Der Rätekommunist Paul Mattick wurde vor 110 Jahren geboren

»Kein Atom Patriotismus«

Vor 110 Jahren wurde der Rätekommunist Paul Mattick geboren. Als Theoretiker der Arbeiterklasse verdient er einen Platz im Pantheon der historisch überlebten Revolutionäre.

Im Sommer 1923 machte ein Revolutionär eine »eigenartige Entdeckung«, an deren verstörenden Eindruck er sich nach mehr als 50 Jahren noch erinnern sollte. Während erbitterter Klassenkämpfe war Paul Mattick (1904–1981) in den Arbeiterrat Köln-Deutz gewählt worden, wo der damals erst 19jährige Streiks und Fabrikbesetzungen organisierte. Nachdem Streikende eine Fabrik besetzt hatten, gelangten sie schließlich zum Fabrikdirektor: »Als wir mit unseren Forderungen zuletzt an den Direktor der Deutz-Maschinenbau herankamen, zum Schluss, als wir die Leute bereits auf den Hof geholt und alles zerstört hatten, da machte ich die eigenartige Entdeckung, dass die Arbeiter, als wir das Zimmer des Direktors betraten, ihre Mützen abnahmen. Das war das erste, was ich bemerkte. Ich nahm meine Mütze nicht ab, wir hatten alle Mützen auf. Aber wie die Arbeiterräte dort eintraten, nahmen sie alle ihre Mützen ab und standen ganz verlegen in der Ecke. Ein anderer und ich, wir haben dann mit dem Direktor verhandelt.«

Dass Selbstbewusstein und Eigensinn nicht gerade zu den Standardeigenschaften deutscher Arbeiter zählten, selbst wenn diese sich ausnahmsweise auch mal revolutionär betätigten, war Mattick früh klargeworden. »Mein Vater«, berichtete er, »nahm an öffentlichen Versammlungen teil, zu denen er mich mitnahm. Er sagte immer, dass ich ein Strolch werde, wenn ich nicht in die Freie Sozialistische Jugend eintrete. (…) Und so war ich mit 14 Jahren Mitglied der Freien Sozialistischen Jugend, einfach weil mein Vater wollte, dass ich kein Strolch werde. Später war ihm meine Einstellung dann doch zu viel und zu weit links und ich bin in seinen Augen trotzdem ein Strolch geworden.«
Diese und ähnliche Erfahrungen hatten Mattick freilich zeitlebens nie an der Notwendigkeit einer kommunistischen Revolution durch die internationale Arbeiterklasse, wozu er auch die deutschen Arbeiter zählte, zweifeln lassen.
Paul Mattick gilt neben Karl Korsch als prominenter Vertreter jenes wahrhaft »orthodoxen Marxismus«, der als »Rätekommunismus« in der Nachfolge der niederländischen Theoretiker Anton Pannekoek und Hermann Gorter für die Möglichkeit einer Arbeiterbewegung jenseits von Sozialdemokratie und ihrer leninistisch-stalinistischen Konkurrenz einstand. Als Aktivist der linkskommunistischen KAPD und der anarchistischen Gewerkschaft AAU war er an manchen revolutionären Erschütterungen der jungen Weimarer Republik beteiligt.
1926 emigrierte er in die USA, wo er seine revolutionäre Tätigkeit in verschiedenen radika­len Zusammenschlüssen, unter anderem den Wobblies genannten Industrial Workers of the World (IWW), fortsetzte. Neben praktischer Re­volutionstätigkeit widmete sich Mattick stets dem Schreiben, zunächst Flugschriften, dann verstärkt theoretischen Essays, wodurch er auch in nicht immer harmonischen Kontakt mit der von Max Horkheimer mitherausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung kam. Sein Hauptwerk »Limits of Mixed Economy« (dt. »Marx und Key­nes«) erschien 1969, es gilt bis heute als fundamentale Kritik sozialdemokratischer Versuche, durch staatliche Förderung der proletarischen Konsumfähigkeit den Kapitalismus vor einer finalen Krise zu retten. Die hier notwendigerweise als historisches Subjekt auftretende Arbeiterklasse spielte auch in Matticks zuvor erschienener Kritik an Herbert Marcuses Buch »Der eindimensionale Mensch« eine Hauptrolle. Marcuse soll Matticks Kritik als »einzig ernstzunehmende« gewürdigt haben.
Als Theoretiker der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Selbstaufhebung könnte Matick heute einen würdevollen Platz im Pantheon der historisch überlebten Revolutionäre beanspruchen. Lohnarbeit wird derzeit von den kapitalistischen Vollstreckern mit ihren schmutzigen Mitteln entsorgt und unvermeidliche Reste werden mithilfe der Hartz-Gesetze zur postmodernen Gefolgschaft degradiert. Keynesianische Konzepte spielen heute bestenfalls noch in linkssozialdemokratischen Strategien eine Rolle, solange ihre Autoren nicht an der Herrschaft beteiligt sind.
Trotz alledem ist kürzlich in der interessanten Reihe »Dissidenten der Arbeiterbewegung« des Unrast-Verlags der Band »Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer. Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller« erschienen. Und es lohnt sich, das Buch zu lesen. Buckmiller hatte im Zuge der Arbeit an seiner Dissertation über Karl Korsch Mattick 1976 in den USA besucht und interviewt. Die Aufnahmen ruhten lange im Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte, bis sie dort vor zwei Jahren von französischen Linksradikalen entdeckt und nun von Christoph Plutte und Marc Geoffroy veröffentlicht wurden.

Die Revolution als das »große Abenteuer« beginnt für Mattick mit 14 Jahren, als der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches auch den persönlichen Ausbruch zu ermöglichen scheint: »Wir waren alle wahnsinnig begeistert von der Revolution, schon deshalb, weil wir niemals ein Atom Patriotismus in unseren Knochen hatten. (…) Unsere Cliquen lebten nur auf den Straßen und mit den revolutionären Matrosen, und wir versuchten, bei denen auf die Autos zu springen und mitzufahren.« Dieses Gefühl des hoffnungsvollen Aufspringens und Mitfahrens angesichts einer historische Gelegenheit sollte Mattick auch später in den USA nicht verlassen. Rückblickend wird er geradezu schwärmerisch: »Ich denke, dass diese Arbeiterbewegung in Chicago (…) wahrscheinlich die schönste Periode meines Lebens war. Erst einmal wurde ich selber arbeitslos, 1931 oder 1932, ziemlich spät, aber ich wurde arbeitslos. Und so ohne Arbeit zu leben, dauernd in der Bewegung, morgens bis abends unterwegs, mit Tausenden von Leuten in Berührung zu kommen – und nebenbei noch ohne Arbeit existieren zu können, das war doch eine wundervolle Zeit. Das war eine Zeit, von der man heute noch träumen kann.«
Zeitlich endet das Interviewdokument leider mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und fragmentarischen Bemerkungen Matticks über die gleichzeitig einsetzende staatliche Repression gegen die Linke und deren Anpassungsversuche. Gerade über diese Zeit würden heutige Gesellschaftskritiker aus rätekommunistischer Quelle aber gern mehr erfahren. War nicht angesichts des sich vollziehenden antisemitischen Vernichtungsprogramms der Nazideutschen eine Verbindung der kommunistischen Revolutio­näre mit kapitalistischer Staatlichkeit zumindest vorübergehend eine geschichtliche Notwendigkeit? Verkörperten seinerzeit nicht die Hauptmächte der sich entwickelnden Anti-Hitler-Koalition, die USA und die Sowjetunion, die Reste einer zwar ideologisch begründeten, aber dennoch mit Resten traditioneller Rationalität versehenen Herrschaft gegen den entfesselten Wahn Deutschlands und seiner Verbündeten? Fragen, die heutige linke »Bellizisten« wohl mit einem schallenden Ja und bezüglich der damaligen Sowjetunion mit ähnlichen Erklärungen wie die USA im Kalten Krieg beantworten werden. Fragen, die aber auch jenseits von Anpassungswillen und Konformismus wichtig sind – gerade aufgrund der realen Bestialität Nazideutschlands und möglicher Nachahmer. Auf solcherart Fragen in den ein- und ausleitenden Texten des sonst lesenswerten Buches nicht eingegangen zu sein, sollte Herausgebern und Verlag als Mangel an­gezeigt werden.

Christoph Plutte/Marc Geoffroy (Hrsg.): Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer. Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller. Dissidenten der Arbeiterbewegung IV. Unrast-Verlag, Münster 2013. 179 Seiten, 16,00 Euro