiert er.

In der Tat verfügt die orthodoxe Kirche selten über Programme, die über die Vergabe von Spenden und Almosen hinausgehen. Einerseits kann und soll sie nicht die Rolle des Staates komplett übernehmen, wie Rogozanu und andere Kritiker häufig betonen. Andererseits gilt vielen Traditionalisten in der Synode ein systematisches weltliches Engagement, das eine gewisse Autonomie gegenüber den missionarischen Aufgaben und dem liturgischen Leben genießt, als fremd und ist umstritten. Patriarch Daniel gilt als guter Manager und Vertreter der liberalen oder weltlichen Strömung, die in den vergangenen Jahren eine Mehrheit unter den Bischöfen gewonnen hat. Doch vor allem im klösterlichen Milieu wird diese »Verweltlichung« und »Institutionalisierung« der Kirche kritisch betrachtet und manchmal sogar laut als »Anpassung« und fauler Kompromiss mit der westlichen, katholisch und protestantisch geprägten Tradition denunziert.
Liberale Theologen und religiöse Intellektuelle wie der ehemalige Außenminister Andrei Plesu stimmen hier mit ihren linken und weniger religiösen Kollegen überein: »Kirche und Staat, Kirche und Nation sind im heutigen Rumänien zu sehr miteinander vermischt«, sagt Plesu. »Das ist nicht nur für den Staat und die Politik gefährlich, sondern unterstützt eine gewissermaßen zu volksnahe, ja populistische Version des Christentums, eine Kohlrouladen-Orthodoxie.«
Auch der Metropolit Serafim Joantă, der seit den neunziger Jahren Erzbischof von München und zuständig für die orthodoxen Rumänen ist, die in Deutschland und Mitteleuropa leben, ist sich des Problems bewusst. Oft engagiert er sich für die Modernisierung der Kirche, für eine Inten­sivierung des ökumenischen Dialogs und für ein zeitgemäßes Auftreten der Orthodoxie.
Constantin Stoica spricht ungern über diesen Konflikt. »Die Klöster sind das Rückgrat unserer Kirche. Jeder Bischof ist letztendlich ein Mönch und muss es auch bleiben. Es kann keine Abteilung der Kirche geben, in der das liturgische Leben plötzlich aufhört. Trotzdem müssen wir im Gegensatz zu den Pharisäern Verantwortung für unsere Nächsten übernehmen und Antworten auf die Herausforderungen von heute finden.« Tatsächlich hat die Kirche versucht, auf ihre Art und Weise diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Für die Herde hat Patriarch Daniel einen Medienkonzern aufgebaut, Pilgerreisen im In- und Ausland werden organisiert und häufig auch über Reiseportale im Internet angeboten, damit auch ein junges Publikum erreicht werden kann.
Den Vorwurf, zu Zeiten von Sparmaßnahmen üppige Projekte zu fördern, weist die Kirche zurück. »Wegen der Wirtschaftskrise kürzt die Regierung Löhne und Sozialleistungen, Krankenhäuser und Schulen werden geschlossen. Gelder für neue Kirchen aber gibt es immer: Insbesondere dann, wenn die Wahlen näher rücken«, mokiert sich der Publizist Rogozanu. »Und die Arbeiten an der neuen imposanten Kathedrale mitten in Bukarest laufen auf Hochtouren, während fast alle anderen Bauprojekte eingestellt wurden.«
Die Vertreter der Synode betonen hingegen, dass die neu gebauten Kirchen immer voll seien. »Das zeigt, dass viele Rumänen dieses Bedürfnis haben, und es wäre undemokratisch, sich dem Willen der Mehrheit zu widersetzen«, sagt Constantin Stoica. Dennoch bleibt die direkte Finanzierung der Kirche aus Steuergeldern umstritten. Linksliberale Kritiker dieses Systems prangern die »Geiselnahme der Politik und des Staats durch die orthodoxe Kirche an, die vor allem auf dem Land noch immer über einen großen Einfluss auf die Wähler verfügt«, wie es der grüne Abgeordnete Remus Cernea ausdrückt. Sein jüngster Vorschlag, ein freiwilliges kirchensteuerbasiertes Finanzierungs­system nach deutschem Vorbild einzuführen, fand im Bukarester Parlament keine Mehrheit.
Vor allem aber kritisieren viele liberale Autoren und auch manche Politiker die Positionen der orthodoxen Kirche in wichtigen gesellschaftlichen Debatten. Zum einen vertritt das Patriarchat in Bukarest nach wie vor erzkonservative Positionen in vielen sozialen und politischen Fragen, die nach der Wende die rumänische Öffentlichkeit beschäftigten. So lehnte die Kirche die Entkrimi­na­lisierung der Homosexualität in den neunziger Jahren ab, rief immer wieder zu Gegendemons­trationen gegen die Bukarester Gay-Pride-Paraden auf und zögert nicht, dabei mit rechtsextremen Fußballfans und Hooligans gemeinsame Sache zu machen. Genau wie in Serbien und in Russland machten die orthodoxen Bischöfe in Rumänien oft Druck auf die Politiker, um CSD-Paraden und Antidiskriminierungsgesetze zu verhindern und die Ehe als heterosexuelles Privileg zu definieren.
Ihr Erfolg in diesem Bereich bleibt allerdings bescheiden, denn anders als Russland darf Rumänien als EU-Mitglied nicht gegen europäische Verträge verstoßen. Ein Gesetz gegen »homosexuelle Propaganda« wäre in Bukarest undenkbar. Auch wenn weite Teile der Bevölkerung sich mit den Werten der Kirche identifizieren, bleibt die Bindung an die EU stärker. Ähnlich verhält es sich in der Frage, ob Ausländern erlaubt werden soll, Grundstücke in Rumänien zu kaufen. Auch hier trat das Patriarchat für ein radikales Verbot ein – und musste bereits vor dem EU-Beitritt 2007 eine Niederlage hinnehmen.
Beim Thema Abtreibung traut sich die Orthodoxe Kirche nicht mehr, ihre Unterstützung für ein Verbot öffentlich zu artikulieren: Zu präsent ist noch im kollektiven Gedächtnis die Zeit vor der Wende, als viele Rumäninnen zu Opfern der grausamen Sozialpolitik des Diktators Nicolae Ceau­şescu wurden. Dieser versuchte in den siebziger und achtziger Jahren, durch die Kriminalisierung der Abtreibung die Geburtsrate zu steigern und Rumänien zu einer bedeutenden Macht in Europa zu machen.
Liberale in Rumänien kritisieren auch, dass das Patriarchat eine Aufarbeitung seiner unangenehmen Vergangenheit ablehnt. Ähnlich wie in Bulgarien und Russland, und anders als in Polen und der DDR, gehörte die größte Kirche in Rumänien nicht zu den Kräften, die sich in den achtziger Jahren gegen das marode staatssozialistische Regime engagierten. Im Gegenteil: Als Ceauşescu im Dezember 1989 beschloss, die Aufständischen mit Militärgewalt zu unterdrücken, schickte ihm der damalige Patriarch Teoctist ein Gratulationstelegramm.
Als zehn Jahre später ein Gesetzentwurf vorsah, die Geheimpolizeiakten der Mitglieder der Synode offenzulegen, lief das Patriarchat Sturm gegen die Initiatoren, eine Gruppe ehemaliger Dissidenten und politischer Gefangener. Die damalige Behauptung, die Kirche kümmere sich intern um Aufklärung, erwies sich als Luftnummer: Bis dato musste kein Bischof aufgrund seiner Zusammenarbeit mit der damaligen Geheimpolizei, der Securitate, zurücktreten, obwohl es in vielen Fällen klare Beweise gibt, die der Presse zugespielt und veröffentlicht wurden.
Dass die Kirche trotz ihrer zahlreichen Probleme so populär bleibt, ist ein Rätsel für viele Beo­bachter. Zumal die Korruption, die Rumänien seit eh und je plagt, auch die Orthodoxie betrifft. Die beliebteste Erklärung, die den Hauptgrund in der Schwäche des Staats sieht, lässt viele Fragen offen. Mittel- bis langfristig wird sich die Kirche daher grundsätzliche Fragen stellen müssen, denn die Modernisierung des Landes schreitet seit dem EU-Beitritt trotz Wirtschaftskrise voran. Rund drei Millionen Rumänen, ein Viertel aller Erwerbs­fähigen, sind in den vergangenen zehn Jahren ausgewandert und leben und arbeiten in Westeuropa. Die Gemeinde des Münchener Metropoliten Serafim Joantă wird dadurch zunächst immer größer. Doch spätestens mit der nächsten, teilweise in Italien, Spanien oder Deutschland geschulten Generation, wird für die orthodoxe Kirche ein Moment der Wahrheit kommen.