Die Pathologisierung von Intersexualität

Natur und Intersexualität

Die Biologie hat bei fast allen als zweigeschlechtlich klassifizierten Lebewesen geschlechtliche Mischformen gefunden. Es war vor allem der Medizin vorbehalten, sie zu pathologisieren.

Als der Psychoanalytiker Jacques Lacan einmal die Macht der Signifikanten anhand der Schriften und Zeichen über den französischen Toiletten erklärte, ging es ihm darum, das Männliche und das Weibliche nicht als biologische Substanz, sondern als symbolische Ordnung zu verstehen. Es ist eine der Voraussetzungen der Lacanschen Psychoanalyse, der Anatomie keine Bestimmungsmacht über die geschlechtliche Position zuzugestehen. Die Frage, ob sich ein Mensch als Frau oder Mann versteht, wird nicht in einem instinktiven oder natürlichen Prozess beantwortet. Sie wird in einem komplexen Vorgang entschieden, in dem sich anatomische Unterschiede mit sozialen und psychischen Faktoren verbinden. Und weil keiner dieser Faktoren – weder die biologischen, noch die sozialen oder die psychischen – über die Lebensspanne eines erwachsen und alt gewordenen Menschen stabil ist, bleibt die Frage nach der sexuellen Identität immer unsicher. Eine »normale, fertige, geschlechtliche Position« (Lacan) gehört deshalb in das Reich der Unmöglichkeit.
Aus diesem Grund versteht Lacan im Unterschied zu Freud die Heterosexualität auch nicht als normal, sondern als normativ. Als eine Norm, die mit der Natur aus dem einfachen Grund nichts zu tun hat, dass die Natur weniger eindeutig verfährt, als es den meisten Menschen lieb ist. Die sogenannte Natur überlässt zum Beispiel die Geschlechtsbestimmung bei Schildkröten und Krokodilen der Außentemperatur des Milieus, in dem die Eier heranreifen. Aus Eiern, die in kühlerem Sand heranwachsen, werden regelmäßig männliche Tiere geboren, aus denen an wärmeren Plätzen schlüpfen Weibchen. Die Unterschiede zwischen den Milieus betragen dabei oft nur drei, vier oder fünf Grad Celsius. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich in solchen Verhältnissen auch die Möglichkeit der unentschiedenen Mischverhältnisse vorzustellen. Also sich Individuen zu denken, in denen Merkmale beider Geschlechter in verschiedenen Formen nebeneinander vorkommen.
Tatsächlich hat die Biologie bei allen als zweigeschlechtlich klassifizierten Lebewesen solche Mischformen gefunden und sie hat sie, auch weil es Lebensformen gibt – wie manche Schnecken –, die die längste Zeit ihres Lebens überhaupt nur als Mischformen vorkommen, als das genommen, was sie sind: Phänomene. Das heißt die Biologie hat sie selten pathologisiert oder ins Reich der Monster verschoben, wie es die Medizin ab dem 18. Jahrhundert regelmäßig tat.
Allerdings standen zwittrige Hirsche oder Kaninchen auch nie vor dem Problem, sich vor einer öffentlichen Toilette für eine Zuschreibung entscheiden zu müssen, der sie nicht angehörten. Verhaltensauffällig im Sinne einer Abweichung von einer Norm konnten sie also nicht werden.
Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen hermaphroditischen oder zwittrigen Menschen und Tieren. In den entwickelten Menschengesellschaften haben sich um die Norm, eindeutig als Mann oder Frau identifiziert werden zu müssen, medizinische, juristische und verwaltungstechnische Verfahren entwickelt, die das Leben von intergeschlechtlichen Menschen in der Regel zur Tortur werden lassen. Intergeschlechtliche Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen, unterliegen in der frühen Kindheit oft chirurgischen Eingriffen, die sie in Richtung eines Geschlechts korrigieren. Dass das ohne die Zustimmung der Betroffenen geschieht, versteht sich aufgrund des Alters von selbst. Ähnliches gilt für im jugendlichen Alter verabreichte Hormontherapien, die auf die Eindeutigkeit in Richtung von Mann oder Frau im Erscheinungsbild intergeschlechtlicher Menschen hinwirken sollen.
Und wie Zeugnisse von Folterungen lesen sich manche Passagen des im vergangenen Herbst im Berliner NoNo Verlag erschienenen Buchs »Inter. Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter«. Das Buch, herausgegeben von Elisa Barth, Ben Böttger, Dan Chris­tian Ghattas und Ina Schneider, versammelt Erfahrungsberichte, Fotos und einige Kunstwerke von intergeschlechtlichen Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturen. Dabei ist das Buch in einem genauen Sinn bereits ein Teil der Lösung der in ihm ausgesprochenen Probleme. Denn wenn Belgin İnan, ein intergeschlechtlicher Mensch aus der Türkei, in ihrem Text schreibt, dass sie bis heute »keinem inter* Individuum von Angesicht zu Angesicht begegnet ist«, dann bietet der Band zumindest den Anfang vom Ende dieser Erfahrungseinsamkeit. Wobei die Art und Weise, wie hier mit den Erfahrungen umgegangen wird, das Neue ist. Unter Verzicht auf formal erzählerische oder bildnerische Experimente liefern die Inhalte der Erzählungen das Experiment.
Sebastian, ein britischer intergeschlechtlicher Mensch, zum Beispiel erzählt, dass, wenn er Leuten von »Trans« oder »sex change« berichtet, sie in der Regel als erstes versuchten, herauszufinden, wer er vor der Geschlechtsumwandlung gewesen sei. Wenn er jedoch »intersex«, das eng­lische Wort für intergeschlechtlicher Mensch, erwähne, wüssten die meisten noch nicht einmal, was das heißt. Von Hermaphroditen hätten sie in der Regel schon gehört und würden dann anfangen, sich seine Genitalien vorzustellen. »Und dann«, schreibt er weiter, »wirds wirklich sehr interessant und lächerlich.«
Wobei die erfahrene Lächerlichkeit des Grabens in den Vorstellungen der anderen über den eigenen Körper und dessen tatsächlichem Zustand allen Erzählungen gemeinsam ist. Genauso wie alle hier berichtenden intergeschlechtlichen Menschen auch ohne jedes Vorbild zu sich selbst finden müssen. Zu einem Selbst, für das ihnen schon deshalb das Wort Natur nie einfällt, weil sie in der Regel bereits durch chirurgische oder hormonelle Korrekturversuche hindurchgegangen sind.
Insofern kann man die Erfahrungstexte in diesem Band als Pionierarbeiten auf dem Weg zur Konstruktion einer Identität lesen, mit der die jeweiligen Individuen versuchen, ein buchstäblich eigenes Leben zu leben. Ein Leben, das unter keiner anderen Überschrift steht als dem schlichten Satz: Es gibt intergeschlechtliche Menschen. Und das ist ein großartiges Moment in diesen Geschichten, dass sie alle darum wissen, dass sie sich ihre Identität konstruieren und nicht etwa einer sogenannten tieferen Natur in ihnen folgen.

Woraus nicht zuletzt ein geschärftes Bewusstsein für Sprache und Begriffe folgt. Der erste Akt im Kampf um das eigene Leben besteht hier in der Zurückweisung der medizinischen Zuschreibungen. Seit 2006 werden die verschiedensten »intersexuellen Syndrome« unter dem medizinischen Oberbgriff DSD zusammengefasst. DSD steht für »Disorders of Sex Development«, auf Deutsch: eine Störung der geschlechtlichten Entwicklung. Wobei schon der Begriff der »Störung« unterstellt, dass einige Variationen menschlicher Körper normaler und wünschenswerter seien als andere. Der Begriff der Norm beziehungsweise der normalen Entwicklung drückt in dieser medizinischen Terminologie also ein polemisches Konzept aus, dessen Auswirkungen die Inter-Personen am eigenen Körper erfahren haben. Die Norm der eindeutigen oder noch schlimmer: »wahren« Geschlechtlichkeit hat, das wissen die intergeschlechtlichen Menschen aus ihren Biographien, nichts mit irgendeinem Naturgesetz zu tun. Mit der Norm wird gleichzeitig ein Prinzip der Bewertung und der Korrektur in die Welt gesetzt. Die Funktion der Norm besteht im Fall der Intergeschlechtlichen nicht darin, sie auszuschließen oder zurückzuweisen. Sie ist im Gegenteil immer an eine positive Technik der Intervention und Transformation gebunden. An ein normatives Projekt, dessen Hilfsmittel unter anderem Chirurgie und komplexe Hormontherapien sind.
Wobei Chirurgie und Hormone allerdings Hilfsmittel mit einem doppelten Gesicht sind. Intergeschlechtliche Menschen verdammen sie prinzipiell schon deshalb nicht, weil sie auch zu Mitteln ihres eigenen Lebens werden können, wenn sie sich im erwachsenen Alter aus eigener Entscheidung für eines der beiden gängigen Geschlechter entscheiden. Und das gibt dem Erfahrungsdiskurs der intergeschlechtlichen Menschen eine weit über sie hinausreichende Bedeutung: Die Frage nach dem Geschlecht wird zu einer nach der Neuorientierung von Wissenschaft und Gesellschaft ohne ein normatives Konzept der Korrektur des Lebendigen.