Haftbedingungen in Russland

Zwangsarbeit und Gummizellen

Obwohl unabhängige Kommissionen in Russland die Haftbedingungen überprüfen dürfen, bleiben diese vielerorts unter den gesetzlichen Mindeststandards. Verschiedene Straflager sind Teil des Haftsystems.

Von einer Massenamnestie war die Rede, als die russische Duma im Dezember vergangenen Jahres, zeitlich abgestimmt mit den Olympischen Winterspielen in Sotschi, ein Gesetz beschloss, das einigen tausend Gefangenen die Freiheit versprach. Wer abseits von prominenten Fällen wie den Aktivistinnen von Pussy Riot und den 30 Greenpeace-Aktivisten tatsächlich entlassen wurde, ist unklar. Beobachter gingen davon aus, dass höchstens 2 000 Menschen nach der Verabschiedung des Gesetzes freigelassen wurden. Angesichts von 800 000 in verschiedenen Strafanstalten Inhaftierten in Russland kann von einer »Massenamnestie« daher kaum die Rede sein. Gegen wen in Russland ein Gerichtsverfahren angestrengt wird, der kann sich einer Strafe so gut wie sicher sein: Nur in etwa einem Prozent der Fälle werden Angeklagte freigesprochen.
Auch der im August vergangenen Jahres im nord­russischen Murmansk verhaftete Punk und Anarchist Aleksej Raschodtschikow (Jungle World 37/2013) wurde am 11. Februar wegen eines vermeintlichen Angriffes auf einen Polizeibeamten zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nachdem das Landgericht Murmansk die Entscheidung des Bezirksgerichtes in einem Berufungsverfahren Anfang April bestätigt hatte, wartet Raschodtschikow, für den sich mittlerweile eine Solidaritätskampagne einsetzt, nun darauf, aus der Untersuchungshaft in eine Strafkolonie überführt zu werden.
Er hatte mit diesem Urteil gerechnet. In einem offenen Brief betonte er kürzlich, er sei nicht bereit, mit einer Lüge für seine Freiheit zu zahlen. Sein ehrliches Vorgehen sei die einzige Möglichkeit gewesen, der Allgemeinheit die Niedertracht des Repressionsapparates vor Augen zu führen. Jegliche Illusionen über die Unvoreingenommenheit des Gerichts und die Rechtmäßigkeit der Polizeimethoden hoffe er durch seinen Fall zu zerstören. Er wird nun seine Freilassung auf Bewährung beantragen.
Inhaftierungen in Straflagern sind in Russland gängig. Unterschieden wird zwischen sieben Arten von Straflagern, die sich an die Untersuchungshaft anschließen: Die »Erziehungskolonie« für Jugendliche, die »Erziehungsbesserungsanstalt« für Drogenabhängige, die »Ansiedlungskolonie« für Vergehen aus Fahrlässigkeit sowie »Besserungskolonien« mit drei unterschiedlich strengen Reglements. Allen Formen ist gemein, dass die Häftlinge in Schlafsälen leben, während die Zellen für Einzelhaft vorbehalten sind. Es gibt einen strengen, quasi militärischen Tagesablauf, der von der Arbeit bestimmt ist. In Russland gibt es überdies nach Geschlechtern getrennte Gefängnisse. Diese sind für Verurteilte »mit ausgeprägter Wiederholungsgefahr«, für »besonders schwere Verbrechen« sowie für jene vorgesehen, die »durch besonders aggressives Störverhalten auffallen«.
Raschodtschikow weiß inzwischen, dass er in eine Kolonie in seiner Heimatregion Murmansk kommen wird, viele werden hingegen in sehr weit entfernte Gegenden gebracht. Die Kolonie Zelenoborskii IK-20 hat »normale Bedingungen«, sie ist für zum ersten Mal Inhaftierte vorgesehen. Diese müssen als Näher, Zimmerer, in der holzverarbeitenden Industrie, in einer Vogelanlage oder in einer Schweinemast arbeiten. Anna*, die sich in der Solidaritätsarbeit für Raschodtschikow engagiert, kennt diese Kolonie nur aus Erzählungen: »Es ist wohl nicht so überfüllt dort. Ich denke, die Zustände sind dort vergleichsweise erträglich, wenn auch nicht gut.«

Einblicke in die unterschiedlichen Einrichtungen des Freiheitsentzugs haben die »Kommissionen zur Überwachung von Hafteinrichtungen«, die auf Grundlage einer 2008 verabschiedeten Gesetzesänderung in jeder Region der russischen Föderation operieren können. Die bis zu 40 Mitglieder einer Kommission müssen von einer NGO ernannt werden, die die Wahrung der Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zu ihren Grundsätzen zählt. Auch Raschodtschikow wurde in der Untersuchungshaft immer wieder von Mitgliedern der Kommission im Gebiet Murmansk besucht, die ohne vorige Ankündigung Hafteinrichtungen besichtigen können. Überprüft wird, ob die Unterbringung und Versorgung der Inhaftierten und der Zustand der sanitären Einrichtungen den gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststandards entspricht. In manchen Fällen fungieren die Kommissionsmitglieder als Mediatoren bei Konflikten zwischen der Verwaltung und den Gefangenen.
Wichtig ist vor allem die Beobachtung von Einrichtungen in abgelegenen Regionen. »In manche Einrichtungen kommt man nur mit dem Hubschrauber«, berichtet Irina Paykachewa, die seit Jahren in der Kontrollkommission im Gebiet Murmansk arbeitet. Dort seien die Haftbedingungen im landesweiten Vergleich »eher neutral«. In den zwei Strafkolonien der Region, von denen die eine als »hart«, die andere als »allgemein« bezeichnet wird, sind ungefähr 300 Menschen untergebracht, 50 davon Frauen. Besondere Schwierigkeiten bereite den Gefangenen immer wieder die Enge und im Winter die Kälte. Probleme ergäben sich auch durch die Zusammenlegung von Gefangenen aus verschiedenen Teilen der Russischen Föderation. So würden Gefangene aus Tschetschenien und Inguschetien diskriminiert. Besonders schwierig sei es für sogenannte Unberührbare, Gefangene, die in Haft vergewaltigt wurden und von anderen Gefangen ausgegrenzt werden. Sofern dies von der Verwaltung nicht ohnehin vorgesehen ist, fordern die Kommissionen für diese eine getrennte Unterbringung, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Gesonderte Gefängnisses gibt es, ebenfalls aus Sicherheitsgründen, für ehemalige Polizisten, Richter und andere Staatsbeamte.

Gesetzlich steht Gefangenen zweimal im Monat Besuch für die Dauer von insgesamt vier Stunden zu. Dies werde allerdings sehr willkürlich gehandhabt, so Paykachewa. Wer sich im Sinne der Anstalt verhalte, dürfe häufiger Besuch empfangen und erhalte einen eigenen Raum dafür. Mythen ranken sich um die »schwarzen Zonen«, in denen privilegierte Gefangene eine Art Selbstverwaltung ausüben. Offiziell wurde diese 2010 vom Gesetzgeber abgeschafft, Paykachewa zufolge besteht sie aber fort: »Es hat lediglich eine Umbenennung gegeben, ein Teil der Verantwortung wird definitiv an Gefangene delegiert.« Privilegierte Häftlinge seien beispielsweise verantwortlich für den Brandschutz und kulturelle und sportliche Aktivitäten. Manche hätten auch Schlüssel zu verschiedenen Bereichen der Anstalt.

Schockierend sei, immer wieder auf Einzelzellen zu stoßen, die der Bestrafung dienten, so Paykachewa. Dort erhielten die Gefangenen oft lediglich einen Schlafsack, ein Ess- und ein Trinkgefäß in einem sonst leeren Raum, die Toiletten könnten sie nur auf Bitten aufsuchen. Im Murmansker Untersuchungsgefängnis seien die Angehörigen der Kommission auf eine Gummizelle gestoßen, in der es kein Licht gebe und der Gefangene ständig beobachtet werden könne. »Durch den starken Gummigeruch habe ich dort sofort Kopfschmerzen bekommen«, berichtet Anna, die ebenfalls einer Kontrollkommission angehört. »Es ist unvorstellbar, wie Menschen es darin aushalten können.« Immer wieder richtet sich die Kommission nicht nur an die Öffentlichkeit in der Region, sondern auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wie jüngst bei einem unaufgeklärten Todesfall in Untersuchungshaft. Dass in Murmansk nun der als unerbittlich bekannte Wladimir Popow zum amtierenden Leiter der Strafanstalten der Region ernannt wurde, bereitet nicht nur den Aktivistinnen und Aktivisten Sorgen.

* Name von der Redaktion geändert