Die kulturelle Wirkung der Grünen seit den achtziger Jahren

Grün war die Hoffnung

Nicht nur die Revolution frisst bekanntlich ihre Kinder, auch der Reformismus lässt sich die seinen gern schmecken. Nach nur 18 Jahren waren die Grünen schon weitgehend verputzt, weitere 15 Jahre später wird nun noch der Teller abgeschleckt.

Auch ich habe sie gewählt, dreimal sogar. Bei der Bundestagswahl 1987, als ich zum ersten Mal an die Urne gerufen wurde und als eine Stimme für die Grünen gleichbedeutend war mit einer Stimme gegen die drohende Volkszählung. Dann 1989, bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, und 1994, abermals im Bund. Im letzten Fall war es die Verzweiflung über den gesellschaftlichen Rechtsruck unter dem vierten Kabinett Kohl und das sich seit 1990 weitgehend ungehindert ausbreitende Morden und Brandschatzen von Nazi-Banden. Die zumindest in Sachen Antirassismus zuverlässigen Grünen im Bund zu unterstützen, erschien da vernünftig. Der Berliner Landesverband, der noch bis 1990 »Alternative Liste« (AL) hieß, war für mich dagegen bereits durch die Beteiligung am Momper-Senat unwählbar geworden. In Ergänzung zum alten »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« hieß es damals auf der Straße: »Wer verrät uns schneller? Die AL-er!« Ein vernichtendes Fazit nach nur elf Monaten Regierungsbeteiligung, insbesondere, wenn man sich die Geschichte der Grünen anschaut.
Bis heute werden die Grünen oft mit dem 1967 von Rudi Dutschke verkündeten »langen Marsch durch die Institutionen« identifiziert, und tatsächlich reichen die Wurzeln der Partei bis zur Außerparlamentarischen Opposition (Apo) der späten Sechziger zurück – wenngleich eher personell als politisch. Die neomarxistisch geprägte Apo zerfiel bereits 1968, nach dem Attentat auf Dutschke, und ihre Nachfolge traten allerlei meist maoistische K-Gruppen an, die konkurrierend versuchten, auf die gleichzeitig entstehenden, auf Pazifismus, Gleichberechtigung, Ökologie oder Atomausstieg fixierten »Neuen Sozialen Bewegungen« Einfluss auszuüben. Dem standen jedoch nicht nur das Sektierertum und die oft bizarre politische Ausrichtung der K-Gruppen entgegen (manche verorteten sich gar auf Seiten der Roten-Khmer-Massenmörder in Kambodscha), sondern auch der nicht zu unterschätzende Einfluss christlicher, esoterischer und rechtskonservativer Gruppen insbesondere in der Friedens- und Umweltbewegung. Aus dieser eher skurrilen Gemengelage formten sich bald regionale Wahlbündnisse, wie die Berliner AL, die ab 1978 damit begannen, zu Wahlen anzutreten, und sich 1980 zur Bundespartei »Die Grünen« zusammenschlossen.

Mancher der Neupolitiker mag sich anfangs noch für einen »Permanenzrevolutionär« im Sinne des Langen Marschs durch die Institutionen gehalten haben, die Mehrzahl jedoch dachte bereits reformistisch. Sie wollten nicht »immer wieder hinausgeworfen werden, immer wieder in neue Institu­tionen eindringen«, wie es Dutschke formuliert hatte. Sie wollten regieren, und damit war von Anfang an klar, dass man Koalitionen würde schließen, Kompromisse eingehen und untragbare Entscheidungen mittragen müssen, um so die eigene Ideologie wenigstens partiell gesellschaftliche Realität werden zu lassen. Für die aus der Hausbesetzerbewegung entstandene Berliner AL hieß das 1990 unter anderem, der Übernahme der »Berliner Linie« gegen Hausbesetzungen zuzustimmen, was wenig später zur gewaltsamen Räumung der Mainzer Straße führte. Für die Grünen im Bund bedeutete es, sich im Laufe ihrer Regierungsbeteiligung unter Gerhard Schröder 1998 bis 2005 von nahezu allem zu verabschieden, für das die Partei bis dahin gestanden hatte. Der Pazifismus wurde beerdigt, als man deutsche Soldaten in ihren ersten Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg schickte. Die einst wohltönende Sozialmoral der Partei warf man für die Einführung der Hartz-IV-Repressionen über Bord. Und die eigene Herkunft aus der antikapitalistischen Apo führte man mit neoliberaler Wirtschaftspolitik inklusive rasant fortschreitender Privatisierung sowie Steuererleichterungen für Millionäre und Konzerne ad absurdum.
Was von den ursprünglichen zentralen Themen der Grünen übrig blieb, waren Atomausstieg, Gleichstellungsgesetz, Ökosteuer und Dosenpfand. Letzteres nahm zynischerweise den geknechteten Hartz-IV-Empfängern noch den letzten Rest Würde, indem es ihnen Schwarzarbeitzuverdienste als Flaschensammler offerierte. Spätestens mit dieser Regierungszeit waren die Grünen also keine im marxistischen Sinne reformistische Partei mehr, nur noch eine auf Posten erpichte Klientelpartei à la FDP. Geschadet hat es ihnen nicht. Zwar mussten sie allerlei kabarettistischen Spott hinnehmen und Joschka Fischer bekam was auf die Ohren (einen Farbbeutel nämlich), aber in der Wählergunst legten sie 2002 im Vergleich zu 1998 sogar um zwei Prozent zu und konnten dieses Ergebnis 2005 annähernd halten. Interessant ist die Frage, weshalb das so war.
In der Presse wurde seinerzeit oft vom »Fischer-Effekt« gesprochen, jener Begeisterungsfähigkeit der deutschen Bevölkerung für einen rhetorisch versierten Polit-Silberrücken, der mittels nationaler Machtpolitik »im Ausland eine gute Figur macht«. Das kann jedoch nur ein Teil der Wahrheit sein, denn ohne Fischer erreichten die Grünen vier Jahre später sogar ihr bislang bestes Ergebnis im Bund. Der Hauptgrund für die seit 1994 relativ beständige Wählergunst um acht Prozent herum kann also weder ein personeller sein, noch lässt er sich mit der politischen Wirkung der Grünen bei Regierungsbeteiligungen erklären.

Entscheidend war vielmehr ihre kulturelle Wirkung aus der Opposition heraus. Darüber prägten sie die Gesellschaft seit 1980 mehr als jede andere Partei. Insbesondere in den Fragen Gleichberechtigung, Ökologie und Atomausstieg gelang es ihnen, durch außerparlamentarisches Engagement eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu erreichen und so die anderen Parteien vor sich her zu treiben. Doch kulturelle Wirkung ist ein schwer steuerbarer Prozess: Wer einen Schneeball den Berg hinab rollen lässt, kann nicht wissen, wie groß die Lawine sein wird, die er auslöst, bis wohin sie reichen und was sie dabei mitreißen wird. Dutschke konnte nicht ahnen, dass aus der Bewegung, der er angehörte, eines Tages solche Grünen entstehen würden, selbst wenn er noch an ihrer Gründung mitwirkte. Und den eigentlichen »children of the revolution«, also der Generation der in den späten Sechzigern Geborenen, der auch ich angehöre, wäre in den Achtzigern niemals in den Sinn gekommen, dass diese bärtigen, strickenden Graswurzel-Schluffis, die da plötzlich lässig im Bundestag herumlungerten, eines Tages das Sozialsystem massakrieren und Bomben auf Serbien werfen lassen würden. Grün war damals für viele die Hoffnung.
Auch den Grünen selbst wird 1980 nicht klar gewesen sein, dass sich aus ihrem schmuddeligen Öko-Laissez-faire mittels verschärftem Moral-Marketing, ökologischer Technisierung und machtpolitischem Opportunismus bis zum Jahr 2013 ein wirtschaftsliberaler Futuretech-Neokonservatismus schwäbischer Prägung entwickeln würde. Dass also politisch korrekter Konsum zu einer Frage des Geldbeutels werden und aus der Verteidigung von Bürgerrechten ein Maßnahmenkatalog moralischer Bürgerpflichten entstehen würde. In den Metropolen wird diese Ideologie einerseits von begüterten Bessermenschen mit Gesundheitswahn, iPad und Armutsallergie vertreten, andererseits von anthroposophisch erzogenen Jung-Alternativen »aus gutem Hause«, die für »Mutter Erde« mehr Empathie aufbringen als für zwangsgeräumte Rentnerinnen. In ländlichen Gebieten sind es vor allem klassische Konserva­tive, die mit dem wirtschaftlichen Potential von Bio-Aufdruck und erneuerbarer Energie überzeugt wurden.

Diese Wählerschaft lässt sich schwerlich als »links« in sozialem Sinne kennzeichnen. Insofern mochte es durchaus als politisches Risiko erscheinen, als die Grünen zur letzten Wahl mit einem Programm antraten, das sich in einigen Punkten durchaus links positionierte. Die Rückkehr zu einem Reformismus im marxistischen Sinne war da allerdings nur schwer hineinzuinterpretieren. Und auch, wenn den Medien mehrheitlich inzwischen bereits das Wort Steuererhöhungen ausreicht, um »Kommunismus« zu schreien, die beschriebene Stammklientel – darauf vertrauend, dass bei den Grünen nichts so heiß gegessen wie gekocht wird – ließ sich von solchen Ansätzen nicht vergraulen. Mit 8,4 Prozent wurde am Ende sogar das drittbeste Ergebnis aller Zeiten erzielt. Niederlagen sehen anders aus. Mehr hätte man möglicherweise erreichen können, wenn es mit dem Modell Rot-Rot-Grün eine realistische Machtoption gegeben hätte, denn niemand wählt gerne ausgemachte Verlierer.
Doch die oft beschriene »linke Mehrheit« krankt nicht nur daran, dass das Adjektiv für diese Dreierkombination reichlich euphemistisch wäre, sondern vor allem daran, dass die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt weiter rechtsdrehend verläuft, wie nicht zuletzt die U18-Wahl zeigte. Der Tagesspiegel: »Kinder würden CDU wählen«. Entsprechend wäre die rot-rot-grüne Option wohl auch innerhalb der Grünen nicht durchsetzbar gewesen. Das wurde bereits im Wahlkampf deutlich, den der konservative Flügel um Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir weitgehend schwänzte, um die Schuld an der Niederlage nachher dem linken Parteiflügel zu geben. Genauso kam es, und nun bereitet sich die Partei darauf vor, Angela Merkel 2017 bei ihrer vierten Kanzlerschaft assistieren zu dürfen. Die Anhängerschaft wird man davon nicht erst überzeugen müssen, die hat diesen erstaunlich kurzen »langen Marsch« in Form eines unkontrolliert kullernden Schneeballs längst zurückgelegt.