Die Verhandlungen aus palästinensischer Sicht

One day baby, we’ll be old

Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas versucht, sich als glaubwürdiger Verhandlungspartner zu präsentieren, und sucht den Dialog mit der israelischen Zivilgesellschaft. Die Bedingungen, die ihm von der israelischen Regierung gestellt werden, akzeptiert er jedoch nicht.

In den Morgen- und Abendstunden staut sich am Qalandia-Checkpoint, am südlichen Stadtrand von Ramallah, der Verkehr in Richtung Jerusalem. Die Fußgängerspur besteht aus zwei Sperrbarrieren. Die erste öffnet sich zum Kontrollbereich, in dem hinter kugelsicheren Scheiben junge Soldaten, die ihren Wehrdienst verrichten, die Identität der Passanten kontrollieren. Für die Besitzer der blauen Residenzkarte für Ostjerusalem, eines israelischen oder ausländischen Passes ist die Passage in den meisten Fällen problemlos. Wer nur den grünen Ausweis besitzt, den die israelische Militärverwaltung für die Bewohner der Palästinensergebiete ausstellt, darf nur mit einer Sondergenehmigung und meist zeitlich begrenzt nach Israel einreisen.
Doch trotz der aufwendigen Sperranlage gibt es Bewohner des Westjordanlandes, die Tricks kennen, um nach Israel einzureisen. Alaa Kamel, der in Ramallah wohnt, besucht regelmäßig arabische Freunde in Haifa. »Es gibt offene Stellen in der Mauer. Natürlich, von Zeit zu Zeit schleichen wir uns nach 48.« Das Wort »Israel« benutzt er nicht, stattdessen sagt er »Palestine 48« – ein üblicher Ausdruck unter jenen jungen Palästinensern, die in den Bars Ramallahs mit der dort wohnhaften Community von Expats abhängen. »Hin und wieder machen wir auch Dummheiten«, gibt er zu und zeigt Fotos auf seinem Telefon, die ihn in der traditionellen schwarzen Kleidung ultraorthodoxer Juden zeigen. »Die Ultraorthodoxen hassen es, von den Sicherheitskräften kontrolliert zu werden. Manchmal gehen wir einfach durch und zeigen den Sicherheitsbeamten den Mittelfinger. Meistens klappt das.« Manchmal aber scheitert der Versuch, die Grenzanlage zu überqueren: Sieben Mal saß Alaa vorübergehend im Gefängnis, nachdem er dabei von israelischen Sicherheitskräften verhaftet wurde.
»Grenzen sind ein entscheidender Punkt«, sagt Nasif Muallem, einer der Mitgründer des Palestinian Center for Peace and Democracy (PCPD), einer Organisation, die 1992 von Akademikern, Journalisten und Aktivisten gegründet wurde, um eine Zweistaatenlösung voranzutreiben. »Keiner ist gewillt, einen Staat zu akzeptieren, der keine klaren Grenzen hat und auf dessen Territorium wir keine volle Souveränität haben. Dazu ist unsere Erfahrung mit Kontrollen und Checkpoints in den vergangenen zehn Jahren zu groß gewesen.« Um seine Position zu bekräftigen, skizziert er auf einem Blatt Papier die Stationen seiner letzten Reise nach Amman: Israelische Checkpoints, ein Checkpoint der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vor Jericho, Sicherheitskontrollen des Busses im von der israelischen Armee kontrollierte Jordantal, schließlich die jordanische Grenze. Am Ende kommt er auf 23 Stationen.

»Die Grenzen, Jerusalem und die Flüchtlinge sind die Punkte, die bisher in allen Verhandlungen ein Tabu waren. Mittlerweile hat John Kerry zumindest die Themen Grenzen und Jerusalem auf den Verhandlungstisch gebracht«, sagt Nasif. Der US-amerikanische Außenminister John Kerry schlug in den derzeitigen Verhandlungen vor, die Grenze des Westjordanlandes mit Jordanien für einen Übergangszeitraum in einer Sicherheitskooperation von israelischem Militär und palästinensischen Sicherheitskräften sichern zu lassen. Der palästinensische Verhandlungsführer Mahmoud Abbas bot dagegen eine vorübergehende Stationierung von Nato-Truppen im Jordantal als mögliche Lösung an. Nasif Muallem lehnt Abbas’ Vorschlag ab. »Nato-Truppen im Jordantal bedeuten, die israelische Besatzung durch eine amerikanischen Besatzung zu ersetzen. Für die absolute Mehrheit der Palästinenser wird das inakzeptabel sein.«
Auch in der Frage, wie eine palästinensische Hauptstadt in Jerusalem zu etablieren sei, sei die amerikanische Position noch weit entfernt von einer Lösung, die für die Mehrheit der Palästinenser tragbar wäre, sagt Nasif. »Der gegenwärtige Vorschlag sieht vor, den israelischen Westteil der Stadt unangetastet zu lassen und den arabischen Ostteil noch einmal zu teilen.« Damit nimmt er Bezug auf die jüdischen Stadtteile in Ostjerusalem, die seit dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg 1967 und der darauffolgenden israelischen Neuziehung der Stadtgrenzen im Osten der Stadt errichtet wurden. Mittlerweile fassen diese Viertel 200 000 Einwohner. Nach UN-Definition handelt es sich um »illegale Siedlungen«, laut der Position der israelischen Regierung sind sie dagegen »integraler Teil Groß-Jerusalems« und sollen demnach bei einer Zweistaaten-lösung ein Teil Israels bleiben. Festzuhalten am »unteilbaren Jerusalem als ewiger Hauptstadt Israels« ist ein politisches Credo, das von den religiösen und rechten Parteien bis weit in die politische Mitte vertreten wird. So hatte auch der heutige Finanzminister Yair Lapid von der säkular-liberalen Partei Yesh Atid diesen Grundsatz im Wahlkampf 2012 wiederholt. Doch auch Nasifs Organisation sieht keine räumliche Teilung der Stadt vor, sondern eine politische Trennung, die den Ostteil Jerusalems der palästinensischen Kontrolle unterstellt.

Während die Verhandlungen auf Regierungsebene an der Unvereinbarkeit der Positionen bezüglich der Fragen der Grenzsicherung, des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge und der Teilung Jerusalems zu scheitern drohen, wandte sich PA-Präsident Abbas in eigener Initiative an die israelische Gesellschaft. Am Sonntag war eine Gruppe aus 300 israelischen Studenten, Aktivisten und Mitgliedern zentristischer und linker Parteien auf Einladung von Abbas zu Gast in Ramallah. Für die meisten der Israelis war es der erste Besuch in der Stadt. Seit dort zu Beginn der zweiten Intifada zwei Israelis, die sich verfahren hatten, gelyncht wurden, sind Reisen nach Ramallah und in alle anderen Gebiete des Westjordanlandes, die völlig unter der Kontrolle der PA stehen, selten geworden. Während der Veranstaltung stellte Abbas sich Fragen zu den umstrittensten Punkten der Friedensverhandlungen. »Ich habe nicht vor, Israel mit palästinensischen Flüchtlingen zu überschwemmen«, versuchte er die Gäste bezüglich der Frage des Rückkehrrechts der Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge zu beruhigen. »Wir sollten versuchen, eine kreative Lösung des Problems zu finden.«
Abbas ging auch auf die Aussage ein, Israel habe keinen wirklichen Partner für eine Friedenslösung, die seit den gescheiterten Oslo-Verhandlungen vor allem vom rechten politischen Lager Israels ständig wiederholt wird: »Es ist nicht wahr. Ich bin euer Partner.« Ofik Spiegelmann, Physik-Doktorant an der Hebrew University in ­Jerusalem und einer der Besucher des Treffens, berichtete im Anschluss: »Mahmoud Abbas hat mich überzeugt, dass er Frieden will – jedoch nicht zu den Bedingungen, die die gegenwärtige isra­elische Regierung ihm abverlangt.«
Auch für Nasif Muallem sind die Aussichten nicht zwangsläufig negativ: »Die Dinge sind in Bewegung. Die geopolitischen Realitäten verschieben sich. Es ist nicht mehr wie 1993, als die Amerikaner die einzigen waren, die eine Rolle in der Region spielten. Das wird auch die Haltung der israelischen Politiker beeinflussen. Letztendlich sind sie pragmatische Geschäftsleute – wenn sich die Besatzung ökonomisch nicht mehr lohnt und politisch nicht mehr tragbar ist, wird sich ein Konsens dagegen herausbilden.«

In einer Bar in Ramallah endet am selben Wochenende die Nacht spät. Kurz vor Schluss läuft mehrfach hintereinander ein Lied, das schließlich fast alle Partygäste mitsingen. Es ist Asaf Avi­dans »Reckoning Song«: »One day, baby, we’ll be old – think of all the stories that we could have told.« Asaf Avidan ist in Jerusalem geboren, im Westen der Stadt als israelischer Staatsbürger. Doch das stört in dieser Nacht keinen in Ramallah.