Proteste und Repression nach dem Tod des jüngsten Gezi-Opfers in der Türkei

Gezi ist nicht vorbei

Nach dem Tod des 15jährigen Berkin Elvan, des jüngsten Opfers der Gezi-Proteste, gingen in der Türkei erneut Millionen Menschen auf die Straße, gegen die Polizeigewalt, gegen die Korruption, gegen die Regierung. In wenigen Tagen wird sich zeigen, ob die Empörung politische Folgen haben wird.

Nach 269 Tagen im Koma wog der 15jährige nur noch 15 Kilo. Am 11. März um sieben Uhr morgens starb das jüngste Opfer der Ausschreitungen um den Gezi-Park in Istanbul. Gegen Mittag teilte die Familie über Twitter mit: »Wir haben unser Kind, Berkin Elvan, heute morgen verloren, herzliches Beileid an alle.« Der Tod des Teenagers, der ganz zu Beginn der Gezi-Proteste von einer Gaspatrone am Kopf getroffen wurde und nie wieder das Bewusstsein erlangte, brachte in nicht einmal einer Woche fast drei Millionen Menschen aus 53 türkischen Provinzen auf die Straße. Das Alter des Opfers und die Tatsache, dass der Junge am 16. Juni 2013 lediglich unterwegs gewesen war, um Brot einzukaufen, trugen zur Empörung bei, wie die Korruptionsskandale der von vielen als verlogen und verdorben empfundene islamisch-konservativen politischen Führung.
Zwei Wochen vor den Kommunalwahlen, also mitten im Wahlkampf, vergriff sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wieder einmal im Ton. Anstatt sein Mitgefühl auszudrücken, stieß er die Familie Elvan und Hunderttausende von Menschen, die um den Jungen trauern, vor den Kopf: Berkin Elvan habe wie ein Mitglied einer terroristischen Organisation gewirkt, sagte Erdoğan. Er habe sein Gesicht mit einem Schal bedeckt, als er auf der Straße unterwegs gewesen sei. Erdoğan rechtfertigte, dass die Polizei auf den Jungen schoss: Die Polizei habe sein Gesicht nicht sehen und sein Alter nicht einschätzen können. Die Geschichte von dem harmlosen Jungen, der nur Brot holen wolle, sei »eine Erfindung der Oppo­sition«.

Nachdem fast täglich Mitschnitte von Telefongesprächen Erdoğans auftauchen, in denen er entweder anordnet, Millionen von Dollar an Schwarzgeld verschwinden zu lassen, Journalisten mundtot zu machen oder Proteste mit Gewalt niederzuschlagen, ist ohnehin jede Normalität aus dem politischen Alltag verschwunden.
Der Vater des verstorbenen Jungen, Sami Elvan, meldete sich am späten Abend des 12. März im Interview mit dem türkischen Privatsender CNN-Türk zu Wort. »Berkin ging los, um Brot zu kaufen (…). Ich appelliere an den Ministerpräsidenten. Er kann den Mörder meines Sohnes in einer Stunde liefern, wenn er will.« Doch wer die Gaspatrone abfeuerte, die Berkin tötete, ist bis heute nicht ermittelt. So wie bei den anderen sieben Todesopfern der landesweiten Demonstrationen wird es auch in diesem Fall keine ernsthaften Ermittlungen geben. Eine Regierung, die in dreieinhalb Monaten Tausende von Polizisten versetzen oder suspendieren lässt, um Ermittlungen gegen Politiker aus den eigenen Reihen zu verhindern, wird es tunlichst unterlassen, noch mehr Druck auf die Sicherheitskräfte auszuüben.

Während Millionen von Menschen empört auf die Straße gingen, sprach Berkin Elvans Vater in der vergangenen Woche immer wieder in Interviews vielen Menschen aus der Seele: Er warf Erdoğan vor, den Hinterbliebenen derjenigen, die in Ägypten gestorben seien, sein Beileid ausgesprochen zu haben, während ihnen diese Geste nicht zuteil geworden sei. Erschwerend kommt hinzu, dass die Familie Elvan alevitischen Glaubens ist. Die Aleviten verehren, anders als die sunnitische Mehrheit in der Türkei, Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammeds, als dessen rechtmäßigen Nachfolger. Sie beten nicht in der Moschee, sondern im cemevi. Die Gebete werden nicht auf Arabisch, sondern auf Türkisch gesprochen. Die Aleviten fordern seit Jahren die offizielle Anerkennung ihrer Religion, die Aufnahme der alevitischen Glaubenslehre in den staatlichen Religionsunterricht und die staatliche Förderung ihrer Gotteshäuser. Umso schwerer wogen die Vorwürfe Elvans gegen die Regierung. Kein Regierungsvertreter höherer oder niederer Ebene habe sich bei ihnen gemeldet, als sich der Zustand seines Sohnes verschlechterte, erzählte der Vater bitter vor laufenden Kameras. Für ihn bedeutet das wieder einmal, dass Aleviten nicht Bürger dieses Landes sind. »Jedes Mal, wenn unser Ministerpräsident spricht, redet er über Religion. Wenn er ein Gewissen hat, muss er den Mörder meines Sohnes liefern. Ich möchte glauben, dass er das tut«, so Sami Elvan weiter. Er kündigte an, dass er Berkins Taschengeld künftig in einem Schuhkarton vor dem Haus der Familie ablegen werde. Alle, die in Not seien, könnten sich bedienen. In einem Gespräch mit der BBC sagte er: »Ich will, dass er als Kind, das durch den Staat getötet wurde, im Gedächtnis bleibt.«
In diesen Tagen wirkt dieses Bild in der Türkei wie ein Multiplikator des Gefühls von Millionen von Menschen. Armut und Machtlosigkeit stehen gegen Polizeigewalt, Überfluss und ein Meer von Lügen. Auf Twitter ist der Hashtag #BerkinElvan in der vergangenen Woche hunderttausendfach geklickt worden. Fotos der Proteste aus der Türkei und dem Ausland, Hasstiraden auf die Regierung und Erdoğan bewegten die User. Einem türkischen Hacker-Kollektiv gelang es, kurzzeitig den Twitter-Account von Erdoğans politischem Hauptberater, Mustafa Varank, zu hacken. Sie posteten dort Solidaritätsbekundungen und tauschten das Bild von Varank gegen eines von Berkin Elvan aus. In einer der Nachrichten hieß es: »Wir wissen, wer Elvans Mörder ist.« Dazu wurde eine Fotografie Erdoğans gepostet, darunter die Zeile: »Ich habe der Polizei die Anweisung gegeben.«
Der türkische Ministerpräsident unterließ es trotzdem nicht, weiter zu provozieren. Im südostanatolischen Mardin erklärte er am Mittwoch voriger Woche: »Der Versuch, die Straßen 18 Tage vor den Wahlen in Brand zu stecken, ist nicht demokratisch. Ich appelliere an die Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und NGOs, die solche Vorfälle provoziert haben, Verantwortung zu zeigen. Wer Probleme hat, der sollte sie am 30. März an der Urne lösen.«
Seit Berkins Tod am Dienstag vergangener ­Woche griff die türkische Polizei bei Demonstrationen in insgesamt 13 Provinzen des Landes ein. Mindestens 52 Zivilisten und 19 Polizisten wurden im Zuge der Auseinandersetzungen verletzt, 417 Personen wurden von den Sicherheitskräften festgenommen. In Istanbul, Ankara, Izmir und Mersin wurden die Märsche und Proteste bis zum Wochenende fortgesetzt. Am Donnerstag vergangener Woche kam es im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa zu einem Schusswechsel zwischen rivalisierenden Gruppen, bei dem ein unbeteiligter Passant, der 22jährige Burak Can Karamano­ğlu, getötet wurde und zwei weitere junge Männer verletzt wurden. Die Gegend ist eines der sensibelsten Areale der Stadt. Kasımpaşa liegt im Bezirk Beyoğlu, in dem Menschen verschiedener Herkunft und Religionen leben. Viele Aleviten haben dort ein Zuhause gefunden und viele linke und kurdische Gruppen erfahren hier starke Unterstützung. In Kasımpaşa ist die Bevölkerung allerdings eher konservativ, mit Verbindungen zu nationalistischen oder religiösen Gruppen. Von hier stammt auch Erdoğan.
Donnerstagnacht kam es zu teils heftigen Ausschreitungen in der gesamten Türkei. Der exzes­sive Tränengaseinsatz forderte auch ein Opfer in den Reihen der Polizei. Bei Ausschreitungen in der türkischen Provinz Tunceli erstickte der Beamte Ahmet Küçüktağ aufgrund von Tränengaseinwirkung. Der 30jährige war am 12. März zusammengebrochen und später im Krankenhaus verstorben. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sich sein Gesundheitszustand durch den intensiven Tränengaseinsatz der Polizei gegen die Demonstranten verschlechtert hatte. Der Polizeichef wies diese Theorie zwar zurück, doch den offiziellen Verlautbarungen traut momentan sowieso niemand mehr in der Türkei.

Am Wochenende tauchte eine weitere Tonaufnahme vom vergangenen Sommer auf, in der Erdoğan die Anweisung erteilt, die Gezi-Proteste mit aller Gewalt niederzuschlagen. Der Ministerpräsident befindet sich kurz vor den Kommunalwahlen in der unangenehmen Lage, kontinuierlich Dementis abgeben zu müssen. Immer wieder spricht er von Lügen und Verschwörungen und wirkt so ganz und gar nicht wie der Stabilität und Wachstum garantierende Politiker, der noch vor einem Jahr Wahlergebnisse von 50 Prozent versprochen hatte. Am 30. März wird sich zeigen, wie viele Menschen in der Türkei der AKP noch trauen. Die Umfragen schwanken derzeit zwischen 32 und 40 Prozent. Angesichts der anhaltenden Skandale immer noch ein recht hohes Ergebnis. Das liegt daran, dass die islamisch-konservativen Partei in den Kommunen tatsächlich einige der jahrzehntelang bestehenden Infrastrukturprobleme gelöst haben. Obwohl sich in Metropolen wie Istanbul die Einwohnerzahl in den vergangenen 15 Jahren fast verdoppelt hat, gibt es kontinuierlich fließendes Wasser. Das war Anfang der neunziger Jahre ein Luxus. Damals sammelten die Istanbuler abends Wasser in der Badewanne, weil es nur um sieben Uhr abends für eine halbe Stunde floss.
Der Enthüllungsjournalist Mehmet Baransu, der am 17. November die ersten Tonaufnahmen und Fotos veröffentlichte, auf denen AKP-Minister oder ihre Kinder Schmiergelder annehmen, grinst. Von seinem kleinen Büro in Kabataş aus ist die erste Bosporusbrücke zu sehen. »Das ist bei uns so, die AKP sagt, wir bauen eine dritte Brücke, die kommt allen zugute, dafür kassieren wir aber auch Schmiergeld.« Das finden leider immer noch zu viele Menschen in der Türkei ganz normal, weil es nie anders war. Dass der Ministerpräsident aber am Telefon die Anweisung erteilt, Baransu sofort in den Knast zu stecken, wenn er nicht schweige, wie es in der vergangenen Woche auf Youtube zu hören war, ist neu. Bis zum 30. März wird noch so einiges von dem zu hören sein, was die Regierung der »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« an schmutziger Wäsche zu bieten hat.