Vibhuti Patel im Gespräch über die Ursachen der wachsenden Gewalt in Indien

»Sexualisierte Gewalt ist alltäglich«

Die Professorin für Sozioökonomie und Gender Studies an der Frauenuniversität in Mumbai und Präsidentin der indischen Frauenorganisation Women Power Connect im Gespräch über die Zunahme von Gewalt in Indien, deren Ursachen und die Forderugen der Frauenbewegung.

Seit Dezember 2012, als Jyoti Singh Pandey in einem Bus in Delhi von sechs Männern vergewaltigt wurde und infolgedessen starb, ist die internationale Öffentlichkeit auf das Thema der Gewalt gegen Frauen in Indien aufmerksam geworden. Hat diese Gewalt in den vergangenen Jahren wirklich zugenommen oder wird sie in den Medien mehr thematisiert?
Es ist beides wahr. Seit dem 16. Dezember 2012 haben immer mehr Frauen – auch dank der landesweiten Proteste und der Initiativen der Frauenbewegung – Vergewaltigungen und Sexualübergriffe angezeigt, zum einen, weil sich viele junge Frauen mit dem Opfer identifizierten, zum anderen, weil die öffentliche Debatte sehr viele Leute für dieses Problem sensibilisiert hat. Der Druck der Zivilgesellschaft scheint in gewisser Weise auf die Behörden gewirkt zu haben, denn es wurden immer mehr Fälle angezeigt. So ist es für die Polizei schwieriger geworden, die Opfer sexualisierter Gewalt wie bisher einfach nur zu kriminalisieren und zu demütigen. Auch die Medien sind ein watchdog geworden, was Gewalt gegen Frauen angeht. Sexualisierte Gewalt wird mehr als Problem wahrgenommen und weniger als Normalität. Das heißt aber nicht, dass diese Gewalt weniger verbreitet ist. Eher ist das Gegenteil der Fall: Dass sich so viele junge Frauen mit Jyoti Singh Pandey identifiziert haben und ihre Tragödie einen solchen Wendepunkt darstellte, zeigt, dass sexualisierte Gewalt in vielen Formen für indische Frauen eine alltägliche Erfahrung ist.
Woran liegt das?
Seit mindestens zwei Jahrzehnten nehmen Frauen immer mehr am Wirtschaftsleben teil. Das hat grundlegende Veränderungen in der indischen Gesellschaft hervorgebracht. Frauen haben die traditionell männliche Sphäre des Broterwerbs erobert, immer häufiger sind sie die Familienernährerinnen, und das unabhängig davon, welcher sozialen Schicht sie angehören. Anders kann man das nicht beschreiben, wenn man sich Statistiken anschaut, wonach der Beitrag von Frauen zum ökonomischen Wachstum der indischen Wirtschaft 20 bis 30 Prozent beträgt. Die Folge dieser Modernisierung der traditionellen indischen Gesellschaft ist eine Krise der Männlichkeit. Körperliche Gewalt wird dann zur Reaktion frustrierter Männer auf einen gewaltigen Gesellschaftswandel: Frauen sind gebildeter und verdienen mehr als viele Männer, sie können für sich selbst und ihre Familien sorgen, sie haben sich von den Abhängigkeitsstrukturen gelöst, in denen sie unterdrückt wurden. Frauen, die nicht selten jahrelang erlebt haben, wie ihre Mütter von den Vätern verprügelt wurden, weigern sich zu hei­raten, eine Sache, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war! Diese Frauen, die mit den besten Noten aus den Universitäten kommen, sind sehr ehrgeizig, machen Karriere und möchten über ihre Freizeit und Sexualität selbst bestimmen. Die meisten Opfer sexueller Übergriffe sind arbeitende Frauen: Krankenschwestern, Lehrerinnen, Ärztinnen, Frauen, die sich allein bewegen, nach der Arbeit nach Hause gehen und nicht von Ehemännern, Vätern oder Brüdern begleitet werden.
Das trifft vermutlich eher für Frauen aus der Mittelschicht zu, die in den urbanen Zentren wohnen. Wie sieht die Situation auf dem Land aus?
Auch auf dem Land hat eine Feminisierung von Arbeit stattgefunden, die allerdings nicht mit Bildung und Emanzipation der Frauen einhergegangen ist, sondern als Folge der Feminisierung von Armut zu betrachten ist. So hat man auf dem Land, wo die Familienstrukturen viel stärker sind als in den urbanen Zentren, die Situation, dass Männer von Frauenarbeit abhängig sind. Väter, Brüder und Onkel sind arbeitslos und schicken Mütter, Töchter und Schwiegertöchter auf das Feld oder sonstwo hin zur Arbeit. Denn Frauen nehmen jeden Job an, auch wenn er schlecht bezahlt ist, auch wenn die Arbeitsbedingungen katastrophal sind. Von den Veränderungen im ökonomischen System durch die Privatisierung, Liberalisierung und Globalisierung ist der indische Agrarsektor massiv betroffen, in diesem Bereich arbeiten viele Frauen. Ihr Leben als Arbeitskräfte unterscheidet sich stark vom Leben der urbanen Frauen, doch die existentielle Unsicherheit und die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, haben die gleichen Wurzeln. Auf dem Land gibt es eine andere Dimension von, ich würde es »diffuser Gewalt« nennen, die nicht nur Frauen betrifft: Es ist die ökonomische Gewalt eines extrem liberalisierten Systems, in dem alles immer mehr kommodifiziert ist, Land, Wasser und alles, wovon Bauernfamilien früher einigermaßen leben konnten. Immer häufiger werden arme Familien von diesem System in den Ruin getrieben, die psychische Verzweiflung und die materielle Verwahrlosung nehmen zu, unter der Landbevölkerung ist zum Beispiel die Anzahl der Selbstmorde gestiegen. In einem solchen Zusammenhang grassiert auch die Gewalt gegen Frauen, die oft in der Familie beginnt und, da die Kontrollmechanismen schwächer sind, einfach verschwiegen wird. Dieser strukturelle und, ja, auch ökonomische Aspekt der Gewalt sollte genauer untersucht werden. Die Medien fokussieren eher auf den Aspekt der zwischenmenschlichen Gewalt oder der Massenvergewaltigung.
Sind Massenvergewaltigungen ein neues Phänomen?
Nein, es hat sie immer gegeben. Der Unterschied ist, dass der Druck auf die Behörden größer geworden ist, und sie können nicht mehr alles verschweigen wie vorher. Die Kriminalisierung des Opfers bleibt allerdings der übliche Umgang damit. Frauen, die sich trauen, solche Verbrechen anzuzeigen, wird heute noch vorgeworfen, aufgrund ihres angeblich freizügigen Verhaltens »selbst schuld« zu sein. Das neue Selbstbewusstsein der Frauen hat zu einem Wertekonflikt in der indischen Gesellschaft geführt und dieses wiederum zu einem konservativen Backlash.
Welche Rolle spielt die Religion dabei?
Die meisten religiösen Anführer haben extrem frauenfeindliche Ansichten, sie propagieren, dass es für Frauen gefährlich sei, zu studieren, Karriere zu machen und generell ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf dieser Weise fördern sie ein Klima, das Gewalt legitimiert und rechtfertigt. Aber das wundert niemanden. Viele religiöse Führer sind auch in Fälle von Vergewaltigung involviert.
Die sechs Vergewaltiger von Delhi wurden zum Tode verurteilt. Wie ist die Position von Frauenorganisationen in Indien dazu?
Feministinnen lehnen schon immer sowohl die Todesstrafe als auch die chemische Kastration für Vergewaltiger ab, denn beides bringt die Zivilisation nicht weiter, sondern ist Zeichen einer Barbarisierung. In den Ländern, in denen die Todesstrafe noch verhängt wird, haben Vergewal­tigungen und Verbrechen gegen Frauen nicht abgenommen. Die Todesstrafe und die Kastration sind keine Lösung für die Ursache des Problems. Das Einzige, wofür wir uns einsetzen müssen, ist eine Veränderung der patriarchalen Denkweise der gesamten Gesellschaft.
Ein sehr ehrgeiziges Ziel. Kann es wirklich erreicht werden, Frau Patel?
Es ist ein langer Prozess, aber diese präventive Arbeit ist die einzige, die sich lohnt. Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen – in all ihren Formen – müssen thematisiert und gesellschaftlich geächtet werden. Vieles lässt sich über das Erziehungssystem bewirken, bei dem die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft thematisiert und in Frage gestellt werden müssen. Das betrifft nicht nur Männer, denn entscheidend ist an diesen Stellen, wie Mütter ihre Söhne erziehen, also die Stellung von heranwachsenden Männern in der Familie. Denn trotz aller Emanzipation und Unabhängigkeit: Fakt ist, dass Söhne in der Familie – auch in den aufgeklärten Familien der Mittelschicht – eher gewohnt sind, alles zu bekommen, ohne zu fragen. Ganz anders wird mit den Töchtern umgegangen, die sich vieles erkämpfen müssen. Es ist entscheidend, dass man jungen Männern Respekt vor Frauen beibringt – seien es die Mütter, die Schwestern, die Lehrerinnen oder die Freundinnen. Und Frauen müssen lernen, dass sie ein Recht haben, »nein« zu sagen.
Was halten Sie von Initiativen von Frauen, die Verteidigung gegen Vergewaltiger selbst zu ­organisieren? Ich denke etwa an die Frauen der »Gulabi Gang«, die vor allem in den ländlichen Gebieten aktiv sind. Gibt es etwas Vergleich­bares auch in den Städten?
Es gibt keine organisierte Gruppe, und schon gar keine, die so berühmt geworden ist wie die »Gulabi Gang«. Aber das, was wir Feministinnen zum Beispiel in Workshops den Frauen raten, ist, sich immer in Gruppen zu bewegen, wenn sie abends, etwa nach Schichtende, auf dem Weg nach Hause sind. In den Geschäftsvierteln der indischen Großstädte, in denen die meisten Frauen arbeiten, findet kein öffentliches Leben mehr auf den Straßen statt. Das hat auch mit einer bestimmten Art der Stadtentwicklung zu tun, diese Gebiete sind »gesäubert« worden, es gibt keine Fußgänger mehr, die Straßenverkäufer wurden verdrängt, zum Einkaufen geht man in die Einkaufszentren oder in die Zentralmärkte. Diese Viertel, in denen Frauen in ihren Büros oder in Krankenhäusern bis spät in der Nacht arbeiten, sind mit Einbruch der Dunkelheit komplett menschleer. Manche Firmen organisieren einen Fahrservice für ihre Mitarbeiterinnen, so dass sie auf ihrem Weg zur Arbeit und auf dem Rückweg nach Hause nicht in Kontakt mit der Straße kommen. Man kann also sagen, dass die Mobilität von Frauen extrem zugenommen, die Sicherheit für sie aber abgenommen hat. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Individuell kann man sich mit verschiedenen Mitteln selbst verteidigen, vom Pfefferspray bis hin zur Schusswaffe. Das mag ein Gefühl von Sicherheit geben, ich bezweifle allerdings, dass Frauen, die alleine nachts unterwegs sind, dadurch wirklich vor Vergewaltigern geschützt sind. Die Frauenbewegung fordert daher das Recht auf Bewegungsfreiheit und Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum.