Das Buch »Die Nacht der Proletarier« von Jacques Rancière

Nach der gestohlenen Zeit

Gegen den Schmerz der Stumpfheit: Der französische Philosoph Jacques Rancière deutet in »Die Nacht der Proletarier« Lebenswege von Arbeitern. Deren Bruch mit ihrer eigenen Identität ist sein Ausgangspunkt.

Wir waren schon wieder dabei, über die »deutsche Misere« zu schimpfen. Selbst wie hierzulande die Werke des französischen Philosophen Jacques Rancière übersetzt werden, schien uns jenem Hang zur ästhetischen Klitterung des Klassenkampfs zu folgen, den wir als »typisch deutsch« zu identifizieren gelernt haben. Denn während mittlerweile jede neueste Verlautbarung des Startheoretikers über Literatur, Kino und den modernen Tanz sofort ins Deutsche übersetzt und aufgeregt diskutiert wird, verschmähen deutschsprachige Verlage bisher dessen Frühwerk. Es lag nahe, diese Verweigerung politisch zu deuten, handelt es sich hier doch um Texte, die sich mit der Sozialgeschichte der frühen Arbeiterbewegung beschäftigen und die, so Rancière süffisant, nur so von Wörtern triefen, die heute als unanständig gelten: »peuple, pauvres, révolution, usine, ouvriers, prolétaires«. Also, gerade wollten wir die Nicht-Übersetzung dieser Texte als »typisch deutsch« geißeln, da erscheint das sozialhistorische Hauptwerk Rancières auf Deutsch: »Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums«, in Frankreich zuerst veröffentlicht 1981.
Die titelgebende »Nacht der Proletarier« ist keine Metapher. Rancières Buch erzählt tatsächlich vom Nachtleben einiger Proletarier im Paris der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese Proletarier verbringen ihre Nächte lesend, schreibend, studierend, Verse schmiedend und Zeitschriften planend. Es sind Proletarier, die anders sind, und die gerade darum exemplarisch werden in Rancières Geschichte. Sie leben anders, als es seinerzeit vom »Pöbel« oder von den »gefährlichen Klassen« erwartet wurde. Sie leben aber auch anders, als wohlmeinende Philanthropen es ihnen empfehlen, denn sie nutzen die kurze Zeit zwischen den Arbeitsphasen nicht zur Regeneration. Wenn wir schon, so lässt Rancière seine Helden sagen, den ganzen Tag wie Maschinen laufen müssen, dann wollen wir unsere freie Zeit nicht verschlafen. Die Arbeit ist diesen Proletariern nicht erstes Lebensbedürfnis, sie leiden unter ihrer Stumpfheit, sie verspüren einen »Schmerz der gestohlenen Zeit«. Die »demütigende Absurdität, jeden Tag um diese Arbeit zu betteln, in der sich das Leben verliert«, raubt ihnen den Schlaf.
Rancière rückt den Bruch ins Zentrum, den jeder Einzelne mit seiner sozialen Identität vollzieht. Er feiert diese Brüche und versucht, ausgehend von ihnen, die Konstitution der Arbeiterbewegung in Frankreich zu rekonstruieren. Wie entwickelt sich aus der radikalen Ablehnung der Arbeit schließlich deren Apotheose?
Einen einzigen Schlüssel zu dieser Geschichte liefert er nicht, Rancière zeichnet Pfade nach, auf denen sich das einschleicht, was keiner der Beteiligten wollte: wie aus dem Rausch, den die Eintönigkeit der Tätigkeit erzeugt und der sie erst erträglich macht, eine Berauschung durch die Arbeit wird; wie sich aus dem Stolz auf die prekäre Unabhängigkeit als Lohnarbeiter – im Gegensatz zum hündischen »Domestiken« – der Stolz auf die Arbeit entwickelt; wie die erkannte Abstraktheit der Arbeiten eine abstrakte Liebe zur Arbeit als solcher hervorbringt.
Für Rancières Protagonisten bedeutet »proletarische Emanzipation« immer Emanzipation von der eigenen condition prolétarienne; sie machen in ihren Lese- und Zeitschriftenzirkeln Ernst mit der »Selbstabschaffung des Proletariats«, wie es als Programm erst später formuliert werden wird. Unter den gegebenen Umständen aber heißt »Selbstabschaffung« für die Proletarier, dass sie versuchen, Bourgeois zu werden: Ohne jede Häme beschreibt Rancière, wie einzelne seiner Helden Unternehmer oder Politiker werden – »keineswegs notwendigerweise als Verräter«. Oder sie organisieren sich als Proletarier und werden dadurch an das gefesselt, was sie am meisten hassen: die Arbeit. Rancière malt auf bedrückende Weise aus, wie die Versuche selbstverwalteter Produktion seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Selbstausbeutung und Selbstbetrug münden. Aus der Sprach- und Symbolpolitik, die von der frühen Bewegung mit großem Ernst betrieben wurde (der Chef ist ein citoyen wie ich und du, und er hat den Hut zu ziehen, wenn er die Werkstatt betritt), wird schließlich kompensatorische Sprachkosmetik: In den »Assoziationen« der vierziger Jahre heißen die Chefs nur noch »Delegierte für besondere Dienste«.
Rancières Buch versteht sich als Intervention in die Historiographie, es will eine Alternative zur gängigen »Geschichte der Sieger« bieten. Er zeigt, wie man die Geschichte der Arbeiterbewegung durchaus als Geschichte eines Scheiterns schreiben kann, ohne auf einen unheilvollen Dritten zu rekurrieren, der alles verdorben hat: »Kleinbürger, Ideologe oder Meisterdenker«. Die Integration des Proletariats in die bürgerliche Gesellschaft ist Ergebnis der Dynamik proletarischer Emanzipation selbst, und nicht Ausdruck einer historischen Korruption: Niemand hat uns verraten (auch wenn wir die Sozialdemokraten ruhig weiter verachten dürfen).
Es ist eine Folge des Mai 1968, ein Phänomen des französischen gauchisme der Siebziger, dass Rancière sich der Historiographie widmet. So wie andere in die Betriebe gegangen sind, um das »authentische Proletariat« zu finden, so ging Rancière in die Archive. Zurück ließ er gleichermaßen den Theoretizismus seines Lehrers Althusser wie die Hoffnung auf eine avantgardistische Parteiorganisation. Die Arbeit in den Archiven führte schließlich zur Bildung des Kollektivs »Révoltes logiques«, dessen gleichnamige Zeitschrift 1975 bis 1981 erschienen ist.
Gab es im deutschsprachigen Raum eine ähnliche Politisierung der Geschichtsschreibung, oder müssen wir hier wieder auf die »deutsche Misere« zurückkommen – übrigens eine Wendung aus den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts? Die Historische Sozialwissenschaft Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas hat in Deutschland aus der Sozialgeschichte der Arbeiter und der Arbeit sehr schnell genau jene »Ordnungswissenschaft« gemacht, gegen die Rancière revoltierte. Eine Parallelaktion zu Rancières Historiographie stellte in Deutschland eher die sozialrevolutionäre Zeitschrift Autonomie dar, die sich in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts »immer auch um ein sozialhistorisches Paradigma bemüht« hat, wie Ahlrich Meyer, einer der Beteiligten, später schreiben wird. Nicht umsonst trägt eine Aufsatzsammlung Meyers, in der einige der wegweisenden Aufsätze aus der Autonomie wiederabgedruckt sind, den Titel »Die Logik der Revolten«. Man wird hier ruhig die »Révoltes logiques« mitlesen dürfen, druckt doch Meyer als Motto das Gedicht »Démocratie« von Arthur Rimbaud ab, dem Rancière und seine Genossen den Namen ihres Projekts entnommen haben: »Nous massacrerons les révoltes logiques!«.
Es ist vielleicht mehr als eine ästhetizistische Arabeske, wenn man den Unterschied zwischen Rancière und den Autoren der Autonomie an genau diesem Rimbaud-Zitat festmacht: Wo Meyer mit der Übersetzung Paul Zechs von einem »Auflehnen der Vernunft« ausgeht, das von der marschierenden Ordnung niedergemetzelt wird, und damit an einer klaren Gegenüberstellung von Ordnung und Macht einerseits und Vernunft andererseits festhält, da bleibt bei Rancière absichtsvoll unklar, ob hier die »logischen Revolten« nicht auch Revolten gegen Logik und Vernunft sein könnten – hat sich doch gerade die Vernunft immer wieder als stärkste Verbündete der herrschenden Ordnung erwiesen.
Die von der Autonomie repräsentierte Form der Gegengeschichte blieb in Deutschland vielfach in Dualismen befangen: Gegenüber der »offiziellen« (Fach-)Arbeiterklasse suchte man eine »andere Arbeiterklasse« (K. H. Roth), die renitent gegen alle Integrationsangebote blieb, oder man identifizierte sich mit den »pauperisierten Massen der drei Kontinente« (A. Meyer), die in den Anti-IWF-Ausschreitungen der achtziger Jahre auf den Plan getreten waren. Rancière zeigt eher, wie die andere immer schon in die eine Arbeiterklasse übergeht, und wie die Revolte selbst zur Voraussetzung der Integration wird. Trotzdem hält er den Impuls fest, der die Proletarier aus sich selbst und ihren sozialen Nischen heraustreibt, und verleiht diesem Impuls eine historiographische Weihe. Die Möglichkeit, anders zu werden, ist dabei kein bloßes, womöglich ahistorisches Postulat. Im Vorwort zur englischen Ausgabe von 2012, das der deutschen Ausgabe beigegeben ist, behauptet Rancière die Aktualität jener Zeit, die er untersucht und die in Deutschland Vormärz genannt wird: »Die aktuellen Formen des Kapitalismus, das Auseinanderbrechen des Arbeitsmarkts, die Vernichtung der Systeme gesellschaftlicher Solidarität und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse erzeugen Arbeitserfahrungen und Lebensformen, die möglicherweise jenen dieser Handwerker aus der Vergangenheit näher sind als dem Universum der immateriellen Arbeit (…), das uns so selbstgefällig entworfen wird.«
Wie kommen wir vom frühen Rancière zum heutigen? Der heutige scheint seine alten Intentionen immer noch zu vertreten, auch wenn er sich irgendwann vom »Proletariat« (als Name und Begriff) verabschiedet hat. An dessen Stelle traten die »Armen«; mit der Fundamentalkritik an der westlichen Philosophie aber, die seit Platon darauf gründe, den Armen einen Platz außerhalb des Denkens anzuweisen – so Rancière in seiner großen Studie »Le philosophe et ses pauvres« von 1983, die unlängst auf Deutsch erschienen ist –, kehrt paradoxerweise auch bei Rancière selbst die große Philosophie zurück.
Interviews aus den siebziger und achtziger Jahren, die unter dem schönen Titel »Und die Müden haben Pech gehabt« veröffentlicht wurden, belegen indes schon früh ein Interesse am ästhetischen Bild, das sich auch in »Die Nacht der Proletarier« bemerkbar macht. Die Frage der Klassenidentität wird hier eng mit den zur Verfügung stehenden Bildern von Klasse in Verbindung gebracht. Irgendwann wurde für Rancière dann die Intervention in das herrschende Bildregime zur wirksamsten politischen Intervention überhaupt. Dass ihm in den Kunstwelten (und im »Universum der immateriellen Arbeit«) dafür heute heftig applaudiert wird, ist wenig verwunderlich.
Aber wir wollen eine Geschichte ohne Korruption erzählen: So wie bei Rancières Proletariern im Bruch schon die spätere Etablierung angelegt ist, so finden sich in Rancières historiographischem Bruch mit der Philosophie bereits die Ansätze zu seiner neuen philosophischen Großtheorie. Mit diesem beunruhigenden Widerspruch wird man umgehen müssen. Für deutschsprachige Leser bleibt indes eine beruhigende Perspektive: Solange jetzt erst einmal die älteren übersetzt werden, kommen wir in den Genuss immer besserer Bücher Rancières.

Jacques Rancière: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums. Aus dem Französischen von Brita Pohl, Turia & Kant-Verlag, Wien 2013, 486 Seiten, 40 Euro