Antiziganismus in Tschechien

Tschechische Zustände

Im vergangenen Sommer wurde Tschechien von einer Welle rassistischer Aufmärsche gegen die dort lebenden Roma erfasst. Seitdem hat sich Widerstand gegen Antizi­ganismus organisiert. Eine Reportage aus Ostrava.

Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 2012 geriet der Streit über eine von Roma bewohnte Straße in Ostrava, der drittgrößten Stadt Tschechiens, in die Medien. Die alten Häuser in der Přednádraží, die früher der staatlichen Eisenbahngesellschaft gehörten, waren lange Zeit dem Verfall preisgegeben. Lange blieben zudem die Besitzverhältnisse unklar. Es wurde nicht in die Anlage investiert, die Kanalisation funktionierte nicht, die hygienischen Bedingungen sahen entsprechend aus. Als im August 2012 die Baubehörde die Bewohner zum Verlassen aufforderte, wehrte sich ein Teil von ihnen und blieb dort wohnen (Jungle World 37/2012).
Im November 2012 waren dann fast alle Häuser verlassen. Einige Bewohner der Přednádraží wollten aber nicht aufgeben, zogen gemeinsam in ein Haus und organisierten sich kollektiv. Sie begannen in Eigenregie mit der Renovierung. Spenden wurden gesammelt, die Elektrik und das Dach erneuert. Doch all dies half nicht. Im Januar vergangenen Jahres wurde der Strom abgeschaltet, im Februar entschied die Stadt endgültig, dass das Gebäude nicht bewohnbar sei. Im April gingen die Bewohner noch einmal in die Offensive, gründeten ein Bündnis mit Aktivisten aus anderen Städten und machten mit einer Demonstration auf sich aufmerksam. Die Stadt ließ jedoch nicht mit sich verhandeln, die letzten Bewohner gaben Anfang Juli auf.
Dass sich die Familien so erbittert gegen ihre Vertreibung aus der heruntergekommenen Wohnanlage wehrten, ist wenig verwunderlich, da es für Roma in Tschechien nicht einfach ist, eine Wohnung zu bekommen. Ein Großteil der Nicht-Roma will sie nicht als Nachbarn haben, außerdem ist es unmöglich, eine normale Wohnung zu mieten, wenn man Schulden hat. Viele landen deshalb in sogenannten ubytovnas – das sind »Wohnheime«, die an der Verdrängung der Roma aus den Städten verdienen. Jede Familie bekommt dort nur ein Zimmer zugewiesen, bezahlt werden muss trotzdem pro Person. Mehrere Familien teilen sich Küche und Bad, und das zu Preisen, für die Mitglieder der tschechischen Mehrheitsgesellschaft eine gute Wohnung mieten könnten. Solche Wohnheime sind in Ostrava ein recht neues, aber einträgliches Geschäft mit der Armut.
Kumar Vishnawathan leitet die NGO Vzájemné soužiti (Zusammen leben). Diese hat 44 Mitarbeiter, die Hälfte davon sind Roma. Die NGO arbeitet in vielfältiger Weise mit Roma, unter anderem betreibt sie drei Community-Zentren für Kinder und Jugendliche, eine Rechtsberatung und beschäftigt Streetworker. Kumar, der sich im Konflikt um die Přednádraží für die Bewohner engagierte, wird von der Stadt nun vorgeworfen, die Menschen aufgewiegelt zu haben. Dabei wirkt er nicht im Geringsten wie ein Aufrührer.
So engagiert sich seine Organisation dafür, dass mehr Vertrauen zwischen Polizei und Roma-Communities entsteht, etwa durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, damit das Vertrauen auf beiden Seiten wächst: »Die Polizei behandelt Probleme wie mafiöse Aktivitäten oder häusliche Gewalt oft als eine Sache, die die Roma unter sich regeln sollten, deshalb wenden diese sich nicht an die Polizei«, sagt Kumar, »sie ist aber ein Service für die Bürger, die Roma sollten ihn so selbstverständlich nutzen können wie andere auch«. Roma sollten nach Kumars Auffassung außerdem ermutigt werden, Polizisten zu werden, so wie sie in allen Berufen vertreten sein sollten. Auf der anderen Seite »sollte die Polizei mit den Communities kommunizieren, nicht einfach ins Viertel rasen und Leute in Handschellen abführen«. Es geht Kumar vor allem um das gegenseitige Verständnis und die vollen Bürgerrechte für Roma. Wichtig ist ihm die Perspektive der Betroffenen, und dass die Roma als solche ermutigt werden, für sich zu selbst sprechen. »Unsere Polizeiassistenten überzeugen die Roma, zur Polizei zu gehen, sie leisten keine Ermittlungsarbeit«, betont er.
Den Vorwurf, er wiegle jemanden auf, weist er zurück. »Man wollte den Leuten ›helfen‹, indem man sie in ubytovnas steckte, gleichzeitig stehen 1 700 Wohnungen in städtischem Besitz leer.« Die Situation einer NGO in politischen Konflikten sei schwierig, »doch wenn die öffentlichen Stellen versagen, ist es die erste Pflicht, zu helfen«. In der Přednádraží etwa wurde im Zuge des Konflikts das Wasser abgestellt. »Dabei haben die Leute ein Recht auf Wasser«, sagt Kumar, »doch niemand hat sich mehr dort engagiert, nachdem die Gebäude verlassen werden sollten. Keine der dort zuvor arbeitenden NGOs hat sich getraut.« Kumars Organisation hat wegen ihrer Arbeit mit Einschränkungen und stärkerer Kontrolle zu kämpfen gehabt: »Wir mussten unsere alten Büroräume verlassen.« Überhaupt spricht er viel von dem Mut, der für eine Veränderung der Situation der Roma notwendig sei, dem Mut von armen Roma, ihre Rechte einzufordern, dem Mut von NGOs, auch unter unbequemen Bedingungen zu arbeiten, und dem Mut von erfolgreichen Roma, die ärmeren nicht zu vergessen. »Wir wollen nicht, dass die Leute gegen die Regierung arbeiten, wir wollen, dass sie mutig sind.«

Genau das sieht auch Ivanka Mariposa Čonková als ihre Aufgabe an. Sie hat Schauspiel studiert und als Journalistin gearbeitet. Sie hat sich schon früher für die Rechte von Roma engagiert, seit etwa einem Jahr ist sie nun Vollzeitaktivistin.
»Alles ging sehr schnell«, erzählt sie über ihre Wandlung, »ich habe gemerkt, dass die Roma mir Vertrauen entgegenbrachten. Als die rassistischen Aufmärsche begannen, habe ich fast jede Woche eine Gegendemo mitorganisiert, ich war ständig unterwegs für ›Blokujeme‹.« Das Bündnis, dessen Name übersetzt »Wir blockieren« bedeutet, besteht aus verschiedenen Einzelpersonen, Roma- und Menschenrechtsaktivisten, NGO-Mitarbeitern, Künstlern und Anarchisten. Das Bündnis will den rechten Aufmärschen durch Gegendemonstrationen friedlich den Raum nehmen. Wenn Ivanka von der Situation der Roma redet, geht es ihr nicht zuletzt um Selbstbewusstsein. »Für mich ist es wichtig, stolz auf meine Herkunft, eine selbstbewusste Romni zu sein. Denn durch den Rassismus und die Ablehnung der Gesellschaft beginnen teilweise die Roma selbst zu glauben, sie seien schlechter als die anderen«, sagt sie. »Es ist psychologisch verständlich, dass Opfer anfangen, bei sich selbst nach Gründen für ihren Status zu suchen. Der Prozess der Entviktimisierung muss in den Menschen anfangen.«
Für Imrich Horvát, einen 21jährigen Rom und Aktivisten, begann seine Politisierung im Kampf um die Přednádraží. Seine Familie musste danach zwei Monate in einem Heim wohnen, zu siebt in einem Raum, für 17 000 Kronen Miete (umgerechnet rund 620 Euro). Sie hatten allerdings das Glück, eine Wohnung in der Nähe ihres alten Wohnortes zu finden. Imrich engagiert sich im Bündnis Barevná Ostrava (Buntes Ostrava), das sich als lokal verankerter Teil von Blokujeme versteht.

Die rassistischen Aufmärsche begannen Ende Mai 2013 in der Stadt Duchcov und breiteten sich im ganzen Land aus. Obwohl offenkundig Neonazis dazu aufriefen, nahmen viele Bürgerinnen und Bürger daran teil. In verschiedenen Städten wurde versucht, Wohnorte von Roma zu attackieren, dabei kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei. Solche Aufmärsche hat es in Tschechien immer wieder gegeben, in Ostrava sind sie jedoch ein neues Phänomen. Der erste fand am 24. August im zentralen Teil Ostravas statt, auffällig war hier die große Beteiligung von Hooligans, auch aus dem benachbarten Polen, insgesamt waren es 600 bis 800 Teilnehmer. Die Rassisten versuchten, zu einer gleichzeitig stattfindenden Gegenkundgebung zu gelangen. Auf ihrem Weg dorthin attackierten sie ein Wohnheim, in dem Roma lebten.
An diesem Tag fanden auch in sieben anderen Städten Tschechiens antiziganistische Aufmärsche statt. Ivanka sieht einen rassistischen Konsens, der viele in Tschechien verbindet. In Děčin etwa gab es an diesem Tag keine angemeldete Demonstration, dennoch kamen rassistisch gesinnte Bürger zusammen, um sich gegenseitig in ihrer Haltung zu bestärken: »Es ist gefährlich: Sie können sich versammeln, auch ohne Anführer. Jeder weiß, warum der andere da ist, sogar ohnedass Reden gehalten werden.«
Ondra Marek, der sich ebenfalls im Bündnis Buntes Ostrava engagiert, berichtet vom Scheitern der ersten Gegenkundgebung und dem daraufhin einsetzenden Lernprozess: »Es gibt keine starken antifaschistischen und antirassistischen Gruppen in Ostrava«, sagt er. »Einige Roma-Geschäftsleute drängten sich mit in die Organisation. Doch sie versuchen vor allem, ihre eigenen Interessen gegenüber der Stadt durchzusetzen. Diese Leute wollen die anderen Roma kontrollieren. In Absprache mit der Polizei haben sie die erste Gegenkundgebung frühzeitig für beendet erklärt. Sie dulden kein von ihnen unabhängiges Handeln«, berichtet Ondra und bezeichnet sie eher als »Teil des Problems denn als eine Lösung. ­Einige von ihnen betreiben selbst ubytovnas oder stellten im Auftrag der Stadt andere Roma als billige Arbeitskräfte für öffentliche Arbeiten ein.« Als eine weitere von der neonazistischen Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit (DSSS) angemeldete Demonstration in Ostrava-Zábřech stattfand, wurde die Gegenkundgebung ohne jene Geschäftsleute organisiert, fiel aber auch viel kleiner aus. Die rassistische Demonstration richtete sich wieder gegen ein Wohnheim. »Von den etwa 600 Menschen, die an der Demonstration teilnahmen, bestand der Großteil aus Anwohnern«, hebt Imrich hervor.
Imrich und Ondra erzählen von den Schwierigkeiten bei der Organisation von Gegendemons­trationen. »Das Fehlen antirassistischer Kräfte ist nicht das einzige Problem«, erklären sie, »wir versuchen, Personen aus verschiedenen Parteien und Kirchen hinzuzuziehen, doch von den Parteien kommen nur wenige – Sozialdemokraten und Mitglieder der Kommunistischen Partei gar nicht.« Aber auch in den Roma-Communities gebe es Faktoren, die einen gemeinsamen politischen Kampf erschweren. »Die verschiedenen Communities in Ostrava sind voneinander isoliert und uneinig«, sagt Imrich. »Für mich als Roma-Aktivist ist es schwierig, ältere Roma zu beeinflussen, deswegen versuche ich, Leute aus meiner Generation zu überzeugen, dass sie sich engagieren und an der Organisation antirassistischer Aktionen teilnehmen.«
Ondra kritisiert die ambivalente und verharmlosende Haltung der Politiker gegenüber den Aufmärschen. Er verweist auf einen Artikel, in dem der sozialdemokratische Bürgermeister von Ostrava-Zábřech, Karel Sibinsky, die Rassisten als über Kriminalität »besorgte« Bürger verharmlost: »Die Politiker unterschätzen die Gefahr, die von den Aufmärschen ausgeht, und agieren stattdessen populistisch. Aufgrund des weit verbreiteten Antiziganismus schrecken sie davor zurück, die Aufmärsche zu verurteilen.«
Eine Kritik, die auch Mitarbeiterinnen von Vzá­jemné Soužiti teilen: »Man hat es schlicht hingenommen, dass sich Roma-Kinder nach dem ersten rassistischen Aufmarsch nicht mehr zur Schule getraut haben. In den Roma-Communities herrschte Angst. Unter diesen schwierigen Bedingungen war es nicht einfach, den Leuten Mut zu machen.«
»Die lokalen Politiker gingen in Duchcov sogar über die Akzeptanz oder Rechtfertigung der Märsche hinaus«, berichtet Ivanka, denn als Reaktion auf die rechten Kundgebungen verkündete die Stadt eine Null-Toleranz-Politik, mit umfassenden polizeilichen Kontrollen in jeder einzelnen Roma-Familie. »Sie machen die Opfer zu Schuldigen«, sagt sie. Anstatt die romafeindliche Haltung in der Gesellschaft zu kritisieren, reagierten die Politiker mit Appellen gegen Kriminalität und Unordnung, »dabei liegt das Problem im Rassismus, nicht bei den Roma«. Die Internetseite romea.cz berichtet, dass die Bürgermeisterin von Duchcov, Jitka Bártová, nicht einmal davor zurückschreckt, Mitglieder der DSSS zu einem Runden Tisch einzuladen.
Ein dritter rassistischer Aufmarsch fand in Ostrava relativ spontan statt, deshalb konnte keine Gegenkundgebung organisiert werden. Ein vierter Aufmarsch versammelte sich am gleichen Ort wie beim ersten Mal. Wieder machten sich Rassisten auf den Weg, das nahe gelegene Wohnheim zu attackieren. Doch während ein Teil der Gegendemonstranten am zentralen Kundgebungsort blieb, zogen einige vor das Haus und verhinderten, dass sich das Szenario vom 24. August wiederholte. Die Polizei hielt den Aufmarsch auf. Dann verlagerte sich der Rest der antirassistischen Kundgebung vor das Heim. Imrich und Ondra erzählen, wie bewegend dieser Tag war: »Bewohner und Demonstranten winkten sich zu, manche haben an diesem Tag vor Rührung geweint. Nicht nur ist es gelungen, dass sich zwei Roma-Communities über die Teilnahme einigten, überhaupt war es das erste Mal, dass eine vor allem aus Roma zusammengesetzte Demonstration einen solchen Aufmarsch aufgehalten hat.« 200 Rassisten standen an diesem Tag 400 Gegendemonstranten gegenüber.
Imrich hat schon Pläne für das neue Jahr: Die Stadt will einige bisher leer stehende Wohnungen in öffentlichem Besitz zum Wohnen freigeben. »Ich möchte NGOs hinzuziehen, um die Wohnungen zu mieten. Dort könnten Arme untergebracht werden, die von der Schließung von zwei ubytovnas Anfang des Jahres betroffen sind«, sagt er. Die NGOs könnten eine vermittelnde Funktion übernehmen für diejenigen, denen bisher der Zugang zu regulären Wohnverhältnissen verwehrt bleibt: »Es wäre etwa vorstellbar, dass die Bewohner nach einem Jahr Mietverträge bekommen.« Imrich, Ondra und Ivanka hoffen, dass sich die Aufmärsche in diesem Jahr nicht wiederholen werden. Aus der beginnenden Gegenwehr der Roma könnte dann eine Offensive für ihre Rechte erwachsen.