Ulrich Scharmer im Gespräch über den Transuniversalen CSD in Frankfurt/Main

»Mehr Event als Demonstration«

In Frankfurt am Main soll es am kommenden Samstag zum ersten Mal einen alternativen »transuniversalen CSD« (Christopher Street Day) geben. Der Journalist Ulrich Scharmer ist in der Münchner Schwulenszene aktiv und war vor 35 Jahren als 23jähriger beim ersten CSD der BRD dabei, dem »Homolulu«, der damals in Frankfurt am Main genau zehn Jahre nach den Riots um das »Stonewall Inn« stattfand. Mit ihm sprach die Jungle World über die Entwicklung und Leerstellen der Paraden.

Heutzutage gibt es weltweit und in großen deutschen Städten jeden Sommer CSD-Paraden. Die großen, kommerziellen Paraden sind inzwischen nahtlos ins Stadtbild integriert, die CSDs meist nicht politisch radikal, sondern wirken wie ein lustiger Karneval. War das damals anders?
Bei »Homolulu« ging es den meisten nicht darum, einen Karnevalszug zu veranstalten, obwohl schon damals viel Haut zu sehen war. Tatsächlich hatte es etwas von einem Zirkus, der durch die Straßen zog. Einige Leute schauten zu, manche von ihren Balkonen aus. Da gab es einige, die sich ganz offensichtlich sehr aufgeregt haben. Wieder andere Zuschauerinnen und Zuschauer hatten ihren Spaß an der bunten Parade. Schwulenfeindlichkeit mit Übergriffen oder so habe ich damals nicht mitbekommen, höchstens ein paar dumme Bemerkungen. Dass es Gewalt gegen uns geben könnte, habe ich nicht befürchtet. Und selbst wenn, hätte mich das nicht davon abgehalten oder auch nur einen Moment lang zögern lassen, zu Homolulu zu fahren. Sicher gab es damals mehr Homonegativität als heute. Gewisse Äußerungen scheinen inzwischen in der Öffentlichkeit weniger akzeptiert zu sein. Vielleicht sind die CSDs aber auch vor allem deshalb so ­akzeptiert und werden unterstützt, weil sie so harmlos sind.
Welche politischen Ziele hatte »Homolulu«?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Parade waren politisch so heterogen wie heute. Das Spektrum reichte von der Forderung, die Heterosexuellen sollen froh sein, wenn wir sie nicht diskriminieren, bis zur Ausgrenzung aller nicht Normalo-Schwulen, also vor allem der Kritik an den Tunten. Nach dem Motto: Kein Wunder, wenn uns die Leute nicht mögen, wenn es so Schrille unter uns gibt. Dann gab es auch wieder Männer im Fummel, die auf der Parade mitliefen und einfach ein wenig Spaß hineintragen wollten. Und es ging wohl auch darum, dem biederen und braven Image, das viele um der Akzeptanz willen pflegten, etwas entgegenzusetzen.
Die verschiedenen Gruppen, die auf der Parade damals unterwegs waren, spiegeln eine Diskussion wider, die es bis heute gibt: Wollen wir sachlich argumentieren? Wollen wir »Anerkennung durch Normalität«? Oder provozieren wir? Verstehen wir queer als Angriff auf die Heteronormativität?
Ja, es gab auch damals die Strömung: Wir müssen möglichst unauffällig sein, dann werden wir am ehesten akzeptiert. An den Diskussionen hat sich eigentlich nichts geändert. Diese Debatte kann man vermutlich jedes Jahr verfolgen, wenn die CSD-Paraden vorbereitet werden.
Linke Gruppen in Frankfurt waren damals berüchtigt und die Zeiten der Straßenkämpfe und Hausbesetzungen der 68er-Bewegung waren noch nicht lange her. Eine Forderung von »Homolulu« war zum Beispiel: »Ich möchte keinen Platz an der Sonne, ich möchte einen anderen Strand.« Welche politischen Gruppen hatten »Homolulu« organisiert? Gibt es Parallelen zur heutigen CSD-Struktur?
In Frankfurt war damals politisch viel mehr los als zum Beispiel in München und »Homolulu« zeigte eine große Schnittmenge von linken Gruppen in Frankfurt, Studentinnen und Studenten und Schwulen. Die Studierendengruppen haben vor allem die Struktur geliefert und der Aktion sicherlich auch ihren Stempel aufgedrückt. Heutzutage haben die CSDs ja längst keine spürbare studentische Basis mehr. Die Organisation haben meist Vereine übernommen, die dabei bisweilen eng mit politischen Parteien und Firmen zusammenarbeiten, die inhaltlich kaum etwas mit LGBTI-Themen am Hut haben. Das spiegelt sich auch in den Paraden wider, die vielerorts dominiert werden von Parteifahnen, lokalen Partyclubs, Reiseveranstaltern und Getränkeproduzenten. Dazwischen tummeln sich ein paar kleine politische oder andere Gruppen, die sich nicht einmal einen Paradewagen leisten können – oder wollen. Die politischen Forderungen zentrieren sich meist um staatliche Anerkennung der Ehe für Schwule und Lesben und um Adoptionsrechte.
Im Zuge von »Homolulu« wurde offenbar ein Vorschlag für eine »Schwulenresolution« gemacht, die die gleichen Rechte von Homo- und Heterosexuellen forderte. Themen waren unter anderem die steuerliche Gleichstellung, finanzielle Unterstützung für Schwulenzentren und Schwulenberatungsstellen, Repräsentanz in den Medien, Bildungspolitik, »Wiedergutmachung« für schwule KZ-Opfer sowie Rehabilitation der Überlebenden und die ersatzlose Streichung des § 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte.
Interessant ist, dass unter den damaligen, eigentlich nicht sonderlich radikalen Forderungen viele sind, die sogar bis heute nicht oder längst nicht vollständig erfüllt wurden und immer noch aktuell sind. Der § 175 zum Beispiel wurde erst 1994 endgültig aus den Gesetzbüchern gestrichen und bis heute gibt es schwulenfeindliche Bestimmungen, etwa beim Blutspenden. Menschen, die nicht heterosexuell beziehungsweise nicht cis-sexuell sind, erleben immer noch Diskriminierung durch ihre Familie, in der Schule, in Sportvereinen, im Arbeitsalltag und in anderen Teilen des gesellschaftlichen Umfeldes.
In Frankfurt soll es dieses Jahr zum ersten Mal einen transuniversalen CSD als Alternative geben. Am 19. Juli, dem Tag der großen Parade, ist ein queerer Stadtspaziergang mit Redebeiträgen geplant, unter anderem zum Thema Verfolgung von Lesben in der NS-Zeit, dem Verschwinden von lesbischen/schwulen Orten und zu queerer Politik allgemein. Workshops und ein Sommerfest mit Livemusik sind in Planung, wo es auch Infotische der teilnehmenden Gruppen geben soll. Das klingt doch, als gäbe es wieder den Wunsch nach mehr politischem Inhalt.
Die CSDs sind seit einigen Jahren mehr Event als Demonstration. Es schien ja auch so, als könnten wir uns zurücklehnen und uns über das Erreichte freuen: einen schwulen Außenminister, der in homophobe Länder reisen konnte und nicht gesteinigt wurde, einen schwulen Regierenden Hauptstadtbürgermeister, eingetragene Lebenspartnerschaften und so weiter. In vielen gar nicht so weit entfernten Teilen der Welt erleben wir allerdings ein bedrohliches Wiedererstarken homofeindlicher Gewalt. Auch bei uns drohen Rückschritte. Ich wünsche mir da schon, dass die CSDs wieder politischer werden. Auf die Dauer reicht es nicht, wenn sich am Montag nach der Parade die Zeitungen mit den schrillsten Fotos überbieten und am Dienstag alles vergessen ist.
Bei vielen CSDs gibt es Gruppen, die explizit die Unsichtbarkeit von Frauen/Lesben thematisieren. Auch in Berlin gab es dieses Jahr am Vorabend des CSD wieder einen »Dyke March«. Ist das ein Thema, das damals schon diskutiert wurde?
Ich finde es sehr wichtig und freue mich immer, wenn beim Münchner CSD die Dykes und andere Frauengruppen mitlaufen und es jährlich mehr werden. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass Lesben und Schwule endlich lockerer miteinander umgehen. Zu Zeiten von »Homolulu« und noch lange danach war das nicht so. Die Lesben haben sich unter anderem deshalb von »Homolulu« distanziert, weil die schwulen Gruppen sich nicht von Pädophilen abgegrenzt hatten. Aber natürlich waren damals auch viele Lesben politisch aktiv. Schwule und Lesben hatten halt wenig Berührungspunkte, vermutlich allein schon weil die gesetzliche Ausgangslage, nämlich die Strafbarkeit homosexueller Handlungen, unterschiedlich war. Sie mussten sich mit ziemlich unterschiedlichen Lebensrealitäten auseinandersetzen. Bisexualität war damals auch für die meisten kein Thema, ganz zu schweigen von Transsexualität. Heute versuchen die CSDs, LGBTI unter einen Hut zu bekommen, was sicherlich nicht immer einfach ist und bisweilen ziemlich gewollt wirkt. Vielleicht macht es manchmal auch wenig Sinn, weil es nicht immer politische Berührungspunkte dieser Gruppen gibt. Oft wird vergessen, dass es eben nicht eine homogene queere Gruppe ist, die auf die Straßen geht, und dass sich natürlich auch hier soziale Unterschiede widerspiegeln, sei es auf der Ebene von Gender, Hautfarbe, ökonomischer Lage oder anderen Ungleichheiten. Ich denke, das sollte in der queeren Szene stärker mitbedacht und auch gemeinsam in die CSD-Paraden getragen werden.