Die deutschen »Lebensschützer« und ihre Aktivitäten

Märsche mit besten Grüßen

In Deutschland werden die Abtreibungsgegner aktiver. Lange wurde das Thema nicht mehr diskutiert, das ändert sich ­jedoch seit einiger Zeit.

Gibt man den Begriff »Abtreibung« in eine Internet-Suchmaschine ein, erscheinen auf der ersten Seite nicht nur Links zu den Webseiten selbsternannter »Lebensschützer«. Problematischer sind die scheinbar neutralen Beratungsseiten, die der hilfesuchenden Schwangeren vordringlich erklären, »wie sich das Baby im Körper der Frau normalerweise entwickelt«. Junge Frauen, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken, können von solchen tendenziösen Informa­tionen und den dazugehörigen Bildern zutiefst verunsichert werden. Damit ist das Ziel der Abtreibungsgegner, »ungeborenes Leben« zu retten, schon fast erreicht.
Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland seit 1995 rechtswidrig, bleibt aber straffrei, wenn die ungewollt Schwangere sich an einige Regeln hält. Dazu gehören die Einhaltung einer Zwölf-Wochen-Frist, ein Beratungsgespräch und eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen diesem und dem Abbruch (Beratungsregelung). Dauert die Schwangerschaft bereits länger als zwölf Wochen an, muss eine medizinische Indikation (Gefahr für die Gesundheit der Frau) vorliegen. Feministinnen sehen diese Regelung keineswegs als ausreichend liberal an. Sie kritisieren die »Zwangsberatung«, die Bedenkzeit, die bei medizinischen Eingriffen unüblich ist, und fordern die Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt eine ambivalente Situation. Im vorigen Jahr wurden dem Statistischem Bundesamt zufolge 107 000 Abbrüche in Deutschland durchgeführt. Die Zahl sinkt jedes Jahr geringfügig. 97 Prozent der Eingriffe wurden nach der Beratungsregelung vorgenommen. Zu 70 Prozent wird per Absaugung abgetrieben, in 16 Prozent der Fälle mit der Abtreibungspille (Mifegyne). Deren Anteil steigt langsam, um etwa ein Prozent pro Jahr. Ausschabungen sind tendenziell körperlich anstrengender für die Frau und beinhalten die Gefahr der Uterusperforation. Von Frauengesundheitsaktivistinnen wird die immer noch zu hohe Zahl der Ausschabungen kri­tisiert und damit in Zusammenhang gebracht, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht Teil des Lehrplans für angehende Ärzte sind.
Auf »Abtreibungstourismus« deuten jene sechs Prozent der Fälle hin, bei denen Frauen den Eingriff in einem Bundesland vornehmen ließen, in dem sie nicht wohnten. Von der Statistik nicht erfasst werden die Fälle, in denen Frauen, ohne ihr Bundesland zu verlassen, dennoch weite Strecken zurücklegen müssen, da in ländlichen Gebieten immer weniger Gynäkologen bereit sind, Abbrüche durchzuführen. Darauf weist die Geschäftsführerin des Familienplanungszentrums Balance in Berlin, Sybill Schulz, hin. In Deutschland herrschen ein Stadt-Land- und ein Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich der Zugänglichkeit von Abtreibungen.

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche also immer noch im Strafgesetzbuch unter den Tötungsdelikten geführt werden und die Bedingungen keineswegs unproblematisch sind, war das Thema lange kein Gegenstand gesellschaftlicher Debatten mehr. Auch eine neue Generation von Feministinnen und Queerfeministinnen assoziierte damit eher eine Auseinandersetzung der Frauenbewegung der siebziger Jahre als ein gegenwärtiges Problem. Geändert hat sich das allerdings in den vergangenen Jahren durch gesellschaftliche Debatten über Spätabtreibungen und Pränataldiagnostik sowie die zunehmenden Aktivitäten der Abtreibungsgegner.
Der »Bundesverband Lebensrecht« (BVL) ist ein Dachverband von 14 deutschen und österreichischen Organisationen von Abtreibungsgegnern mit Sitz in Berlin. Seine überwiegend katholischen und evangelikalen Mitglieder agitieren mit »Gehsteigberatungen« vor Arztpraxen, Plastik­embryonenverschickungen und den »Märschen für das Leben« gegen Abtreibung. Die Zahl der Teilnehmer am Berliner Marsch, die aus der ganzen Bundesrepublik und teilweise aus dem Ausland anreisen, wächst von Jahr zu Jahr. Hatten die Organisatoren anfänglich Schwierigkeiten, die 1 000 Holzkreuze, die von den Teilnehmern getragen werden, überhaupt loszuwerden, konnten in diesem September zudem viele Schilder mit fragwürdigen Aufschriften wie »Kindergeld an Ungeborene« an die 4 500 Teilnehmer verteilt werden. Damit gleicht der Marsch mittlerweile tatsächlich einer politischen Demonstration und nicht wie in den ersten Jahren einem wandelnden Friedhof.

An den Grußworten für den Berliner »Marsch für das Leben«, der seit 2008 alljährlich im September durchgeführt wird, lässt sich ablesen, welche Politiker sich öffentlich für den »Lebensschutz« einsetzen. Mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, der seit 1986 stellvertretender Bundesvorsitzender der »Christdemokraten für das Leben« ist, und Volker Kauder, dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, senden seit Jahren zwei hochrangige konservative Politiker den Teilnehmern des Marsches Ermunterung und Grüße. Das zeigt, dass es sich hier keineswegs nur um religiöse Spinner und Außenseiter handelt. Obwohl die politischen Grußworte alle aus der CDU kommen, gilt die Partei den »Lebensschützern« als zu links. Ein Höhepunkt dieser Kritik war der medienwirksame Austritt des Vorsitzenden des Bundesverbands Lebensrecht, des Publizisten Martin Lohmann, aus der CDU, nur wenige Tage vor dem diesjährigen »Marsch für das Leben« und der Bundestagswahl.
Den Alltag in den Beratungsstellen für Schwangerschaftsabbrüche versuchten die Abtreibungsgegner »seit Jahren bundesweit systematisch« durch Anzeigen, Beschwerden bei den Ärztekammern und Tötungsvorwürfe zu stören, sagt Sybill Schulz vom Familienplanungszentrums Balance. Den gesellschaftlichen Einfluss der »Lebensschützer« abzuschätzen, ist schwierig. Das antifaschistische Pressearchiv Apabiz, das die Szene der »Lebensschützer« regelmäßig analysiert, erklärt, dass die verschiedenen Verbindungen zwischen den Organisationen und Institutionen noch zu wenig untersucht seien. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Einfluss der Abtreibungsgegner mit ihrem Engagement zunimmt.