Die Europapolitik der Linkspartei

Die Stunde der Europäisten

Angesichts der bevorstehenden Wahl zum Europaparlament führt die Linkspartei eine heftige Programmdiskussion über ihre EU-Politik.

»Hier trennt sich die Spreu vom Weizen.« So kommentierte Diether Dehm, der europapolitische Sprecher der Linkspartei im Bundestag, dem Sender N-TV zufolge die uneinheitliche Niederlegung von Nelken durch führender Politiker seiner Partei auf der traditionellen Gedenkdemonstration für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin-Friedrichsfelde am vergangenen Sonntag. Während der Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Gregor Gysi, sowie die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger auch an einem Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus verweilten und Blumen niederlegten, zogen Dehm und seine Gesinnungsgenossen Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht demonstrativ weiter.

Die tiefen Konflikte in der Linkspartei, die in diesen Szenen deutlich wurden, waren auch durch einen harten parteiinternen Streit um das Programm für die Wahl des Europaparlaments erneut in die Schlagzeilen gekommen. Es kursierten Vorwürfe, manche führende Mitglieder zeigten nationalistische Tendenzen und strebten eine fundamental gegen die EU gerichtete Politik an, die die Linkspartei in die Nähe rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) rücken würde. Der Versuch der Parteiführung und des Moderators Dehm, gleich nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration auf der Veranstaltung zum Wahlkampfauftakt der Partei der Europäischen Linken (EL) in der Volksbühne Einigkeit zur Schau zu stellen, wirkte da eher grotesk.
Die Auseinandersetzungen um die Europapolitik schwelen in der Linkspartei bereits seit längerem. Eine größere Öffentlichkeit nahm jedoch erst Anfang Januar von den Kontroversen Notiz, nachdem sich Gysi öffentlich von dem Entwurf eines Europawahlprogramms seiner Partei distanziert hatte. In der Präambel dieses Entwurfs des Parteivorstands wird die EU als »neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht« bezeichnet. Diese und andere Formulierungen nannte Gysi »nicht ganz gelungen«, zeigte sich aber zuversichtlich, dass auf dem Parteitag im Februar »noch etwas geändert wird«.
Außerdem kritisierte Gysi die in dem Ent­wurf enthaltene Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der Nato, die ihm »zu national gedacht« sei. »Das hieße ja, die Nato bleibt, wie sie ist, nur Deutschland nimmt nicht mehr daran teil«, sagte er der DPA. Stattdessen sprach er sich dafür aus, die Forderung nach einer Auflösung der Nato und der Schaffung eines neuen Systems für Sicherheit und Zusammenarbeit in das Programm aufzunehmen. »Für uns linke Internationalisten gibt es kein Zurück zum früheren Nationalstaat. Wir müssen Befürworter der europäischen Integration sein«, sagte Gysi.
Wenig später meldeten sich weitere Vertreter des sogenannten Reformflügels der Partei zu Wort. So forderte Dietmar Bartsch dem Neuen Deutschland zufolge ebenfalls Korrekturen am Programmentwurf. Auch Stefan Liebich, der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, befand Teile des Entwurfs im Gespräch mit N-TV für »total schlecht«. Zudem warnte er, dass SPD und Grüne die Debatte im Hinblick auf die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Regierungskoalition nach 2017 genau verfolgen würden. Im Namen des »Forums Demokratischer Sozialismus«, dem er angehört, kündigte er einen umfassenden Änderungsantrag zum Wahlprogramm an.

Während das Vorstandsmitglied Heinz Bierbaum und die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen die Kritik am Entwurf konterten und auf das Wahlprogramm zur Bundestagswahl und das Grundsatzprogramm der Linken verwiesen, in denen mit denselben Formulierungen unter anderem der Austritt aus der Nato gefordert wird, fiel Dieter Dehms Reaktion auf die Kritik weitaus schärfer aus. Seit längerem schon »tricksen die Parteimäßiger und die sie stützenden Medien mit Begriffen«, wurde er im Neuen Deutschland zitiert. Gemeinsam mit dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gehrcke hatte er schon früh einen Alternativentwurf zum Vorschlag des Parteivorstands vorgelegt, gegen den sich der derzeit diskutierte Text tatsächlich proeuropäisch ausnimmt. In dem Entwurf wird »unser gutes Grundgesetz« als wirksames Mittel gegen das »Europa der Eliten« empfohlen. Der EU wird »ein Generalangriff auf die erkämpften Standards, auf Löhne und Sozialstaatlichkeit, wie sie im nationalen Recht verankert sind«, vorgeworfen. Im Kampf gegen »Nationalisten und rechte Chauvinisten sind wir wirkungsmächtiger mit den nationalstaatlich verankerten Sozialgesetzen«, heißt es in verfassungspatriotischem Duktus weiter.
Insbesondere die Angst vor erneuten Verlusten an die AfD, die der Linkspartei bei der Bundestagswahl 340 000 Stimmen abgenommen hatte, dürfte Dehm und seine Mitstreiter umtreiben. In einer Kritik am Programmentwurf des Parteivorstands, die Dehm, Gehrcke, Dağdelen und andere verfasst haben und die bereits im November in dem der Strömung »Antikapitalistische Linke« nahestehenden Online-Magazin »Freiheit durch Sozialismus« veröffentlicht wurde, wird dem Vorstand »Europäismus« vorgeworfen. Indem ein »verklärtes illusionistisches Bild der EU« gezeichnet und auf konsequente linke EU- und Euro-Kritik verzichtet werde, überlasse man das Feld der AfD und riskiere deren weitere Stärkung. Dem Vorstand wird vorgeworfen »eine Absage an den Nationalstaat« zu betreiben, »der im Bewusstsein der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Ort der Demokratie und der Volkssouveränität ist«.
Nach Ansicht des stellvertretenden Parteivorsitzenden Axel Troost handelt es sich bei dem aktuellen Entwurf des Vorstands um einen Kompromiss, der darauf abzielt, in der Partei möglichst breite Zustimmung für das Wahlprogramm zu gewinnen. Daher habe man, so Troost im Gespräch mit der Jungle World, in der Hoffnung auf einen gemeinsamen Vorschlag der verschiedenen Strömungen einzelne Formulierungen aus dem Alternativantrag übernommen, so auch die von Gysi kritisierten. Dehm und Gehrcke dachten ­allerdings nicht daran, ihren Entwurf zurückzuziehen. Dieser habe jedoch keinerlei Erfolgschancen, sagt Troost. »Mit großer Sicherheit wird es auf dem Parteitag breite Mehrheiten für die von Gysi und anderen geforderten Änderungen am Wahlprogramm geben.« Dies erscheint an­gesichts des großen Einflusses der ostdeutschen Landesverbände wahrscheinlich.

Der Umgang der Partei mit Jürgen Klute, seit 2009 Abgeordneter der EL im Europaparlament, wirft dennoch Fragen auf. Er kritisiert die Euro­papolitik seiner Partei scharf. »Der Programmentwurf der Linkspartei für die Europawahl spricht eine dezidiert antieuropäische Sprache. Die Ver­teidigung der Nation als Schutzraum vor schädlichen äußeren Einflüssen entspricht in Diktion und Argumentation exakt der ideologischen Positionierung des ›Rechtsblocks‹ von Marine Le Pen und Geert Wilders«, sagt er der Jungle World. Die Linke könne sich nicht länger mit fadenscheinigen Kompromissen vor einer grundsätzlichen Entscheidung zu ihrer Europapolitik drücken.
Für die deutliche Kritik an den nationalistischen Tendenzen in seiner Partei war Klute bereits im Dezember im sogenannten Bundesausschuss abgestraft worden. In dem Gremium, in dem Klute zufolge eine »durchgehend EU-feindliche Positionierung« vorherrscht, erhielt er bei seiner Bewerbung um den aussichtsreichen sechsten Platz der Vorschlagsliste für die Kandidaten zur Euro­pawahl nur drei von 74 möglichen Stimmen. Die Spreu wird vom Weizen getrennt.