Frankreichs Rolle beim Genozid in Ruanda

Bestellte Macheten

In Frankreich kommt die Aufarbeitung der eigenen Verantwortung für den Genozid in Ruanda 1994 nur sehr schleppend voran.

»Hebt endlich die Geheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!« fordert eine Petition, die am Mittwoch voriger Woche online ging. Innerhalb von vier Tagen wurde sie von rund 2 000 prominenten und nicht prominenten Personen unterzeichnet. Initiiert worden war sie von der französischen NGO Survie, die zu den schärfsten Kritikern der neokolonialen Politik des Landes in Afrika zählt, und von verbündeten Bürgerinitiativen. Ihre Forderung richtet sich explizit an Staatspräsident François Hollande und Verteidigungsminister Jean-Yvan Le Drian. Diese könnten, wenn sie denn wollten, den bislang aufrechterhalten Verschluss aller staatlichen Archive zur französischen Ruanda-Politik im Vorfeld des Völkermords von 1994 teilweise oder gänzlich aufheben. Gerechtfertigt wird die Sperrung der Archive mit dem secret-défense. Dabei handelt es sich um eine mit militärpolitischen Erfordernissen begründete besondere Geheimhaltungsstufe.
Gleichzeitig gibt es zur Zeit Diskussionen zwischen den französischen Grünen, also ihrer linksliberalen Bündnispartei Europe Ecologie-Les Verts (EELV), und dem Linksbündnis Front de Gauche über ein mögliches gemeinsames Vorgehen im Parlament zum Thema. Auf beiden Seiten gibt es Abgeordnete, die die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses fordern.

Der Genozid, die Ermordung von 800 000 bis zu einer Million Tutsi und gemäßigten Hutu in Ruanda, war auch ein französisches Verbrechen. Von 1990 bis zum Sommer 1994, also bis kurz nach dem Ende des Völkermords, war Frankreich in Ruanda militärisch sehr aktiv. Die dortige Tätigkeit hatte drei zentrale Charakteristika: Erstens ging es um die Bekämpfung der mehrheitlich von Angehörigen der Tutsi-Minderheit im Exil gebildeten Rebellenarmee, der Ruandischen Patriotischen Front (RPF). Auf ihren Strukturen beruht die heutige Regierungspartei in Ruanda, die seit Juli 1994 die politische Macht ausübt. In den Jahren zuvor analysierten politische und militärische Entscheidungsträger in Frankreich die RPF als Gefährdung für die postkoloniale Einfluss­zone Frankreichs in Afrika, welche die US-Amerikaner und Briten nach dem Ende des Kalten Krieges zu übernehmen trachteten. Die RPF agierte von Basen in Ruandas englischsprachigem Nachbarland Uganda aus. Ihr Vordringen sollte mit allen Mitteln verhindert werden.
Zum Zweiten wandten französische Militärstrategen dabei Methoden des sogenannten »antisubversiven Krieges« – bisweilen auch »revolutionärer Krieg« genannt – an, die der Militärapparat des Landes in den Kolonialkriegen der späten fünfziger Jahre zu entwickeln begonnen hatte. Damals war der Apparat besessen von der Idee einer »kommunistischen Subversion«, die angeblich hinter den Entkolonialisierungsbewegungen stehe und ein gigantisches Komplott darstelle. Zu ihrer Eindämmung wurden verschiedene Techniken entwickelt, zum Teil unter Rückgriff auf Ideen des deutschen Generals Erich Ludendorff. Diese enthielten neben Folterpraktiken auch die Durchorganisierung der Bevölkerung, ihre möglichst vollständige statistische Erfassung und die Verbindung von zivilen und mi­litärischen Organisationsformen durch die Bildung von Milizen. Erstmals erprobt wurden diese Techniken im Algerienkrieg. Danach wurde das französische Know-how in den siebziger Jahren in Militärdiktaturen wie Argentinien und Chile exportiert. Ruanda, wo die ethnoextremistische Bewegung der »Hutu Power« ab 1990 zur massenhaften Organisierung in Milizen drängte, bot das jüngste Experimentierfeld für diese Techniken. Die »Experten« berieten die Milizen, die dann später den Völkermord verübten.
Als drittes Element kam der machtpolitische Zynismus der Regierenden im französischen Staatsapparat hinzu. Diese beschlossen, einen Verbündeten in der eigenen Einflusssphäre lasse man nicht fallen, selbst wenn er Verbrechen be­gehe, da man keine Zweifel an der Zuverlässigkeit Frankreichs unter anderen verbündeten Diktatoren aufkommen lassen wolle. Die »ruandische Übergangsregierung« GIR wurde am 9. und 10. April 1994 – nach dem Tod von Präsident Juvénal Habyiarimana beim Abschuss seines Flugzeugs – in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali gebildet. Sie sollte in den nächsten zwei Monaten den Völkermord maßgeblich organisieren. Mitte Mai 1994 wurde sie in Paris empfangen, wo ihr Militärhilfe versprochen wurde.

Vor einem Jahrzehnt noch war in Frankreich eine geschichtsrevisionistische These Staatsdoktrin, die im Kern besagte: Es handelte sich nicht um einen geplanten und systematisch durchgeführten Völkermord, sondern um eine mehr oder minder spontane Reaktion der Hutu-Mehrheitsbevölkerung auf ein Verbrechen der RPF. In Wirklichkeit war der Genozid über Jahre hinweg geplant worden. Die Macheten, mit denen der ruandische Völkermord zum Teil in blutigem Handwerk durchgeführt wurde, waren im Sommer 1993 in China bestellt worden, mit einer Garantie der französischen Bank BNP.
Im Jahr 2004 hatte der französische Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière der besagten These juristische Weihen verliehen. Er eröffnete damals ein »antiterroristisches« Strafverfahren gegen zehn hochrangige Regierungspolitiker und Vertraute von Staatspräsident Paul Kagame, die alle vor dem Völkermord bereits bei der RPF aktiv waren. Er warf ihnen vor, am Attentat auf Präsident Habyiarimana beteiligt gewesen zu sein und dadurch den Völkermord gegen die Tutsi, also ihre eigene Bevölkerungsgruppe, verursacht zu haben.
Dieses staatliche Bemühen der Leugnung eines geplanten Genozids ist auf der ganzen Linie gescheitert. Bruguière musste von seinem Richteramt zurücktreten, nachdem er 2007 für Nicolas Sarkozys damalige Regierungspartei UMP für einen Parlamentssitz kandidiert hatte. Mit der Kandidatur verletzte er das politische Neutralitäts­gebot für Richter. Im November 2008 begab sich Rose Kabuye, die zum Personenkreis gehörte, gegen den Bruguière ermittelt hatte, freiwillig in Untersuchungshaft in Frankreich. Dadurch erhielt sie über ihre Anwälte Zugang zu den umstrittenen Akten und konnte in der Folgezeit verbreiten, die Akte sei völlig »leer«. Nach wenigen Monaten kam sie wieder frei.
Vor allem aber rollten Bruguières Amtsnachfolger Nathalie Poux und Marc Trédivic, die Grundlagen des Ermittlungsverfahren neu auf. Dabei kamen sie jedoch zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Im Januar 2012 legten Experten ihnen einen ballistischen Untersuchungsbericht vor, der zu dem Ergebnis kam, Bruguières Grundbehauptung, wonach die auf den Präsidentenflieger abgefeuerten Raketen von einem RPF-Camp aus abgeschossen worden seien, sei technisch unmöglich aufrechtzuerhalten. Den Experten zufolge kamen die Raketen aus dem Camp Kanombé. Dort saßen im April 1994 jedoch nicht die Rebellen der RPF, sondern vielmehr gegenüber dem amtierenden Regime loyale Militärs. Dies verlieh der These, wonach extremistische Kräfte innerhalb des Regierungslagers damals den aus ihrer Sicht zu kompromissbereiten Präsidenten Habyiarimana ausschalteten, als Fanal und Signal zum Losschlagen, größere Plausibilität.

Die Version, die RPF habe den Abschuss zu verantworten, wird heute in Frankreich nicht mehr offiziell vertreten, spätestens seit Nicolas Sarkozy sie als Präsident aus dem Weg räumte. Aufgrund der Erkenntnis, dass die »Zeitbombe« der offenen Fragen zur französischen Rolle in Ruanda entschärft werden müsse, hatte Sarkozy sich im Februar 2010 nach Kigali begeben, wo er sich, eilig wie immer, drei Stunden aufhielt. Immerhin fand er Zeit, sich vor den Genozidopfern zu verneigen und festzustellen, Frankreich habe beim Völkermord von 1994 auf der falschen Seite gestanden. Selbstverständlich nicht, weil Franzosen Verbrechen begangen hätten, sondern aus Irrtum und »Verblendung«.
Die Staatsspitze hat auf diese Weise die geschichtsrevisionistische Doktrin offiziell entsorgt. Heute wird sie fast nur noch vom Schriftsteller Pierre Péan offensiv vertreten, einem französischen Nationalisten, der sich für einen Vorkämpfer der Wahrheit und der Underdogs hält und bevorzugt im Wochenmagazin Marianne publiziert. Dort wärmt er in der Ausgabe von dieser Woche erneut die These vom RPF-Mord an Präsident Habyariamana auf, unter Berufung auf dubiose »neue Zeugen«. Er bezeichnet den früheren RPF-Chef und jetzigen Präsidenten Ruandas, Paul Kagame, als »afrikanischen Kim Il-sung«, was wenigstens insofern originell ist, als er nun den asiatischen Vergleichsrahmen wechselte. Bislang hatten Péan und manche französische Militärangehörige und Geheimdienstler, von denen er seine Informationen bezieht, die RPF als »Schwarze Khmer« bezeichnet.
Seit Sarkozy im Februar 2010 diese Variante des Geschichtsrevisionismus quasi offiziell dementierte, hat sie sich als Regierungsposition erledigt. Kein Staatsvertreter würde heute noch vergleichbare Ansichten vertreten. Allerdings äußert sich die derzeit amtierende Regierung auch nicht weiter zum Thema. Und dies nicht nur, weil das Kabinett bis über beide Ohren in innenpolitischen Problemen steckt, sondern auch, weil das politische Erbe François Mitterrands für viele französische Sozialdemokraten nach wie vor tabu ist, es aber notwendig Schaden nähme, würde man seine Rolle im Fall Ruanda offenlegen. Ein Untersuchungsbericht der ruandischen Regierung im Jahr 2010 hatte Mitterrand beschuldigt, beim Genozid Hilfe »politischer, militärischer, diplomatischer und logistischer Natur« geleistet zu haben. Französische Soldaten hätten, hieß es zudem in dem Bericht, auch direkt an der Ermordung von Tutsi und gemäßigten Hutu mitgewirkt. Auch gebe es Belege für Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen durch französische Soldaten.
Von staatlicher Seite aus waren bis Redaktionsschluss keine Veranstaltungen zum Gedenken an den 20. Jahrestag des Beginns des Völkermords in Ruanda bekannt. Umso aktiver ist das Milieu aus NGOs und Bürgerinitiativen, ebenso wie die Pariser Gedenkstätte für die Shoah, wo seit Mitte Februar mehrere Veranstaltungen zum Völkermord in Ruanda stattfanden. Rund um den Jahrestag der Auslösung des Genozids am 7. April werden eine Reihe von Gedenkveranstaltungen und Filmvorführungen stattfinden, organisiert von Vereinigungen wie »Ärzte ohne Grenzen«, Antirassismusgruppen oder auch mit Unterstützung einzelner links geführter Rathäuser wie in Ivry. Am Montag wird zudem eine Gedenkstätte für die Genozidopfer in Ruanda auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise eingeweiht.