Das Buch »Die Gezi-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei«

Das Beste kommt noch

Tayfun Guttstatt sieht in der Gezi-Bewegung den Vorschein einer demokratischen Türkei.

Es ist nicht einfach, die richtigen Worte zu finden, um die Gezi-Bewegung und das, was sie immer noch antreibt, zu beschreiben. Im Türkischen sprechen die, die dabei waren, von der »Seele des Gezi-Parks«, eine Metapher, die im Deutschen eher unpassend wirkt. Tayfun Guttstadt gelingt es in seinem Buch »Çapulcu. Die Gezi-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei«, die Atmosphäre zu evozieren, die zwei Wochen lang in der Türkei ein neues, urbanes Wir-Gefühl entstehen ließ. Das Besondere war, dass bis dahin völlig unpolitische Istanbuler zusammen mit Rechten, Linken, Kurden, Nationalisten, Aleviten, Sunniten, Christen und Juden, LBGTTİ-Personen und vielen anderen demonstrierten. Der Gezi-Park ist bis heute eine beliebtes Stückchen Grün, das, anders als der 1977 mit scharfen Geschossen von Demonstranten geleerte Taksim-Platz direkt daneben, ein Symbol für das Streben nach Freiheit ist. Die im Buch veröffentlichten Interviews mit ganz verschiedenen Vertretern der Bewegung entstanden im Herbst 2013 kurz nach den Protesten, die Istanbul erschütterten, und nachdem die Polizei die Umweltaktivisten brutal aus dem Gezi-Park vertrieben hatte.
Guttstadt lebt in Antalya, er engagiert sich seit einigen Jahren in der Bewegung gegen den Bau von Wasserkraftwerken und kämpft, wie er sagt, »gegen das Diktat des neoliberalen Marktes zu Lasten von Natur und Mensch«. Der Islam- und Musikwissenschaftler, 1987 in Hamburg als Sohn einer Deutschen und eines Türken aus Konya geboren, analysiert eingehend und systematisch die Entstehungsbedingungen der Proteste. In einer Chronologie werden die Ereignisse aus einer lebendigen Perspektive beschrieben, ohne dass der Autor in einen flapsigen Ton verfällt. Das Buch dramatisiert, verherrlicht oder verklärt die Ereignisse nicht. Der Leser wird in die Geschehnisse hineingezogen, plötzlich steht er selbst auf dem Taksim-Platz und rennt vor den Wasserwerfern davon. Der Autor macht die Architektur und die Atmosphäre in Istanbul so anschaulich, dass man sich vor Ort wähnt. In einer Seitenstraße des Istiklal-Boulevards, der am Taksim-Platz beginnend das Innenstadtviertel Beyoğlu durchzieht, liegt das Muaf, ein Café, das während der Gezi-Proteste als Krankenstation für die Verletzten diente. Esra, die im Buch porträtiert wird, arbeitet im Muaf. Sie erklärt, was die Regierung dazu brachte, sich so sehr in Beyoğlu einzumischen. Das 100 Jahre alte Kino Emek, wo regelmäßig die Istanbuler Filmfestspiele und die Premieren fast aller bedeutenden türkischen Filme stattfanden, musste im Zuge der Gentrifizierung weichen. »Beyoğlu ist in deren Augen das Paradies der Anderen und sie wollen das hier nach ihren Wünschen umstrukturieren«, sagt Esra.
Auf dem Gelände des Gezi-Parks wollte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan eine Kaserne im osmanischen Stil erbauen lassen; in deren Untergeschoss sollte ein Einkaufszentrum entstehen. Es geht der Regierung darum, die Symbole der republikanischen Ära aus dem Stadtbild zu tilgen und ein neoosmanisches Disneyland zu erschaffen, das Kapital abwerfen soll. Der Fotograf und Journalist Fatih Pinar analysiert diese Verbindung von islamisch-konservativer Machtpolitik und Kapitalismus: »Heute arbeitet der Staat direkt mit dem Kapital zusammen, und alles, was es gibt, wird von diesem Organismus verwertet. Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) ist wie der Geist aus der Flasche und erfüllt alle Wünsche des Kapitals.« Zumindest soweit es ihr nützt. Der Unternehmer Erdoğan Demirören etwa durfte auf den Trümmern eines der schönen Altbauten Beyoğlus direkt am Boulevard Istiklal ein hässliches Einkaufszentrum bauen. Dafür musste er aber auch die früher kemalistische Tageszeitung Milliyet kaufen, die seitdem der AKP treu ergeben ist. Die Aufzeichnung eines angeblichen Telefonats zwischen Erdoğan und Demirören, die im Januar im Netz auftauchte, sorgte für Wirbel. Der Ministerpräsident staucht seinen Günstling wegen eines kritischen Artikels zusammen. Der Unternehmer bricht daraufhin in Tränen aus und sagt: »Ich verstehe nichts von Journalismus. Sie wollten doch, dass ich diese Zeitung kaufe.« Diese und andere Anekdoten aus der bunten Welt des islamisch-konservativen Neoliberalismus finden sich in Fülle in dem Buch und werden in ergänzenden Fußnoten erläutert.
Guttstadt stellt seine Gesprächspartner immer in der Situation vor, in der er sie kennengelernt hat. So entsteht ein spannender Dialog, der Leser hat das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen und direkten Zugang zu Beobachtungen und Analysen der Gezi-Bewegung zu bekommen. Der Autor ist im Juni von Antalya nach Istanbul gereist und erlebte am 11. Juni mit, wie die Polizei den Taksim-Platz und den Gezi-Park stürmte. Er stellt seinen Interviewpartnern Fragen und beschreibt die Bewegung, der er selbst angehört.
Im dritten Teil des Buches analysiert Erol Özkoray die Mechanismen des »grünen Faschismus« als Reaktion auf den diktatorischen nationalistischen Stil, der mit der Gründung der Republik etabliert worden war. Die heutige islamisch-konservative Elite hat die Verbote, die die Religion aus Teilen des öffentlichen Raumes verbannt hatte, zu einem großen Teil und mit Zustimmung vieler politisch Andersdenkender aufgehoben und schikaniert nun diejenigen, die versucht hatten, tolerant zu sein. Dabei bleibt die AKP im Grunde systemkonform, sie benutzt die gleichen Instrumentarien wie die Laizisten zuvor.
Deniz aus der LGBT-Bewegung ist ein Kurde aus Antakya. Er bemerkt, dass der Kampf um den Gezi-Park eine neue Dimension bekam, als im Internet publiziert wurde, dass die Marmortreppen des Parks aus den Grabsteinen des armenischen Friedhofs, der sich auf dem Gelände befand, gebaut wurden. Plötzlich wurde offenkundig, dass auch dieses Symbol von Öffentlichkeit und Gemeinschaft auf einem großen Unrecht basiert. Die Gezi-Bewegung in­tegrierte diesen Teil der Geschichte. Zum ersten Mal seit dem Völkermord von 1915 erlebte die armenische Minderheit, dass ihre im Land verdrängte Historie zu einem Gegenstand des gemeinsamen politischen Kampfes wurde.
Michael Hardt analysiert in seinem Beitrag »Der universelle Zyklus des Kampfes« die Gemeinsamkeiten eines politischen Widerstandes, der sich in verschiedenen Ländern der Welt als Kampf um die Städte manifestiert. Zeltlager an zentralen öffentlichen Orten, besetzte Häuser und Volksküchen richten sich gegen die Privatisierung der urbanen Zentren. Ayşe Buğra schildert in ihrem Beitrag »Die Rückehr des Politischen«, wie die Gezi-Bewegung es vermocht hat, alte Feindschaften zu beenden, um für ein gemeinsames Ziel einzustehen. Zumindest für eine gewisse Zeit entstand ein politischer Entwurf, dessen, was die Türkei einmal werden könnte. Wie es weitergehen kann auf dem Weg dahin, wird in diesem ausgezeichneten Buch überall angedeutet; es wird versucht, eine Prognose für die politische Zukunft des Landes zu erstellen.

Tayfun Guttstadt: Çapulcu. Die Gezi-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei. Unrast-Verlag, Münster 2014, 325 Seiten, 18 Euro