Auszug aus: »Das seid Ihr Hunde wert!«

Unter Hinzen und Kunzen

Erich Mühsam denkt über deutsche Touristen, Berliner Zimmer, politische Gaukler und die Ehrfurcht vor dem Diesseits nach.

Deutsche im Ausland

Mutter Germania gebar in legitimer Ehe mit dem Geiste der Zeit drei Söhne: den Konfektionsreisenden, den Oberlehrer und den Radfahrer. Da alle drei sich brav entwickelten, da sie ihre Kräfte üppig herausbildeten und sich ihres Wertes wohl bewusst waren, schickte Mama sie auf Reisen, wofür sich die Söhne im Lobe der guten Dame schier überbieten wollten. Leider hatte sich jedoch Mutter Germania auch einmal mit dem Geiste der Ewigkeit eingelassen, und diesem Bunde – Gott, man spricht ja nicht gerne davon – entspross der deutsche Künstler. Um nicht an ihre Schande gemahnt zu werden, hatte Frau Deutschland diesen illegitimen Sohn schon frühzeitig verstoßen – und das Unglück wollte, dass die Stiefbrüder im Auslande einander begegneten.
Hört zu, was der deutsche Künstler mir über die Begegnungen und die Anfechtungen, die sie für ihn im Gefolge hatten, erzählte:
Ich habe so viel vom Vater, begann er, und meine Mutter hat mich von jeher so schlecht behandelt, dass es Sie nicht wundernehmen wird, dass ich ein wenig kosmopolitisch gesinnt bin. Zwar liebe ich sehr die Sprache meiner Mutter, wenn sie auch von meinen Brüdern arg missbraucht wird und in ihrer Gewalt recht verblüht und kümmerlich aussieht – aber sie, die bei zarter Behandlung doch noch immer sehr verlockend, sehr reizvoll, sehr schmiegsam und hingebend ist, ist auch das einzige, was ich noch Liebenswertes aus meinem mütter­lichen Erbteil zu ziehen weiß. Wohl steht meine Sehnsucht noch oft genug nach dem heimischen Erdboden: Immer wieder möchte ich als Dichter die Sprache waschen und putzen, um die Spuren der Vergewaltigungen zu verwischen, die meine Brüder an ihr verübt haben; immer wieder möchte ich als Maler das Heimatland von den Geschmacklosigkeiten säubern, mit denen sie es verunziert haben. Aber der Geruch ihrer Fußsohlen ist so abscheulich, das Gebrüll, mit dem sie im Lobe des Landes das Land entweihen, so viehisch, dass es mich nie lange daheim hält; dass es mich immer wieder hinaustreibt nach Italien oder Frankreich, nach Ländern, wo ich Menschen finde, die mit mir den Vater gemeinsam haben.
Kann ich dafür, dass ich diese Deutschen, für die ich keinen Funken brüderlicher Empfindung mehr verspüre, die mir zuwider sind, wie mir kein Zuluneger zuwider ist, und die mich in den Tod hassen, weil ich den guten Ruf ihrer Mutter kompromittiere – kann ich dafür, dass ich sie auch im Ausland sehen muss, dass sie mich auch hierher verfolgen, wo sie mich um­so mehr ekeln, als sie hier mit ihrer schmierigen Patzigkeit im Bewusstsein ihres Wertes ganz besonders plump auftreten und zu Vergleichen mit den Leuten herausfordern, die der polygame Geist der Zeit mit anderen Nationalitäten gezeugt hat? Und doch kann das mütterliche Blut in mir noch nicht ganz abgestorben, nicht ganz erkaltet sein; sonst könnte ich mir das heiße Schamgefühl nicht erklären, das mich bei allen ihren Handlungen und Äußerungen schüttelt, und das doch wohl nur auf einer innerst empfundenen Solidarität mit diesen nach Wunsch gearteten Kindern meiner Mutter beruhen kann, um derentwillen sie mich verstoßen hat.
Siehe da, der Konfektionsreisende! Wie er seine Ware preiste. Wie meine geliebte, von ihm schmählich genotzüchtigte Sprache herhalten muss zum Preise seiner Wohlanständigkeit, die ihn ernährt. Er hausiert mit Lodenjoppen und Kunsturteilen. Und praktisch ist er – ich sage Ihnen! Stets trägt er sein Notizbuch in der Hand, in dem er jeden Pfennig bucht, den er ausgibt.
Nicht etwa, dass er wenig ausgäbe – oh, er sorgt aufs Üppigste für seine Verdauung. Er schmatzt seine Poularde mit so feistem Behagen herunter, dass jeder schon von ferne den deutschen Konfektionsreisenden in ihm erkennt. Aber er achtet wohl darauf, dass sein persönlichstes Recht an seinem Geld ihm nicht geschmälert werde.
Der Konfektionsreisende begegnete mir in vielerlei Gestalt – aber wenn ich ihn bat, mir zu helfen, dann verleugnete er niemals seine Eigenschaft, dann gab es in allen Fällen Abweisungen. Ich pumpte auch Franzosen, ganz fremde, an: niemals erfuhr ich von ihnen einen Refus. Ja, der Konfektionsreisende ist mein praktischer Stiefbruder. Er trägt seinen Reiseplan wohlgesichtet in der Tasche. Er weiß, was er laut Baedeker anzuschauen hat, und welcher Zug ihn in 6 Wochen daheim wieder abliefert. Er versäumt keine Kirche und kein Denkmal, das bei Baedeker einen Stern hat, am allerwenigsten aber die Abfahrt eines Eisenbahnzugs. Wenn er – meist in Gestalt eines jungvermählten Paares oder einer deutschen Ferienfamilie – eine Sehenswürdigkeit besucht, so lässt er sich von einem Führer leiten, hört aufmerksam zu, was der Mann sagt, bleibt vor jedem Gemälde eine halbe Minute stehen, geht im Tempo ­des Redeflusses des Cicerone von Kunstwerk zu Kunstwerk und verlässt nach Abladung des Trinkgeldes die Stätte der Kunst, ohne einen Blick zurückzuwerfen, froh, der Besuchspflicht entledigt zu sein. Aber sein Warenbestand hat sich vergrößert, er kann eine Partie Kenntnisse mehr feilhalten, und wenn er wieder bei Seinesgleichen ist, dann kann er mitreden: Ja, da bin ich auch gewesen! – und kann die tiefsinnigsten Urteile über die Kunstwerke, die er gesehen hat, mit großen Gebärden ins Schaufenster stellen.
Ich komme zum Stiefbruder Oberlehrer. Er erfreut sich im Auslande unter den Brüdern der weitesten Bekanntheit. Nur schade, dass man überall über ihn lacht. Seine Seele ist nämlich bucklig – darum ist er so komisch. Den Buckel, den seine Seele hat, nennt er Logik und Exaktheit. Der deutsche Oberlehrer ist gründlich und gebildet. Wissen Sie, ich will meiner Mutter Germania ja nicht zu nahe treten, aber manchmal hab ich sie im Verdacht, dass sie doch auch Beziehungen zum Geiste der Vorzeit unterhalten haben muss; sonst wüsste ich kaum, wie ich mir den deutschen Oberlehrer erklären soll. Ich halte ihn für den gefährlichsten der drei Brüder. Der Konfektionsreisende und der Radfahrer stinken nur; der Oberlehrer aber fleckt. Er steckt seine Nase inbrünstig in jeden vergessenen Stumpfsinn und wischt sie dann mit lautem Schnäuzen an unseren besten Kulturen ab. Er muss alles wissen, und wer alles wissen muss, der weiß alles besser. Wenn Sie im Auslande bewundernd vor einem herrlichen Tempel stehen und das Unglück will es, so kommt der deutsche Oberlehrer und setzt ­Ihnen in dreistündigem Vortrag auseinander, warum der linke Quaderstein am dritten Portal rechts im falschen Winkel behauen ist, und wieso es kommt, dass dieser Tempel gerade hier und nicht sieben Meter weiter östlich erbaut ist. Der Oberlehrer verleidet einem jeden Kunst-, jeden Naturgenuss, weil er alles glaubt, erklären zu müssen. Und er glaubt, alles erklären zu müssen, weil er verzweifelt, wenn er niemand erziehen kann. Er erzieht zu Kenntnissen, zu korrektem Betragen, zur Benutzung der Sinnesorgane, zur Tugend – oder auch zur Freiheitlichkeit, je nachdem, was er gerade für eine Spezies protegiert. Wie er seine Frau zur Korrektheit erzog, habe ich auch einmal in Florenz an einem der heißesten Tage, die mir in Erinnerung sind, belauscht. Die Dame bestellte in einem Café eine Eisschokolade. Ihr Gatte aber, der ein deutscher Universitätsprofessor, etwa aus Halle an der Saale, gewesen sein muss, belehrte sie: »Das wirst du nicht trinken! Du siehst doch, kein Mensch trinkt Eisschokolade. Das kann man wohl in Rom oder Neapel tun, aber in Florenz doch nicht mehr!« Als ich darauf vernehmlichen Tones Eisschokolade verlangte, warf er mir einen vernichtenden Blick zu. Er ist – diese Eigenschaft teilt er mit den beiden anderen Stiefbrüdern – stets mit sich zufrieden. Für alles Weltgeschehen hat er hinreichende Erklärungen, so dass ihm die Mirakel der Kunst und der Natur nichts anhaben können. Nur über sich selbst ist er ganz unorientiert. Er hat keine Ahnung, wie ekelhaft er ist, wenn er jedes Kunstwerk auf die Farbensubstanz studiert, mit der es gemalt ist, ohne irgendwelchen seelischen Nutzen daraus zu ziehen; er sieht nicht, welchen schönheitzerreißenden Eindruck seine Klumpfüße in die herrlichsten Gegenden treten; ihm kommt kein Gefühl dafür auf, wie grotesk sich seine Erscheinung im Vergleich zu den prächtigen Südeu­ropäern ausnimmt, die es verstehen, mit Genuss zu atmen. Dem Konfektionsreisenden kann man hier und da doch mal aus dem Wege gehen, – der Oberlehrer tritt einem überall auf die Zehen. Daher ist er der gefährlichste Sohn des Zeitgeistes.
Der Radfahrer ist der widerwärtigste. Er schwingt die schwarz-weiß-roten Dessous der Mutter Germania mit jubelnder Grazienverlassenheit durch die Lande. Er heult sein »Deutschland, Deutschland über alles« durch jeden stillen poetischen Bergwald, von jedem Kirchturm und von jeder Felsspitze. Das Öldruckbild seines Landesvaters tröstet ihn über alle Qualen der Langweile, die er beim pflichtgemäßen Besuch der Kunstgalerien erdulden musste. Er fragt nicht: Ist die Tour schön? Sondern: Ist da eine gute Fahrstraße? Findet er die Tour trotzdem schön, so rechnet er das sich als Verdienst an: »Ha!« ruft er aus. »Das nenn ich noch ’ne Gegend!«, und lacht dazu aus vollem und belegtem Halse. Und da er gerade beim Lachen ist, erzählt er Anekdoten aus den Fliegenden Blättern, gibt Mikosch-Witze zum Besten oder zitiert gar Roda Roda. Die Kunst dünkt ihn eine ziemlich nutzlose Beschäftigung für Müßiggänger – sofern er selbst nicht gerade eine Kunst betreibt.
Denn sehen Sie, meine Stiefbrüder, der Konfektionsreisende sowohl wie der Oberlehrer und der Radfahrer gebrauchen alle möglichen Vorwände für ihre Existenz. Sie finden alle erdenklichen Verkleidungen und Bemäntelungen, in denen sie einen belästigen. Oft vertauschen sie auch ihre Gewänder. Dann kommt der Konfektionsreisende als Oberlehrer oder der Radfahrer als Konfektionsreisender oder der Oberlehrer als Radfahrer. Oder sie reisen als Studenten, als Rentiers, als Offiziere, als Schauspieler – aber nach den Kennzeichen, die ich Ihnen angedeutet habe, werden Sie sie leicht zu klassifizieren wissen.
Höchst bedenklich ist es nur, dass sie sehr häufig auch mit der Gebärde des Künstlers auftreten. Wie oft stößt man auf einen Maler, der sich durch seine Finanzgebarung plötzlich als Konfektionsreisender verrät. Oder man trifft einen Musiker, der gelegentlich die Gepflogenheit italienischer armer Leute rügt, die Zigarrenstummel von der Straße aufzusammeln: Er erweist sich als Oberlehrer. Oder es kommt einem Dichter bei, eine nichtsahnende Gesellschaft mit einem Kaiserhoch zu überfallen, was ihn sogleich als Radfahrer entlarvt.
Können Sie sich nun vorstellen, was ich, der Künstler, durch meine Stiefbrüder für Qualen erdulden muss? Im Auslande fortwährend unfreiwillig an den Spruch erinnert zu werden: Gedenke, dass du ein Deutscher bist! – das ist das tückischste aller Verhängnisse. Tapsig, flegelhaft, verbohrt, hinterhältig, geizig, unverschämt, kulturlos – das sind so die hervorstechendsten Eigenschaften derer, die man als seine Brüder betrachten soll. Das einzige nationale Gefühl, das ich mir im Auslande gewahrt habe, ist das nationale Schamgefühl. – – – So urteilte der illegitime Sohn der Mutter Germania über die Deutschen im Ausland.

»Möblierter Herr«

Mein Domizil in der Augsburger Straße war ein sogenanntes Berliner Zimmer, sehr geräumig, mit einem zweischläfrigen Bett, einem breiten Sofa und einem etwas gebrechlichen Schreibtisch in der einzigen Ecke, in die das Fenster Licht einließ. Die hübsche, rundliche Wirtin, kleinen Zärtlichkeiten sehr zugänglich – der Mann war Reisender und viel abwesend –, war das Ideal einer toleranten Vermieterin. Ich durfte Besuch mitbringen, wie es mir gefiel, und es kam vor, dass zugleich drei Freunde, denen der Heimweg vom Café des Westens zu weit war oder die gerade kein festes Quartier hatten, bei mir übernachteten. Peter Hille war, wenn er den letzten Zug nach Schlachtensee nicht mehr erreichte, oft mein Logiergast, auch Scheerbart machte einmal, als ihn die Füße nicht mehr bis nach Hause tragen konnten, von meinem breiten Bett Gebrauch und wollte sich totlachen, als morgens die Wirtin mit der größten Selbstverständlichkeit hereinkam und zwei Portionen Kaffee auf den Tisch stellte. Kam ein Gast von auswärts ins Café, der noch keine Bleibe hatte, wurde er mir einfach mitgegeben, und ich habe manchmal wildfremde Leute bei mir beherbergt, deren Namen ich bei der Vorstellung nicht verstanden hatte und nie erfuhr. Einmal kostete es große Mühe, einem Zahntechniker, dem Freunde irgendeines meiner Bekannten, zwei Goldstücke zu retten, die er auf den Tisch gelegt hatte. Ich lag noch im Bett, er auf dem Sofa, als der Gerichtsvollzieher erschien, um von mir Geld zu holen. Er wollte sich durchaus des Vermögens meines Gastes bemächtigen, der angstvolle Minuten durchlebte, bis der Beamte sich entschloss, es beim üblichen Vermerk bewenden zu lassen, dass die Pfändung bei mir fruchtlos gewesen sei.
Auch tagsüber ging es mitunter lebhaft im Dämmerlicht meines Zimmers zu. Meine gute Wirtin wunderte sich über gar nichts. Sie gewöhnte sich daran, dass langstündige Konferenzen bei mir stattfanden, deren politischen Charakter sie den verarbeiteten Gesichtern und Händen der Teilnehmer und gelegentlich aufgefangenen Worten entnehmen konnte. Sie ließ lustige Künstlergesellschaften herein, ohne sich je über den dann folgenden Radau zu beschweren. Sie erlebte mit ungeheurem Stimmaufwand dargebrachte Rezitationen zur Unsterblichkeit strebender Autoren und gellende Aufschreie junger Schauspielerinnen, die mich und einen zur Talentmusterung einge­ladenen Bühnenkünstler durch Vorsprechen klassischer Rollen von ihrer Berufung zur He­roine zu überzeugen suchten. Sie öffnete die Tür mit diskreter Freundlichkeit Besuchern und Besucherinnen und fragte nicht, ob Kunst-, ob andere Interessen sie zu mir führten. Selbst als ich in jenem Zimmer meine erste polizeiliche Haussuchung über mich ergehen lassen musste, konnte ich sie als Zeugin herbeirufen und hörte nachher keine Frage nach dem Warum und kein Wort des Missvergnügens. Wirtinnen dieses Schlages, deren ich im Laufe der fünfzehn Jahre meines Lebenswandels als »möblierter Herr« mehrere kennengelernt habe, aber wahrhaftig nicht viele, bin ich viel Dank schuldig.

Politisches Varieté

Politik ist die Kunst, Staatsgeschäfte zu besorgen. Kunst nicht im Sinne der werteschaffenden Kultur, sondern im Sinne der Artistik: denn in der Politik handelt es sich um Jonglieren, Balancieren, Seiltanzen, Sprünge machen. Politik also ist das Kunststück, Staatsgeschäfte zu besorgen. Die Berufsartisten dieser Spezies der Leichtathletik nennt man Diplomaten. Ihre Fertigkeit ist Begriffsverrenkung, Rechtsverdrehung, Verschwindenlassen offenkundiger Tatsachen und Herbeizaubern von Irrealitäten. Wer es im Durcheinanderwerfen scheinlogischer Seifenblasen zu besonderer Geschicklichkeit gebracht hat, wird von den Staatsbürgern als Staatsmann hoch gepriesen und erhält von seiner Direktion edelsteingeschmückte Orden. Die Stars der Diplomatie scheinen seit geraumer Zeit ausgestorben zu sein. Die das Handwerk heutzutage betreiben, beweisen in ihren Vorführungen so viel Ungeschick, dass das zahlende Publikum ihnen nachgerade auf die Schliche kommt. Man fängt an, die Hexerei zu bezweifeln, da den Hexenmeistern die Geschwindigkeit abhanden gekommen ist. Dilettanten drängen sich an den Zauberkasten, den Zuschauern gefällt die Gaukelei nicht mehr, sie wollen mitspielen und zeigen, wie man die Sache besser machen kann. Der geheimnisvolle Staatskarren hat die Gardinen zu weit zurückgeschoben. Die Zauberutensilien sind erkannt worden. Hinz und Kunz wollen selber zu jonglieren versuchen. Man musste den Wagen rot lackieren und aufs Firmenschild »Demokratie« malen.
Hinz und Kunz haben ihren Willen erreicht. Die Staatskunst ist auf die Döfer gegangen. Die Märkte und Flecken wählen ihre Faxenmacher selbst und sehen befriedigt zu, wie die Auserwählten ihre teuren Porzellanteller auf der Nase balancieren, fallen lassen und entzwei schmeißen. Hinter der Bühne ist man bemüht, die Scherben zu kitten, damit das Varieté weiterspielen kann. Ein wenig Kritik hat das pro tempore zahlende Publikum allmählich gelernt. Darauf ist es aber noch nicht gekommen, dass die Teller und Glaskugeln, mit denen im politischen Bumstheater gearbeitet wird, seine Rechte und Interessen sind, dass der Gaul, auf dem die Diplomatie Hohe Schule reitet, sein Buckel, und das Seil, auf dem Politik getanzt wird, sein Lebensnerv ist. Es schaut gemächlich zu, wie die Staatsartisten der verschiedenen Länder um seine Knochen würfeln, und findet gar nichts dabei, dass zur Austragung ihrer Katzbalgereien sein Blut gezapft wird. Der politische Hokuspokus ist ein verdammt gefährliches Handwerk, nicht für die, die es treiben, sondern für die, mit denen es getrieben wird: Und das Objekt der Politik sind die Völker, sind die Nationen im Rahmen der von den Diplomaten gezogenen Landesgrenzen. Alle politische Aktion gilt der Übertölpelung, Überschreiung, Übervorteilung des nationalen Konkurrenz-Varietés.
Treten Sie ein, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen der zweiundvierzig Jahre alte Wundervogel Deutschland! Das Fabelhafteste in seiner Art! Reicht mit ausgespannten Fittichen von der Maas bis an die Memel, und vom Kopf zu den Krallen von der Etsch bis an den Belt! Noch nicht dagewesen! Schlägt jede Konkurrenz! Balanciert in einer Klaue das stärkste aller stehenden Heere, mit Reservisten und Landwehr vier Mil­lionen Mann! Dazu eine Riesen-Schlachtflotte: Panzer, Kreuzer, Torpedos und alles Zubehör! Kolossal! – In der andern Ihre Steuern, meine Verehrten! Ihre Abgaben an Nahrungs- und Genussmitteln, an Beleuchtung, Heizung, Kleidung, Vergnügen und einen kolossalen Bruchteil aller Ihrer Einnahmen! Schwingt gleichzeitig im Schnabel eine noch nie gesehene enorme neue Wehrvorlage nebst eben erfundener Steuerdeckung! Kommen Sie näher, meine Herrschaften! Einzig dastehend! Kinder und Militär ohne Charge zahlen die Hälfte!
Und nebenan:
Kikeriki! Entrez ’sieurs-dames! Hier ist zu sehen der berühmte, konkurrenzlose, wunderbare gallische Hahn! Der, wo die Franzosen das Fliegen gelehrt hat! Er verfügt über die stärkste Luftflotte der Welt! Er beherrscht die ruhmreiche, unbesiegbare gewaltige grrrrande armée! Er wird fliegen vor Ihren Augen à Berlin! Er wird anführen la grrrande Nation und wird zerstören von oben herunter mit Bomben und Granaten die Konkurrenz prussienne! Vive la Republique française! Entrez ’sieurs-dames! Kikeriki!
Das pro tempore Publikum östlich und westlich der Vogesen sperrt Mäuler und Ohren auf, schreit bravo! und zahlt. Zahlt, dass ihm das Blut aus den Poren schwitzt, zahlt, dass es über dem Geldklimpern nicht hört, wie sich hinter den Kulissen der politischen Varietés östlich und westlich der Vogesen die Artisten untereinander prügeln. In jeder Bude haben sich Parteien gebildet. Die wissen schon kaum mehr, dass sie das Dach des Nachbarn in Brand stecken wollen, die möchten nur noch, jeder dem anderen, die Kosten aufladen.
Und die Harlekine und Clowns, die Akrobaten und Salonhumoristen überbrüllen einander und schreien ins Publikum hinein: Wählt! Ich bin der wahre Jakob! Wer mich wählt, soll gar nichts zahlen! Ich will nicht dich besteuern, lieber Wähler, sondern deinen Freund, deinen Nächsten, deinen Gutsherrn, deinen Taglöhner, deine Waschfrau, deinen Gastwirt, aber beileibe nicht dich! Und der Wähler hört’s, ist ergriffen von der Weisheit seines Kandidaten und macht von seinem Recht Gebrauch – östlich der Vogesen und westlich.
Möchtet ihr nicht die politischen Gauklerbuden abbrechen, liebe Mitmenschen? Möchtet ihr nicht einsehen, dass euer Land da ist, wo ihr lebt und gedeiht, und nicht da, wo Bismarck Grenzlatten gebaut hat? Möchtet ihr nicht versuchen, für den Ertrag eurer Arbeit zu leben, statt damit Armeen zu füttern? Möchtet ihr nicht Verständigung anstreben zwischen euch und friedliche Gemeinschaft, statt für Kampf und Krieg Marktschreier zu dingen? Möchtet ihr nicht, liebe Mitmenschen, westlich und östlich der Vogesen, diesseits und jenseits der Meere, euch gegenseitig anschauen und euch fragen, ob ihr dazu Menschen seid, um allezeit als Statisten in einem Affentheater zu wirken? Möchtet ihr nicht, jeder bei sich selbst, einmal Umschau halten, ob denn im eigenen Lande alles im Rechten ist, statt euch gegenseitig anzufletschen und Böses zu tun? Weit, weit im asiatischen Osten haben sich, fast unbemerkt im Getöse des politischen Varieté-Krakeels, seltsame Wandlungen vollzogen. Über Nacht, möchte man sagen, hat die mächtige Mandschu-Dynastie aufgehört zu sein. Ein Riesenvolk hat Ordnung geschafft im eigenen Lande. Die Aufteilung Chinas, die unsere Lehrer uns mit prophetischem Blick vorausgesagt haben, vollzieht sich: nur anders, als unsere Lehrer sie sich vorstellten. China wird aufgeteilt unter den Chinesen. – Aber das ist weit, weit von hier, im asiatischen Osten. Wir werden ins Kino-Varieté gehen und uns den Film aufrollen lassen.

Brevier für Menschen

Tapferkeit

Nicht wer sich gezwungen in Gefahr begibt, ist tapfer, noch wer aus Übermut der Gefahr entgegenläuft, sondern nur, wer um seiner Erkenntnis willen auf sich nimmt, was die Pflicht des Gewissens fordert. Darum schweige das Lob gefahrvoller Taten, und es erhebe sich der Ruhm der aufrechten Gesinnung.
Die Tapferkeit des unbedingten Bekennens bedarf keiner Gefahren, so wenig sie sich von ihnen schrecken lässt. Wer aber Gefahren sucht der Ehren der Welt halber, ist tapfer aus Eitelkeit – das heißt, er ist scheintapfer; er spielt den Furchtlosen, weil er das Urteil der Mitwelt fürchtet. Der wahrhaft Tapfere fürchtet kein Urteil, es sei denn das des eigenen Gewissens.
Tapferkeit ist rücksichtsloses Rechttun, ist bedenkenlose Unterwerfung unter den Befehl der selbst erkannten Moral. Wer fremder Moral gehorcht, wer Befehlen folgt, die das eigene Bewusstsein von Gut und Böse verwirft, der ist nicht tapfer, mögen seine Werke immer denen gleichen, die die Welt als heldische Taten preist. Ohne den Antrieb des eigenen Herzens kämpfen, um nur Vorwürfe zu vermeiden und Strafen zu entgehen, heißt aus Feigheit tapfer sein, heißt Mutlosigkeit mit Mut umpanzern.
Der Todesmut, der alles wagt für die kleine Aussicht, das Leben zu retten, hat mit Tapferkeit nichts zu schaffen. Nicht um Lebens oder Sterbens willen ziemt es sich tapfer zu sein, sondern um des Geistes und der Menschheit willen.
Wenn einmal die Zeit gekommen sein wird – und sie muss kommen, sie steigt schon herauf, und die Welt ist schwanger mit ihr –, die Zeit, da der Kampf der Menschen um geistige Werte gehen und der Geist ihm die Waffen geben wird, dann erst kann die Tapferkeit zu ihrer wahren Geltung gelangen. Denn dann wird offenbar werden, dass der kämpfende Mensch nur tapfer ist, wenn die Sache, für die er kämpft, zugleich seine eigene Sache ist und die der Menschheit.

Selbstverantwortung

Zeitliche Ereignisse von umwälzender Kraft verlangen vom Einzelnen die strengste Reinigung des inneren Wesens. Denn sie bewirken das Sichtbarwerden zahlreicher persönlicher Eigenschaften, die den Mitmenschen, und oft einem selbst, bisher verborgen waren. Solche Erschütterungen zwingen jeden, seinen Platz aufzusuchen, wo er allein stehen mag oder mit wenigen oder angelehnt an die dichte Masse. Zu finden ist jeder unausweichlich, sorge er, dass er bei der großen Seelenschau der Menschheit in Ehren bestehe.
Die Verführung, Halt zu suchen bei den Zufriedenen, die sich leiten lassen, auf eigenes Urteil verzichten und Verantwortung scheuen, ist groß, weil der Wille, der die Ereignisse treibt, stark ist, weil seine Stimme die des Zweifels und der Abwehr übertönt, weil der Rhythmus des Geschehens werbende Kraft hat und schwache Gemüter zwingt, mitzugehen mit den führenden Mächten.
Aber es ist schwer, den Schritt zu hemmen, der einmal in Marsch ist, jeden Augenblick das klare Bewusstsein zu behalten, dass alles Geschehen flüssig ist und erst, wenn es vorüber ist, als unabänderlicher Vorgang der Weltgeschichte der Prüfung der Nachfahren unterliegt. Vor dieser Prüfung mit seinem Verhalten zu bestehen, darauf kommt es für jeden Einzelnen an.
Es ist nicht wahr, dass der Mensch nur ein Rädchen sei in der Maschine, die einmal im Gange ist, nicht fähig und nicht berufen, ih­ren Lauf zu beeinflussen. Die Geschichte ist das Produkt menschlicher Willenskräfte. Niemand hat seinen Willen auszuschalten, jeder hat ihn anzustrengen nach der Richtung, die sein Gewissen anweist. Wer nur dies Bewusstsein hat, ist – sei es als Helfer, sei es als Eigenkraft – wirkender Faktor der Geschichte. Das gilt zu allen Zeiten, es gilt in erhöhtem Maße in Epochen katastrophaler Ereignisse. Diese Epochen scheiden die Geister. Einmal werden sie erkannt werden, diejenigen, die sich klein machten und zu verkriechen suchten im Gewirr der Massen, um ja nicht aufzufallen, ja, sich nicht missliebig zu machen; diejenigen, die alle überschrien, nur sie seien die wahren Begreifer der Zeit, was sie früher gesagt und getan hätten, gelte nicht mehr, jetzt erst sähen sie den rechten Weg und wollten ihn vorangehen – und diejenigen, die das furchtbare Gewicht der Verantwortung empfanden, das die Zeit auf alle Schultern legte, und die Tun und Lassen abwogen unter dem einzigen Trachten, lauter befunden zu werden vor dem Gericht der Nachwelt.
Die Pflichten des Einzelnen bei umwälzenden Geschehnissen sind nicht auf Paragraphenschienen gezogen. Vorschriften zum Denken und Handeln liegen in keinen Schubfächern aufgesammelt. Nichts, was noch im Flusse ist, lässt sich mit einem Schema, einem Prinzip ins Gleiche stellen. Aber jede Tat, jeder Entschluss, jede neue Wendung im großen Geschehen stellt an die Selbstverantwortung der Persönlichkeit den ungeheueren Anspruch, ohne Nützlichkeiten zu besinnen und ohne auf ausgegebene Parolen zu horchen, das eigene Gewissen prüfend zu befragen, ob es vor Mit- und Nachwelt an all diesem teilhaben, ob es all dieses hinnehmen und rechtfertigen will.
Seine Antwort aber sei: Ja! Ja! oder Nein! Nein! Und was darüber ist, das ist vom Übel.

Vom Tode

Was wir Ehrfurcht vor dem Tode nennen, die Mischung von Schauder, Beklemmung, Wehmut und Jenseitsgefühl, die wir beim Hinsterben eines Mitmenschen empfinden, sollte uns deutlich bewusst sein als Ehrfurcht vor dem Leben.
Die Trauer um einen Toten ist die Bejahung seines Lebens, ist das Bekenntnis zum Diesseits als allein Erlebniswertem. Die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode ruht immer nur auf Glauben oder Spekulation. Keinem, der in der Überzeugung von Seelenwanderung, Wiedergeburt, Fortwirkung irgendwelcher Art Trost und Sicherheit findet, soll Skepsis oder gar Spott begegnen. Aber alle, die zu innerer Klarheit über ihren Verbleib nach dem Abscheiden gelangt sind – das gilt auch für die Gläubigen mit dem Kindertraum von Himmel und Paradies –, sollten sich erinnern, dass diese Klarheit ihr Glaube und daher ihr Eigentum ist, nur für sie gültig und als sichere Wahrheit nur von ihnen beansprucht und also nur auf sie selbst anwendbar.
Kriegszeiten, Epochen, in denen der Tod über alle Vorstellung Opfer empfängt, verführen viele zu leichtfertiger Einschätzung des Lebens. Sie beruhigen ihre Bedenken und ihr Grauen mit der Erinnerung an die eigene Zuversicht auf ein Weiterleben nach dem Tode. Sie begehen schweres Unrecht an denen, die ihrer Weisheit nicht glauben, die für sich zu keiner Lösung des düsteren Rätsels kommen konnten, die des natürlichen Ablaufs ihres Lebens bedurft hätten, um überlegen und ausgesöhnt die überstandene Welt mit einer neu beginnenden vertauschen zu mögen. Ja, der Trost der eigenen Seele wird Grausamkeit gegen die fremde, weil er das Mitgefühl am fremden Leid verdrängt und den Sterbenden eines Teils der Trauer beraubt, auf die er um seines Todes willen Anspruch hat.
Natürlich ist von keinem Menschen zu verlangen, er müsse dem Tode jedes andern Menschen nachtrauern. Das Sterben einer Person beschäftigt niemanden in höherem Maße, als es ihr Leben getan hat. So ist uns der Tod der meisten Menschen völlig gleichgültig. Aber wir sollten uns hüten vor einem summarischen Bedauern, wenn das Los eines gewaltsamen Endes viele zugleich trifft. Es ist eine Frivolität, zu klagen: Schrecklich! In der oder jener Schlacht sind wieder zehntausend Mann gefallen … , und dabei die Zahl der Leichen statt die Summe der zerstörten Schicksale zu meinen. Einmal Zehntausend ist leicht zu denken; der Phantasie wird dabei keine Aufgabe gestellt. Zehntausend mal eins aber ist ein Gedanke von furchtbarem Gewicht, denn er enthält die Vorstellung von zehntausend Einzelerlebnissen mit aller Qual jedes Betroffenen, mit allen Tränen und Klagen, die jedem der Zehntausend nachweinen – nicht der zehntausend Mann, sondern der zehntausend Männer. Hat uns das Leben dieser Menschen bekümmert und bewegt, so haben sie ein Anrecht darauf, mit allen Empfindungen, die das Ereignis des Todes erweckt, betrauert zu werden. Der Tod kann nicht korporativ erfasst werden. Daher kann keine Trauer aufrichtig sein, die ihren Schmerz an der Zahl weidet.
Je größer unsere Achtung vor dem Leben ist, je stärker unser eigener Lebenswille uns zwingt, den fremden Lebenswillen anzuerkennen, umso ehrfürchtiger werden wir das Phänomen des Todes begreifen: als Mahnung des irdischen Lebens, bis zu seiner Grenze lebendigen Geistes zu sein und die Aufgaben des Lebens zu erfüllen. Welche Aufgaben jenseits der Grenze gestellt sind, ist das Geheimnis, das der Tod dem Leben verborgen hält. Wer da glaubt, das Geheimnis des Jenseits enträtselt zu haben, der stört mit seinem Glauben vom Tode nicht das Diesseits, dessen Recht das Leben ist.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Erich Mühsam: Das seid Ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Herausgegeben von Manja Präkels und Markus Liske. Verbrecher-Verlag, Berlin 2014, 352 Seiten, 16 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.

Zum Gedenken an Erich Mühsam, der in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde, findet am 12. Juli in Berlin in der »Zukunft am Ostkreuz«, Laskerstraße 5, ab 16 Uhr das »Erich-Mühsam-Fest« mit zahlreichen Lesungen, Musikveranstaltungen und Vorträgen statt.