Die Schulung der Polizei im Umgang mit psychisch kranken Menschen

Leichte Opfer

Wenn Polizisten auf psychisch Kranke schießen, handelt es sich aus Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft um Notwehr.

Zwischen 2009 und 2013 haben deutsche Polizisten 36 Menschen erschossen. Ungefähr zwei Drittel der Opfer waren psychisch krank, das ergaben Recherchen des RBB-Reporters Norbert Siegmund. In einem Ende Mai ausgestrahlten Beitrag befasst er sich mit zwei Fällen, bei denen offensichtlich verwirrte Männer in Berlin nach Schusswaffengebrauch durch Polizisten ums Leben kamen. Im vorigen Sommer sorgte ein Handy-Video weltweit für Aufsehen. Es zeigt, wie ein nackter, mit einem Messer bewaffneter Mann im Neptunbrunnen am Alexanderplatz von Polizisten umstellt wurde. Nachdem er sich auf einen Polizisten, der in den Brunnen gestiegen war, zubewegt hatte, schoss ihm dieser eine Kugel in die Brust. Manuel F., der unter Schizophrenie litt und nach Angaben der Polizei zum Zeitpunkt des Geschehens unter Einfluss von Cannabis und Amphetaminen stand, verstarb wenig später am Tatort. Im Oktober 2012 feuerten Polizisten zehn Schüsse auf den stark alkoholisierten André C., der, anscheinend traumatisiert vom kurz zurückliegenden Tod seines Vaters und seines Sohnes, mit Machete und Messer fuchtelnd durch den Stadtteil Wedding gelaufen war. Als der am Boden liegende Mann sein Messer nicht abgeben wollte, kamen Pfefferspray und ein Polizeihund zum Einsatz. Nach zwei Wochen im Koma erlag C. seinen Verletzungen. In beiden Fällen entschied die Berliner Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen ohne Gerichtsverhandlung einzustellen, da es sich um Notwehr gehandelt habe.
Der Anwalt Hubert Dreyling, der die Familien beider Opfer vertritt, hat gegen diese Entscheidungen Beschwerde eingelegt. Im Fall von Manuel F. wurde sie bereits abgewiesen und liegt nun dem Bundesverfassungsgericht vor.

Beide Fälle illustrieren ein Problem, das bereits vielen Hilfebedürftigen das Leben gekostet hat: Deutsche Polizisten sind für den Umgang mit psychisch Kranken unzureichend geschult und tragen mit ihrem Verhalten nicht selten zu einer Eskalation von Konfliktsituationen bei, manchmal mit tödlichen Folgen. Im Gespräch mit der Jungle World beschreibt Biblap Basu, Mitbegründer der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), ein Muster: »Psychisch Erkrankte sind für Polizisten fast wie Freiwild. Da sie als gefährlich und unberechenbar gelten, werden die Beamten anscheinend dazu angehalten, mit dem Gebrauch der Schusswaffe nicht lange zu zögern.«
Experten wie der Jurist und Kriminologe Thomas Feltes bestätigen im RBB-Beitrag, dass beim Einsatz im Wedding »so ziemlich alles falsch gemacht worden ist, was man falsch machen kann«. Auch das Vorgehen am Neptunbrunnen sei äußerst problematisch gewesen. Mit Blick auf diese und andere Fälle wird von vielen Seiten eine Verbesserung der Polizeiausbildung gefordert. Beate Liesofsky, Pressesprecherin des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker, sagt der Jungle World: »Man geht hier oft sehenden Auges in die Katastrophe. Auch in der Ausbildung der Polizei muss die gesellschaftliche Tabuisierung psychischer Erkrankungen gebrochen werden, eine stärkere Sensibilisierung ist unbedingt notwendig.« Hakan Taş, innenpolitischer Sprecher der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, sagt im Gespräch mit der Jungle World, es müsse in eine adäquate Schulung der Beamten investiert werden. »Gerade beim Todesfall am Neptunbrunnen hat sich gezeigt, dass die involvierten Beamten der Situation nicht gewachsen waren. Es wird viel zu schnell zur Waffe gegriffen, anstatt externe Fachleute und Psychologen mit einzubeziehen.«
Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) hat Forderungen nach einer Verbesserung der Ausbildung gegenüber dem RBB bereits als »nicht zielführend« zurückgewiesen. Auch Silvia Brinkhus, Pressesprecherin der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sieht keinen Handlungsbedarf: »Die Polizisten werden geschult bis unter die Stirnkante, irgendwann ist auch mal das Ende der Fahnenstange erreicht. Was sollen die Beamten denn noch alles lernen? Ob das dann hilft, jetzt auch noch eine besondere Ausbildung im Bezug auf psychisch Kranke ins Ausbildungsprogramm aufzunehmen, halte ich für fraglich«, sagt sie der Jungle World. Die Vorwürfe, die Beamten am Neptunbrunnen und im Wedding hätten unverhältnismäßig reagiert, hält sie für unbegründet: »Es ist natürlich immer sehr einfach, in solchen Fällen von außen zu urteilen. Die beschuldigten Beamten wurden von der Staatsanwaltschaft entlastet. Sie waren schnell wieder im Dienst und genießen wie alle Mitglieder unserer Gewerkschaft, die von der Schusswaffe Gebrauch machen – außer natürlich Amokläufer –, auch unsere juristische Unterstützung.«
Die Behauptung von Staatsanwaltschaft und Polizei, es habe sich in beiden Fällen um Notwehr gehandelt, wird jedoch von Augenzeugen und Experten in Frage gestellt. Taş ist sich sicher: »Am Neptunbrunnen hätte unbedingt auf einen Psychologen gewartet werden müssen. Da der Beamte jedoch selbst entscheidet, in den Brunnen zu steigen, und damit die Bedrohungssituation auslöst, kann nicht von Notwehr die Rede sein.« Auch im Weddinger Fall griffen die Beamten in einer Weise ein, die nicht nahelegt, dass Deeskalation oder Schutz des eigenen Lebens die handlungsleitenden Motive waren, wie man auch auf einem von einem Passanten aufgenommenen Video beobachten kann.

Auch hier lässt sich ein Muster erkennen: In allen bekannten Fällen, in denen psychisch Kranke Opfer von tödlicher Polizeigewalt wurden, haben die Staatsanwälte die Ermittlungen gegen die Todesschützen wegen Notwehr eingestellt, ohne dass es zu einer Gerichtsverhandlung gekommen ist.
Thomas Wüppesahl beschäftigt sich als Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten seit langem mit Übergriffen von Polizeibeamten. Den Beitrag in der »Abendschau« bewertet er kritisch, da er noch zu sehr versuche, Verständnis für den übermäßigen Schusswaffengebrauch unzureichend geschulter und überforderter Polizisten zu schaffen. Hinsichtlich der Notwehrbehauptung erkennt Wüppesahl nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei den ermittelnden Staatsanwaltschaften einen Korpsgeist: »Die Staatsanwälte pflegen einen äußerst kollegialen Ermittlungsstil, wenn es um beschuldigte Polizisten geht. Sie lassen nicht mal zu, dass ermittelt wird, da sie wissen, dass die sozialen Existenzen der Polizisten auf dem Spiel stehen, die verurteilt werden müssten, wenn es zu einer regulären Gerichtsverhandlung kommen würde. Das staatsanwaltschaftliche Vorgehen ist hier von Empathie für die Täter durchtränkt, konterkariert das Neutralitätsgebot und bricht damit geltendes Recht.«

Angesichts der Häufung von Todesfällen weist er auch auf die fatalen Folgen der in den späten neunziger Jahren von der GdP durchgesetzten Umrüstung auf sogenannte Deformationsmunition hin. Diese Munition hat eine größere Wirkung auf Menschen und verstößt nach Ansicht der Kritischen Polizisten gegen die Haager Landkriegsordnung, die »den Gebrauch von Waffen, Geschossen oder ähnlichen Stoffen, die unnötig Leiden verursachen«, verbietet. Wüppesahl ist überzeugt, dass die Zahl von Todesopfern durch Polizeikugeln bei anderer Geschossausstattung niedriger sein könnte: »Wenn ein Beamter aus Versehen woanders hinschießt als geplant, hat das mit der neuen Munition viel öfter letale Wirkung.« Mörderische Geschosse, schlecht ausgebildete Beamte und der mangelnde Reformwille der politisch Verantwortlichen – ein Aufeinandertreffen mit der Polizei in Stresssituationen kann wohl auch in Zukunft schnell lebensbedrohlich werden, insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen.