Berlin Beatet Bestes. Folge 235.

Bärte, Gruftis, Samba

Berlin Beatet Bestes. Folge 235. Rakta LP (2013).

Was bedeutet es, »in« zu sein und »mit der Zeit« zu gehen? Kann irgendwer tatsächlich mit der Zeit sein oder fallen wir nicht alle aus der Zeit? Ganz verzweifelt hippe Typen mit Undercut und Vollbart mal ausgenommen. Ist es nicht sogar wünschenswert, sich nicht zum Spielball von cleveren Trendstrategen machen zu lassen? Sich zu verweigern und nicht dem Strom der Moden zu folgen? Ich hab natürlich gut reden, ich bin alt, mir kann’s egal sein, was gerade angesagt ist. Egal wie hip ich früher vielleicht mal war, mein Vollbart, würde ich mir denn einen wachsen lassen, wäre hoffnungslos grau. Die frische, kraftstrotzende Vitaltät des Vollbartlooks junger Männer kriege ich sowieso nicht mehr hin.
Aber das war nicht immer so. Auch wenn ich emotional oft mit einem Fuß außerhalb der gängigen Strömungen stand. So sehr ich zum Beispiel auch 1984 die damals brandaktuelle LP »Tocsin« der Hamburger Band Xmal Deutschland geliebt habe, über das Lebensgefühl meines Klassenkameraden Karsten, der damals ein Vollgrufti war, konnte ich nur lachen. Natürlich trug er nur schwarze Klamotten, hatte schwarz gefärbte Haare, eine sogenannte Krähennest-Frisur, liebte Joy Division und las ewig in einem Buch von H. P. Lovecraft. Karsten wirkte so kraft- und trostlos, es war einfach lächerlich. Ich war 18 und hatte Sex und strotze vor Energie. Was für ein Problem hatte Karsten? Wahrscheinlich hatte er keinen Sex. Aber das hatten die meisten Schüler damals nicht. Die Gruftimode jedenfalls ließ diese elende Larmoyanz irgendwie hip erscheinen ließ. Das waren nun mal die Achtziger. Grau war cool, und happy sein war es nicht. Happy war scheiße. Dieter Bohlen war happy.
Ich war auch happy. Jung und happy. Und ich liebte Xmal Deutschland. Xmal Deutschland im Oktober 1984 in der Markthalle in Hamburg war das Konzert des Jahres.
Rakta, eine Frauenband aus São Paulo, haben den Sound von Xmal Deutschland jetzt neu interpretiert. Es ist spürbar, wie gern sie sich in diesem Achtziger-Post-Punk-Sound aufhalten und mit diesem Sound spielen. Der Hall auf dem Gesang, der gefährlich blubbernde Bass, die sägende Gitarre und der scheinbar beständig vorwärts strebende Rhythmus, all diese Elemente, die Xmal Deutschland vor 30 Jahren etablierten, werden nun ausgerechnet im happy Samba-Land Brasilien zu neuem Leben erweckt. Sind Rakta retro? Ich weiß es nicht. Raktas erste LP, eine DIY-Produktion, ist jedenfalls ein kleines Meisterwerk. Ohne jeden Fehler und ohne ein schlechtes Stück, atmosphärisch sehr dicht und voll roher Energie, so wie São Paulo selbst, eine der größten Städte der Welt.
Am 12. Juni wird São Paulo Austragungsort für das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft 2014 sein. Und ich bin ziemlich sicher, dass dann gleichzeitig irgendwo in dieser riesigen Metropole vier junge Frauen herumlaufen werden, denen das doofe Riesenspektakel in diesem ja so fußballbegeisterten Land komplett am Arsch vorbei geht.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.