Cyborg-Technologien und Behinderung

Die Abschaffung der Behinderung

Von Enno Park

Die wachsenden Möglichkeiten, durch Technologie Behinderungen auszugleichen und natürliche Fähigkeiten zu ­verbessern, führen zu einem neuen Verständnis von Normalität und Behinderung – nicht aber zu einem Ende der ­Diskriminierung.

Ich habe ein künstliches Gehör. Mehr als 20 Jahre lang lebte ich an der Grenze zur Gehörlosigkeit und trug Hörgeräte, die alles enorm verstärkten. Was da bei mir ankam, war akustischer Matsch, aber immerhin konnte ich Sprache verstehen. Wenn es absolut ruhig war. Und ich meinem Gegenüber beim Zuhören auf den Mund schauen konnte. Vor drei Jahren entschied ich mich für ein Cochlea-Implantat. Seitdem sitzt bei mir ein Empfänger von der Größe einer Zwei-Euro-Münze hinter dem Ohr eingebettet in meinem Schädelknochen. Von dort haben die Ärzte einen Kanal bis in mein Innenohr gefräst und darin ein Kabel verlegt, das an meinem Hörnerv endet. Ein Prozessor, den ich wie ein Hörgerät hinter dem Ohr trage, wandelt alle Geräusche in ein elektronisches Signal um. Winzige Elektroden in meinem Innenohr geben schwache Stromstöße an meinen Hörnerv ab und in meinem Gehirn entsteht der Eindruck von Klang. Ich höre, und das sogar ziemlich gut. Unter Laborbedingungen schaffe ich 100 Prozent Sprachverständnis. Vor der Operation waren es 25 Prozent. Ich kann wieder telefonieren, mir Filme ohne Untertitel ansehen und auf Partys flirten.

Seitdem bin ich ein Cyborg – ein Mischwesen aus Mensch und Maschine. Ein klein wenig darf ich mich wie der Terminator fühlen, auch wenn eine Laserkanone nicht zum Lieferumfang gehört. Mein elektronisches Gehör ist alles andere als perfekt und dem natürlichen Gehör in vielerlei Hinsicht unterlegen, aber ich habe auch ein paar »Superkräfte«. Beispielsweise kann ich zwischen verschiedenen Programmen umschalten, und bei einem dieser Programme wird das Umgebungs­geräusch abgesenkt, während ein mir gegenüber sitzender Gesprächspartner akustisch herangeholt wird. In bestimmten Situationen verstehe ich mehr als normalhörende Menschen. Ich würde gerne noch weiter gehen, zum Beispiel Ultraschall hören können. Dann könnte ich nicht nur das Gezwitscher der Vögel wahrnehmen, sondern auch das der Fledermäuse.
An so etwas denkt man natürlich vor einer solchen Operation nicht. Es war schlicht eine Reparatur: Man hat mir ein Ersatzteil eingebaut wie einem alten Auto. Der Reparaturbetrieb hat in den vergangenen Jahren Fahrt aufgenommen, da Prothesen immer besser werden. Mehr als 200 000 Menschen tragen weltweit ein Cochlea-Implantat. Hinzu kommen Beinprothesen mit elektronisch gesteuerten Servomotoren, Herzschrittmacher, die allerlei Körperfunktionen auslesen und verarbeiten, Retina-Displays, die blinde Menschen wieder sehen lassen, wenn auch derzeit noch schemenhaft, Hirnstammimplantate, mit denen ein Hören auch dann möglich ist, wenn der Hörnerv selbst angegriffen ist, Elektroden im Gehirn, die bestimmte Formen von anders nicht behandelbaren Kopfschmerzen beseitigen oder die Symptome von Parkinson-Patienten lindern, und sogar Roboterarme, die von vollständig gelähmten Menschen per Gedankenkraft gesteuert werden. All diese Menschen gewinnen so ein Stück Autonomie zurück.

Zugleich arbeiten immer mehr Forscher und Hacker an Geräten, die nicht nur eine Behinderung ausgleichen, sondern die Fähigkeiten und vor allem Sinne des Menschen erweitern sollen. Das einfachste Beispiel kommt aus dem Piercing-Studio: Ein reiskorngroßer Magnet im Finger lässt seinen Träger elektromagnetische Felder erspüren. Läuft die Mikrowelle oder treten wir durch eine Sicherheitsschleuse, macht sich das mit einem leichten Vibrieren bemerkbar. Ein winziger Chip kann bereits in naher Zukunft dafür sorgen, das ein Mobiltelefon nur noch von seinem Besitzer bedient werden kann – oder eine Schusswaffe nur von derjenigen Person abgefeuert, auf die sie zugelassen ist. Die Technik muss auch nicht zwingend in den Körper eingebaut werden. Datenbrillen wie Google Glass machen das Internet permanent sichtbar, das uns längst überall unsichtbar umgibt. In Form des Smartphones tragen die meisten von uns heute schon ständig das Internet bei sich. Die Symbiose, die wir mit Technik aller Art eingegangen sind, ist so eng geworden, dass wir kaum bemerkt haben, dass wir alle seit Jahren schon mehr oder weniger zu Cyborgs geworden sind.
Die Abschaffung der Behinderung ist ein Traum, der leicht zu einen Alptraum werden kann. Die technologischen Möglichkeiten setzen Menschen unter Druck, ihre Handicaps auszugleichen, damit sie so leistungsfähig werden wie der Durchschnitt. Wer behindert ist, wird sich immer häufiger die Frage anhören müssen, warum er sich nicht reparieren lässt. Und wer sich ohne medizinische Notwendigkeit ein Implantat einsetzen lassen will, wird in Europa Mühe haben, einen Arzt zu finden, der den Eingriff vornimmt. Es gibt eine unausgesprochene Norm, wie wir zu sein haben, und auf diese Norm arbeitet unsere Gesellschaft hin. Eine solche gesellschaftliche Norm bedeutet jedoch das Gegenteil von Vielfalt. Wer anders ist, hat sich zu ändern oder muss sehen, wo er bleibt. Das ist das Gegenteil von Inklusion, Emanzipation und individueller Freiheit.

Das Cochlea-Implantat ist hier ein gutes Beispiel: Gehörlose Menschen haben über die Jahrhunderte ihre eigene Kultur herausgebildet mitsamt einer eigenen Sprachform, der Gebärdensprache. Wir täten den 80 000 Gehörlosen in Deutschland keinen Gefallen, würden wir sie alle mit Cochlea-Implantaten versorgen. Nur wer hörend geboren ist oder in den ersten Lebensmonaten ein Implantat erhält, bildet in der frühkindlichen Entwicklung die nötigen Hirnstrukturen heraus, um all die Klänge auch verarbeiten zu können. Für die meisten spätertaubten Menschen ist das Cochlea-Implantat ein wundervolles Geschenk. Für gehörlos Geborene hingegen ist es oft nur ein nettes Gadget, mit dem sie immerhin Geräusche wahrnehmen können, nicht selten aber eine Quälerei, die mit endlosen Reha-Sitzungen einhergeht. »Du hast doch diese tollen Implantate, warum verstehst du mich trotzdem nicht?« sagen die Mitmenschen und ein Gehörloser fragt sich voller Selbstzweifel, was mit ihm nicht stimmt. Etliche haben ihr Implantat nach einiger Zeit wieder entfernen lassen.
Tatsächlich sind wir immer noch sehr weit davon entfernt, Menschen reparieren zu können. So faszinierend die technischen Möglichkeiten sind: Es gibt zahllose Erkrankungen und Behinderungen, die wir bestenfalls lindern können, und immer müssen wir abwägen, ab wann eine medizinische Behandlung zur Tortur wird. »Behindert ist man nicht, behindert wird man«, lautet ein Slogan der Behindertenverbände, der die Forderung nach mehr Inklusion und Barrierefreiheit zum Ausdruck bringt. Völlige Inklusion ist ein Ideal, das von einer Gesellschaft nie ganz erfüllt werden kann. Die Türme des Kölner Doms werden wir eher nicht rollstuhlgerecht umbauen. »Behindert oder nicht?« ist eine Frage, die sowieso in vielen Fällen gar nicht so leicht zu beantworten ist. Zwischen »behindert« und »überdurchschnittlich begabt« gibt es einen fließenden Übergang und wir alle haben unsere ganz eigenen Talente und Mankos. Es geht bei Inklusion und Barrierefreiheit nicht darum, behinderte Menschen als schutzbedürftige Wesen anzusehen, die wir aus Mitleid hegen und pflegen, sondern um die Frage, ob wir Vielfalt zulassen und bereit sind, allen Menschen einen Platz in unserer Gesellschaft zu geben, an dem sie ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können.
Ob am Eingang zum Café die Rampe für Rollstuhlfahrer fehlt oder ein Verbotsschild für Google Glass angebracht wird: In beiden Fällen wird jemand ausgeschlossen. Cyborg-Technologien erlauben es uns, ein wenig mehr als bisher die­jenigen zu werden, die wir gerne sein möchten. Sie vermehren unsere Freiheit und unsere Möglichkeiten, emanzipiert und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Erweitern wir unsere Sinne, nehmen wir mehr von unserer Umgebung wahr und kommen unserer Umwelt und unseren Mitmenschen ein Stück näher. Dabei darf aber nicht gesellschaftlicher oder ökonomischer Druck den Ausschlag geben, sondern allein die Frage, wer wir sein und wie wir leben möchten.

Der Autor ist Vorsitzender von Cyborgs e. V. i. Gr.