Der linke Antirassismus muss sich neu erfinden

Antirassismus jetzt!

Der Kampf gegen gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus ist wieder zu einem wichtigen Schauplatz emanzipatorischer Kritik und Praxis geworden. Die europaweiten Flüchtlingsproteste eröffnen eine neue Perspektive für transnationale Bündnisse. Die radikale Linke muss sich in diesem Prozess neu erfinden.

Die Schwierigkeiten eines konsequenten Antirassismus in Deutschland ließen sich zuletzt in der Kleinstadt Schneeberg im Erzgebirge studieren. Nachdem die NPD bis zu 1 500 Bürger zu Fackelmärschen gegen eine Notunterkunft für Aslysuchende auf die Straße gebracht hatte, riefen die staatstragenden Parteien und Verbände für den 16. November zu einer Gegenkundgebung »für Menschlichkeit« auf. Ihr Hauptredner war der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU), der die rigideste Abschiebepraxis aller Bundesländer zu verantworten hat. Dem Aufruf regionaler Antifa-Gruppen zu einer Demonstration am gleichen Tag folgten rund 1 500 Linke, durchweg von außerhalb, so aus Dresden, Leipzig, Göttingen und Berlin. Das war ein riesiger Mobilisierungserfolg – der in gewohnter Weise stigmatisiert, teils aber auch vereinnahmt wurde: Während Polizei und Medien die linke Demo als gefährlichen Wanderkessel inszenierten, wurde deren Teilnehmerzahl kurzerhand der spärlich besuchten Staatskundgebung gutgeschrieben. Ulbig vertrat dort im Wesentlichen die Position der Nazis, mit der auch schon die SPD Wahlen gewonnen hatte: Kriminelle Ausländer raus, und zwar schnell. Fürs Menschliche war Bürgermeister Frieder Stimpel (CDU) zuständig, der an die Nächstenliebe appellierte. Die Deutungshoheit des bürgerlichen Blocks war wiederhergestellt. Die von den antirassistischen Gruppen in zahlreichen Aufrufen und Redebeiträgen formulierte Kritik am deutsch-europäischen Lager- und Abschieberegime wurde selbst in überregionalen Medien konsequent unterschlagen.

Dieser staatsbürgerliche Wahrnehmungsfilter, diese hinlänglich bekannte Unfähigkeit, Flucht, Migration und Rassismus im übergreifenden Zusammenhang globaler Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse zu begreifen, lässt sich mit den Zumutungen linksradikaler Szene-Rhetorik kaum hinreichend erklären. Seit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks fehlt einer solchen Kritik schlicht eine machtpolitische Basis, ein historisches – und sei es bloß eingebildetes – Subjekt. Die neoliberale Rosskur der vergangenen 30 Jahre und die anhaltende Krise der EU haben im politischen Imaginären der Gegenwart nur noch die Nation übrig gelassen, als Schicksalsgemeinschaft panischer Konkurrenzsubjekte. Wie bei den Schneeberger Charaktermasken von der CDU schwankt deren Nationalismus zwischen autoritärer Ordnungspolitik und selbstgefälliger Menschlichkeit. Er gebiert die Monster des deutschen und europäischen Rassismus der Gegenwart: das Bild jener geschichts- und gesichtslosen Masse Nicht-Weißer, die aus den Tiefen einer fremden bis feindseligen Welt auf Europa zumarschiert; »Kriminelle« und »Asylbetrüger«, die man schon mal »bis zur letzten Patrone« (Horst Seehofer) niedermähen darf; allenfalls »Armutsflüchtlinge«, denen »in ihren Herkunftsländern« geholfen werden soll, die hier aber zu Objekten brutalstmöglicher Fürsorge gemacht werden: entmündigt, isoliert, systematisch unterversorgt, zu dauerhafter Ohnmacht und Unsicherheit verdammt.
Das sind die institutionellen und ideologischen Ausgangsbedingungen antirassistischer Politik heute. Ihre Untiefen und Widersprüche sind zuletzt der radikalen Linken anzukreiden. Wo Jahr für Jahr mindestens Hunderte, in der Regel aber Tausende Menschen durch ein steuerfinanziertes Grenzregime umgebracht werden, ist es reichlich vermessen, die Gefahren einer neuen völkischen Bewegung in Deutschland in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken. Die Katastrophe findet bereits statt, hier und heute, vor unseren Augen. Es ist also kaum beruhigend, dass »die Nazis in großen Teilen der Republik weder kampagnen- noch mobilisierungsfähig« sind, wie Andrej Reisin an dieser Stelle einwandte (Jungle World 46/2013). Für ein rassistisches Pogrom braucht es keine faschistische Massenbasis, das schaffen auch ganz normale Bürger. Herzzerreißend naiv auch das Vertrauen, das Felix Schilk und Tim Zeidler in der vorigen Ausgabe (48/2013) in die karitativen Impulse der Mehrheitsgesellschaft setzten, in ihre Bereitschaft, »sich an Begegnungen und Spendensammlungen« für Asylsuchende zu beteiligen. Abgrundtief unsolidarisch schließlich ist ihr Vorwurf, die antirassistische Mobilisierung bediene lediglich »das eigene Bedürfnis, sich moralisch als Beschützer zu inszenieren, obwohl im Ernstfall wohl nur die Polizei ein drohendes Pogrom verhindern würde«.

Die antirassistische Linke tut gut daran, weder der Mehrheitsgesellschaft noch dem Staat und seiner Polizei zu trauen. Genau das ist die Lehre aus Rostock-Lichtenhagen und aus dem NSU-Skandal – und sie wurde offenbar beherzigt. Ob in Berlin-Hellersdorf, Duisburg oder Schneeberg: An vielen der neuen Hotspots rassistischer Bürgerproteste zeigten antirassistische Gruppen frühzeitig Präsenz, dokumentierten Übergriffe, organisierten Gegenproteste und entwickelten Strukturen zur Unterstützung der Flüchtlinge. Der Slogan »Refugees Welcome« wurde zum inoffiziellen Motto dieser inzwischen bundesweiten Basisarbeit. Die tragenden Gruppen machen sich in der Regel keine Illusionen über die Grenzen des staatlichen und zivilgesellschaftlichen Humanismus. Anders als in den Neunzigern folgt daraus aber keine Absage an pragmatische Bündnisarbeit. Dazu ist der Rassismus auch einfach zu virulent.
An Ort und Stelle geht es zunächst einmal darum, die Dynamik der rassistischen Selbstermächtigung zu stoppen. In Berlin-Hellersdorf etwa gelang das mit einer Doppelstrategie aus antirassistischer Aktion und zivilgesellschaftlicher Aufbauarbeit: Als der NPD- und Nachbarschaftsmob vor die Notunterkunft zog, waren linke Gruppen sofort zur Stelle und errichteten eine Dauermahnwache, die mit großem Einsatz über mehrere Wochen aufrechterhalten wurde. Das Bündnis »Hellersdorf hilft« appellierte derweil an den bürgerlichen Anstand der Anwohner und organisierte eine Spenden- und Unterstützungskampagne als niedrigschwelliges Mitmachangebot. Der rassistische Bürgerprotest konnte so von den Geflüchteten abgelenkt, eingeschüchtert und delegitimiert werden. Eine weitergehende Kritik am Lager- und Abschieberegime war aber nicht zu vermitteln. Bei der Abschlussdemonstration im Bezirk blieb die antifaschistische Linke weitgehend unter sich.

In Hamburg ist man einen Schritt weiter. Eine Gruppe von 300 Lampedusa-Flüchtlingen und ihre Unterstützer verfolgten dort von Anfang an die Strategie, die ideologischen und institutionellen Barrieren der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzugreifen – etwa mit einer entschieden politischen Intervention auf dem Evangelischen Kirchentag im Mai, und erst recht mit dem Eintritt der Flüchtlingsgruppe in die Gewerkschaft Verdi, was dort intern zu schweren Zerwürfnissen führte. Mit ihrer Kampagne für eine Grup­pen­anerkennung nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes nahmen sie die Landesbehörden in unmittelbare Verantwortung. Die hatten sich bis dahin stets für unzuständig erklärt und gleichzeitig versucht, den Flüchtlingsprotest durch erzwungene Einzelfallprüfungen zu entpolitisieren. Eine zu diesem Zweck durch Innensenator Michael Neumann (SPD) veranlasste tagelange Polizeihatz auf die Lampedusa-Gruppe hat weite Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit in Aufruhr und über Wochen immer wieder auf die Straße gebracht. Derzeit wird unter anderem ein landesweiter Schulstreik in Solidarität mit den Geflüchteten vorbereitet. Sollte all das ein »Aufstand der Anständigen« sein, dann richtet er sich immerhin gegen den Staat selbst, und nicht alleine gegen Nazis. Das gab es in Deutschland schon lange nicht mehr.
Inzwischen gibt es aussichtsreiche Versuche, die antirassistischen Kämpfe des vergangenen Jahres zusammenzuführen. In Berlin tagten vorige Woche Unterstützungsgruppen aus mehreren Bezirken. Für Mitte Dezember ist ein bundesweites Koordinationstreffen in Hannover geplant. Natürlich besteht die Gefahr, dass solche Initiativen vor allem antirassistische Feuerwehrpolitik betreiben und sich darin erschöpfen, ideologische Brandherde austreten. Angesichts des eskalierenden Krisennationalismus und Rassismus in Europa wäre selbst das kein geringes Verdienst. Doch anders als der Antifaschismus der neunziger Jahre und der Jahrtausendwende stehen die antirassis­tischen Initiativen heute im Zeichen der anhaltenden Flüchtlingsproteste in Deutschland und Europa und sind in vielen Fällen solidarisch in sie eingebunden. Diese refugee struggles sind transnational und lassen sich auch durch noch mehr autoritäre Migrationskontrolle nicht eindämmen. Die Kritik des europäischen Lager- und Abschieberegimes ist ganz unmittelbar auch eine Kritik globalisierter Gewaltverhältnisse, eine Kritik des realexistierenden Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Die radikale Linke hat die einmalige Chance, in diesem Kampf das Projekt universeller Befreiung neu aufzunehmen.