Die Krim-Annexion stärkt das System Putin

Panzer, Peitschen und Profite

Im Krim-Konflikt geht es um weit mehr als die Herrschaft über eine sonnige Halbinsel.

Es fällt schwer, sich die behäbige Angela Merkel oder den eleganten Barack Obama als Heerführer an der Spitze einer Armee vorzustellen. Auch der pausbäckige David Cameron und der noch stärker an ein zu groß geratenes verzogenes Kleinkind erinnernde Kim Jong-un würden keine gute Figur machen. Anders Wladimir Putin. Vielleicht nicht hoch zu Ross in schimmernder Rüstung, aber entschlossen aus dem Turm des ersten Panzers blickend – vielleicht bekommen wir das noch zu sehen.
An sich sind die Zeiten, in denen Herrscher persönlich ins Feld zogen, seit etwa 200 Jahren vorbei. Doch bis Mitte Februar Kosaken in Sotschi Mitglieder der Punkband Pussy Riot auf offener Straße auspeitschten, hätte man auch geglaubt, dass im heutigen Kapitalismus der Staat seine Bürger auf andere Weise züchtigt. Die Kosaken sind Angehörige einer Miliz von Freiwilligen im Staatsdienst, deren Aufgaben nicht klar umrissen sind, die aber zu Zwecken eingesetzt werden, die Pussy Riot so beschreiben: »Putin bringt dir bei, die Heimat zu lieben.«
Auch in seiner Rhetorik knüpft der russische Präsident an frühere Zeiten an. Kein westlicher Politiker würde einen führenden Kapitalisten des eigenen Landes als »unseren Oligarchen« bezeichnen, doch Putin schilderte bei einer Pressekonferenz Anfang März, wie der Russe Roman Abramowitsch vor einigen Jahren angeblich von dem ukrainischen Oligarchen und »Gauner« Ihor Kolomojskyj betrogen wurde. Da Putin sich bei der Pressekonferenz in diverse Widersprüche verwickelte, galt sie als Beleg für seine Unberechenbarkeit oder gar dafür, dass er den Verstand verloren habe. Doch handelte es sich wohl, wie bei den meisten Aspekten seiner Selbstdarstellung, um eine bewusste Inszenierung, die nicht Intellektuelle und Analytiker überzeugen sollte. Putin spricht zu den Bewunderern starker Männer vor allem in Russland, die an ein schlichtes Weltbild glauben wollen. Es stört sie nicht, wenn er lügt und mit den Gesetzen der Logik in Konflikt gerät, solange sie einen energischen Auftritt gegen jene bewundern können, die auch sie als ihre Feinde betrachten. Ihnen sagte Putin: Ich habe meine Oligarchen unter Kontrolle, wenn ihr protestiert wie die Ukrainer, seid ihr ihnen ausgeliefert.

Tatsächlich ist die umstandslose Enteignung von Milliardenvermögen in Russland möglich, so dass die 2006 am Börsengang des aus einer solchen staatskapitalistischen Intrige hervorgegangenen Ölkonzerns Rosneft beteiligten Banken sich zu der Warnung gezwungen sahen, die russische Regierung könne »ein schwieriges Geschäftsklima schaffen« und Rosneft zu Entscheidungen bringen, »die das Aktionärsvermögen nicht maximieren«. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, doch dienen staatskapitalistische Eingriffe nur da­zu, die Macht Putins zu maximieren. Als er im Jahr 2000 Präsident wurde, waren die 25 bedeutendsten Oligarchen wirtschaftlich einflussreicher als der Staat. Sie finanzierten Politiker und übernahmen selbst Ämter, so soll Abramowitsch von 2000 bis 2008 als Gouverneur von Tschukotka fast eine Milliarde Dollar seines Vermögens für »wohltätige Zwecke« ausgegeben haben. Die Enteignung und Inhaftierung Michail Chodorkowskis, aus der Rosneft hervorging, symbolisierte die Umkehrung der Machtverhältnisse. Fortan besetzte Putin wichtige Posten mit Gefolgsleuten, so wird Rosneft von Igor Setschin geführt, einem ehemaligen stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung.
So wie der Monarch sich als Beschützer der Armen vor Adligen, Räubern und Dienern Satans darstellte, präsentiert Putin sich als der einzige, der Russland vor der Gier der Oligarchen und Ausländer sowie vor Terroristen, Homosexuellen und anderen Feinden von Christentum und Tradition schützen kann. Und wie ein Monarch, dem Macht und Ehre über das Geld gehen, lässt er sich seine außenpolitischen Ambitionen etwas kosten. Für die Krim werden nicht nur gewaltige Subventionen fällig, noch weit größer ist der Schaden durch ausbleibende Investitionen und die nun auch unter den bislang Gleichgültigen aufkeimende Erkenntnis, dass es nicht gut ist, in essentiellen Dingen wie der Energieversorgung von Russland abhängig zu sein.
Wer an linearen Fortschritt glaubt, kann mit dem US-Präsidenten Barack Obama sagen, dass Putin »auf der falschen Seite der Geschichte« steht. Die Besetzung der Krim könnte aber auch als ein Schritt zur negativen Aufhebung des globalisierten Kapitalismus gewertet werden, als Offen­sive einer neofeudal-reaktionären Herrschaftsform, die die Verwertung wieder stärkerer staatlicher Aufsicht unterstellt. Deren Durchsetzung wäre keine Angelegenheit von Jahren, sondern von Jahrzehnten und nicht allein, nicht einmal in erster Linie von der Politik Russlands abhängig. Doch eine staatskapitalistische Politik betreibt auch China, anderswo könnte sie zur einzigen Möglichkeit werden, mit den Folgen einer Weltwirtschaftskrise fertig zu werden. Zudem könnten die Folgen der globalen Erwärmung und die in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich härtere Konkurrenz um Rohstoffe zu einer Situation führen, in der die Kontrolle über Territorien wieder entscheidend wird.
Für Lenin war sie das wichtigste Merkmal des Imperialismus: »Einzig und allein der Kolonialbesitz bietet volle Gewähr für den Erfolg der Monopole gegenüber allen Zufälligkeiten im Kampfe mit dem Konkurrenten.« Doch etwa 40 Jahre später hatten nicht nur die Befreiungskämpfe die Herrschaft der Kolonialmächte unhaltbar gemacht. Dass um 1960 fast alle Kolonien »in die Unabhängigkeit entlassen« wurden, hatte auch ökonomische Gründe. Warum sich mit hohen Kriegs- und Besatzungskosten belasten, wenn auch die jeweilige Regierung der ehemaligen Kolonie billige Rohstoffe bereitstellen kann und ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als es zu tun?

Als »höchstes Stadium des Kapitalismus« kann daher die Globalisierung gelten, das Regime des so genannten Freihandels, der CEO-Kultur des shareholder value und einer Verwertung, die alle Lebensbereiche erfasst. Staatliche Macht ist weiterhin ein ökonomischer Faktor, die USA und die EU setzen sie ein, um günstige Handels- und Investitionsbedingungen sowie oft auch Austeritätsmaßnahmen zu erzwingen. So sollen transna­tionale Konzerne zukünftig am Justizwesen vorbei ihre Wünsche durchsetzen können, wenn sie ihren Profit ungebührlich geschmälert sehen, hier geht der Trend also hin zu einem weiteren Abbau staatlichen Einflusses auf die Bourgeoisie. Putin propagiert einen anderen Weg, er besteht auf seinem Recht, die Wirtschaft zu lenken und auch den reichsten Kapitalisten nach Gutdünken einsperren zu können. Im Ukraine-Konflikt stehen also zwei kapitalistische Entwicklungsmodelle gegeneinander.
Die Wirtschaftspolitik auf die staatliche Kontrolle über den Rohstoffsektor zu stützen, ist insbesondere in öl- und gasexportierenden Staaten üblich und auch sinnvoll, sofern der Ertrag für die Armutsbekämpfung verwendet und produktiv investiert wird. In Russland geschieht weder das eine noch das andere. Im November vorigen Jahres lehnte die Duma es ab, den Mindestlohn über die offizielle Armutsgrenze anzuheben, und trotz des hohen Ölpreises stagniert die Wirtschaft. Viel Geld sammelt sich in der Staats- und Kriegskasse, mit etwa 460 Milliarden Dollar verfügt Putin über gewaltige Devisenreserven. Dies erlaubt es Russland, Öl und Gas zu Vorzugspreisen zu verkaufen, um politische Ziele zu erreichen und sogar zeitweise auf Einnahmen aus dem Energieexport zu verzichten.
Auf Ölreichtum gegründetes Sendungsbewusstsein kennzeichnet auch die Golfmonarchen, denn die Rentenökonomie, die dem Herrscher eine Menge Spielgeld verschafft und ihn relativ unabhängig von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivität macht, lädt gewissermaßen dazu ein. Schlüssig ist Putins Außenpolitik jedoch nicht. Angewiesen auf den Export fossiler Brennstoffe, müsste es sein Ziel sein, mit Staaten zu kooperieren, die ebenfalls daran interessiert sind, die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von Öl und Gas zu erhalten. Doch Russland hat die Golfmonarchien durch die Unterstützung Bashar al-Assads gegen sich aufgebracht. Die Öl und Gas exportierenden zentralasiatischen Staaten an sich zu binden, ist sinnvoll, um einen größeren Anteil der globalen Produktion zu kontrollieren. Doch die Annexion der Krim dürfte auch die zentralasiatischen Autokraten beunruhigen, während unklar ist, warum Putin ein so großes Interesse an den ehemaligen Sowjetrepubliken in Europa hat, dass er hohe Risiken eingeht.

Dass Russland auf das Heranrücken eines konkurrierenden Militärbündnisses abwehrend reagiert, entspricht ebenso den klassischen Regeln der Machtpolitik wie die Bereitschaft der Nato, osteuropäische Staaten aufzunehmen. Doch dient die Nato mittlerweile nur noch der Koordination auf nationaler Ebene vereinbarter Militäreinsätze, ist aber selbst kein handlungsfähiges Bündnis. Überdies ist die »Einkreisung« – tatsächlich rückte die Nato nur der südwestlichen Grenze Russlands näher – in der modernen Kriegsführung irrelevant. Die Doktrin des Sicherheitskordons stammt aus der Zeit der Infanterie- und Panzerschlachten, der Dritte Weltkrieg im 21. Jahrhundert wäre jedoch ein Luft- und Nuklearkrieg.
Eine dringliche Notwendigkeit zur Besetzung der Krim gab es auch aus nationalistischer Sicht nicht, zumal der Status der russischen Militärbasis auf der Halbinsel nicht in Frage stand. Hatte Russland sich bei früheren Konflikten mit der Schaffung von Klientelstaaten wie Abchasien begnügt, wird nun erstmals ein Territorium annektiert. Das ist kein Imperialismus im Sinne Lenins, denn um die Weintrauben der Krim geht es Putin sicher nicht. Seine Motive sind politisch und nicht ökonomisch. Er hat Stärke bewiesen – aber wozu? Zur Einschüchterung der ohnehin für seine Macht nicht bedrohlichen russischen Opposition hätte es keiner Annexion bedurft, und auch im Establishment hat er derzeit keine ernsthaften Konkurrenten. Doch die Machtverhältnisse sind undurchsichtig, vermutlich sogar für die Oligarchen und den politischen Clan Putins. Eine stabile Hausmacht hat der ehemalige Geheimdienstler nicht, seine Klienten folgen ihm nur, solange es in ihrem Interesse ist oder sie eingeschüchtert werden können.
Die aggressive Außenpolitik dient wohl vor allem der Stärkung des Systems Putin, der nun mehr denn je die Nation verkörpert und von nationalchauvinistischen Emotionen getragen wird. Er könnte noch etwa 20 Jahre lang regieren und ist bestrebt, Russland als »wertkonservatives« Bollwerk gegen die »westliche Dekadenz« darzustellen, um auch in anderen Ländern Sympathien zu gewinnen. Eine Alternative zu seiner Herrschaft gibt es derzeit nicht, denn die Demokratiebewegung ist zu schwach und die Oligarchen wünschen sich wohl einen willfährigeren Repräsentanten, werden aber nicht auf einen Übergang zum Freihandelskapitalismus drängen, der ihnen unerwünschte Konkurrenten bescheren würde, geschweige denn sich fortschrittlicheren Ideen öffnen.
Im Westen hat man sich daran gewöhnt, nur Wirtschaftliberalismus und Keynesianismus als mögliche Formen des Kapitalismus zu betrachten. Putin beweist, dass staatliche Wirtschaftslenkung ebenso reaktionären Zielen dienen kann. Die Russinnen und Russen könnten effektiver verwertet werden, doch ein auf Lohnarbeit und Profit basierendes System kann, wenn eine lukrative Einkommensquelle zur Verfügung steht, auch ohne die unermüdliche Optimierung der Ausbeutung funktionieren. Oligarchische Systeme und neofeudale Herrschaftsstrukturen entwickeln sich auch anderswo, etwa in der lateinamerikanischen und afghanischen Drogenökonomie. Zerfällt der globalisierte Kapitalismus im Zuge fortdauernder Krisen, wird man wohl auch mehr Menschen außerhalb Russlands wieder mit der Peitsche beibringen, ihre Heimat und ihren Herrscher zu lieben.