Fania Oz-Salzberger im Gespräch über die Stimmung in Israel und die Chancen für den Frieden

»Hamas hält Millionen von Menschen als Geiseln«

Fania Oz-Salzberger ist Professorin für Geschichte an der Universität in Haifa. Die älteste Tochter des Schriftellers Amos Oz bezeichnet sich als Linke und Peacenik. Mit der Jungle World sprach sie über Krieg, Frieden und die Worte der Juden.

Wie erleben Sie gerade die Stimmung in Israel?
Mit einem Wort: unbeständig. Die Stimmung kann sich sehr schnell ändern. Im Moment ist die generelle Stimmung in den Medien und unter vielen Israelis triumphalistisch, das ist typisch wegen der Anspannung in Zeiten von Krieg und Konflikt. Aber es gibt auch Angst und tiefes Bedauern für das Schicksal unschuldiger Palästinenser in Gaza, welches ich teile. Diese negativen Gefühle werden derzeit aber von der Überzeugung übertönt, dass wir die »richtige« Seite in diesem Konflikt sind, aber das könnte mit den weiteren Entwicklungen jederzeit in eine andere Richtung umschlagen.
Was könnte in Ihren Augen zu einem Stimmungsumschlag führen?
Wahrscheinlich leider ein humanitäres Desaster in Gaza. Damit meine ich nicht die versehentliche Tötung einer Familie, was schlimm genug, aber immer noch im Rahmen der israelischen öffent­lichen Debatte ist. Ich meine so etwas wie das Massaker von Sabra und Shatila im Libanon, das zwar nicht von uns, sondern von unseren christ­lichen Verbündeten begangen wurde, aber das definitiv zu einem Umschwung geführt hat. Oder auch wenn israelische Zivilisten ernsthaft verletzt würden. Das könnte jederzeit passieren, die vergangenen Wochen waren wie ein Wunder diesbezüglich. Die Hamas-Raketen sind zwar primitive Konstruktionen, es gab aber bereits einige knapp verfehlte Einschläge, bei denen viele Leute hätten sterben können, auch in Kindergärten und Schulen. Das würde die Lage ändern, und zum Schlechteren. Aber das ultimative verändernde Ereignis wäre entweder eine Verhandlung über einen Waffenstillstand oder eine Bodeninvasion der israelischen Armee.
Wie wichtig ist für Israelis die internationale Meinung?
Die internationale Meinung ist so breitgefächert wie die israelische. Es gibt Stimmen, zu denen auch ich manchmal gehöre, die genauso kritisch sind wie die internationale Kritik. Und es gibt auch viele internationale Stimmen, die die israelische Regierung viel stärker unterstützen als etwa ich im Moment. Ein Unterschied zu vergangenen Konflikten mit Gaza ist, dass die Welt diesmal weniger aufmerksam war, als die Lage eskalierte. Das hat mehrere Gründe und die Fußball-WM war nur einer davon. Es gibt heute viele nicht weniger wichtige Ereignisse. Der israelisch-paläs­tinensische Konflikt ist inzwischen auch zu einer Routine geworden.
Der israelische Schriftsteller David Grossman hat kürzlich geschrieben, die israelische Gesellschaft habe jede Hoffnung auf ein friedliches Ende des Konflikts verloren. Stimmen Sie dem zu?
Ich respektiere David Grossmans Meinung sehr. Bei einer Konferenz der Zeitung Haaretz zum Thema Frieden im Nahen Osten hat er kürzlich in Tel Aviv einen wunderbaren Vortrag gehalten. Das war ein sehr unglücklicher Zeitpunkt, denn genau an diesem Tag begann der Krieg, und nach der Diskussion über den Frieden musste man bei Sirenenalarm in den Bunker rennen. Das war eine fast makabre Situation. Es ist ein schlechter Zeitpunkt für Friedensanstrengungen, aber die Stimmung ist nicht verzweifelt. Derzeit erleben die Menschen durch die Aufregung und Todesangst eine Art künstliches Hoch. Verzweiflung kommt gewöhnlich erst später auf. Aber wenn ich für die Peaceniks sprechen darf, zu denen auch Grossman gehört, dann stimmt es, dass die Chancen für eine Friedenslösung schlecht stehen und keine der beiden Seiten in der Lage ist, zu einer Übereinkunft zu kommen. Und falls doch, würde sich die Hamas nicht anschließen.
Hätte es Ihrer Meinung nach eine Alternative zu der gegenwärtigen Eskalation gegeben?
Manche Kritiker sagen, dass Israel nach der Entführung der drei Jugendlichen auf einen Showdown mit Hamas-Unterstützern in der Westbank gesetzt hat. Hätte Israel weniger hart reagiert, hätte Hamas vielleicht nicht begonnen, Raketen aus Gaza abzufeuern. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke, Hamas hatte ein Interesse, die Situation zu befeuern, das wäre nicht das erste Mal. Obwohl ich eine Kritikerin meiner Regierung bin und eine Bodeninvasion in Gaza ablehne, muss ich sagen, dass Netanyahu bislang zurückhaltender reagiert als Ehud Olmert oder Ariel Sharon in der Vergangenheit, was bemerkenswert für einen Rechten ist. Ich weiß nicht, ob Israel diese Eskalation hätte verhindern können, denn Hamas scheint sie gewollt zu haben. Als israelische Linke und Peacenik werde ich nicht mein Recht aufgeben, Hamas zu kritisieren, und ich bin absolut überzeugt, dass Hamas Zivilisten einschließlich Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt. Dafür gibt es klare Beweise.
Was kann durch militärische Mittel ohne eine Bodeninvasion überhaupt erreicht werden? Wird Hamas nicht einfach anschließend wieder aufrüsten und in ein, zwei Jahren wiederholt sich alles?
Leider sehe ich kaum Auswege, vor allem weil ein politischer und diplomatischer Dialog gerade nicht in den Karten ist. Hamas hält Millionen von Menschen in Gaza als Geiseln. Die Raketenabschussrampen sind dort oft in dicht besiedelten Gebieten platziert. Selbst, wenn Israel so »chirurgisch« wie möglich zuschlägt, werden Zivilisten sterben, denn die Raketen befinden sich mitten unter Zivilisten. In dieser Situation gibt es nichts zu gewinnen und obwohl ich eine Optimistin bin, sehe ich mit Hamas in Gaza keinen Ausweg. Aber ich bin viel hoffnungsvoller, was die Situation und die Regierung in der Westbank angeht.
Aber gibt die in Umfragen geäußerte Unzufriedenheit der Bewohner von Gaza mit Hamas nicht Grund zur Hoffnung? Wäre ein Aufstand gegen Hamas nicht das beste Szenario, das auch von Israel unterstützt werden sollte?
Natürlich wäre ein demokratischer Aufstand gegen die Hamas eine wunderbare Sache und das könnte durchaus geschehen. Aber wie es im Talmud heißt, sind Prophezeiungen nach der Zerstörung des Tempels nur noch den Narren gegeben. Das stimmt besonders im Nahen Osten, wo schon so viele Prophezeiungen fehlgeschlagen sind. Wir hatten schon lange einen Sturz des iranischen Regimes erwartet und die Ayatollahs sind immer noch da. Wir hatten erwartet, dass der »Arabische Frühling« mehreren Staaten Demokratie bringt, er tat es leider nicht. Und ich sehe keinen Grund für Optimismus, was einen Sturz der Hamas angeht. Mit derselben Argumentation, mit der ein demokratischer Umsturz in Gaza vorhergesagt wird, könnte man auch ­einen noch extremeren islamistischen Aufstand vorhersagen. Es gibt jetzt schon Isis-Unterstützer im Gaza-Streifen.
Gibt es einen funktionierenden Dialog zwischen der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung?
Es gibt viele zwischenmenschliche berührende Geschichten. Die sozialen Netzwerke ermöglichen eine ganze Menge Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern. Vieles davon ist leider ein feindlicher Diskurs, aber es gibt auch interessante Diskussionen und hier und da auch Freundschaften. Die Bewohner von Gaza sind wenig im Internet aktiv, da sie oft gar keine Elektrizität haben. Aber ich glaube an das Internet als ein Mittel für den Dialog. Ich selbst versuche über Facebook und Twitter mit Palästinensern auch in Gaza zu kommunizieren, das funktioniert nicht immer, aber es ist die Anstrengung wert.
Sie haben sich im zusammen mit Ihrem Vater Amos Oz verfassten Buch »Juden und Worte« mit Sprache beschäftigt. Welche Rolle spielt Sprache in diesem Konflikt?
In dem Buch geht es nicht so sehr um Sprache als solche, sondern um die Benutzung von Text und Textualität als Überlebensstrategie für jüdische Tradition. Jüdisches Überleben ist eine sehr energetische Kraft, Israel wird nicht verschwinden, denn es ist voller Überlebensenergie. Diese Nachricht muss nicht nur westlichen Beobachtern, sondern auch den Palästinensern gesendet werden. Diese Kultur, diese Gesellschaft hat drei Jahrtausende überlebt und sie wird nicht verschwinden wie etwa eine postkoloniale Macht. Das muss man wissen, um realistisch hinsichtlich der Zukunft der Juden und auch hinsichtlich der Einstaatenlösung zu sein, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist – nicht, weil sie mir nicht gefällt, sondern weil beide Seiten ihr nicht zustimmen. Nicht so sehr die Sprache des Konflikts ist relevant, denn wir verwenden immer noch dieselben Begriffe wie vor 40 Jahren, auch wenn die Wörter »Waffenstillstand« und »Kompromiss« leider das Wort Frieden ersetzt haben. Relevant ist, dass die große israelische und jüdische Tradition der offenen Debatten und Meinungsverschiedenheiten noch immer sehr stark ist, wir sind immer noch ein sehr demokratisches Land mit Redefreiheit. Aber es entsteht eine neue Gewalt zwischen Linken und Rechten. Vor wenigen Tagen wurde eine linke Demonstration in Tel Aviv von rechten Schlägern angegriffen. Das sieht man vielleicht manchmal in Berlin-Kreuzberg oder Friedrichshain, aber nicht in Tel Aviv. Das war für viele ein großer Schock. Ich bin besorgt um die Redefreiheit in der israelischen Gesellschaft. Ich fürchte, wir werden zu einer aggressiveren Gesellschaft. Was Gaza angeht, würde ich mir wünschen, mehr unterschiedliche Stimmen hören zu können, die Anlass zur Hoffnung geben.
Seit ich mit meinem Vater ein Buch geschrieben habe, zitieren wir uns manchmal gegenseitig. Diesmal möchte ich ihn zitierend sagen, dass es nicht darum geht, proisraelisch oder propalästinensisch zu sein, sondern pro Frieden zu sein, und das bin ich gewiss. Aber ich glaube auch, dass Menschen von außerhalb helfen können, indem sie die Fakten genau betrachten und nicht einfachen Generalisierungen nachgeben, sondern auch die Feinheiten beachten. Es gibt nichts Subtiles bei der schrecklichen Bombardierung von Zivilisten in Gaza, die uns alle schaudern lässt, die wir alle hassen, aber die Gründe, die Ursprünge, die Fragen von Recht und Unrecht in diesem Konflikt sind sehr komplex. Kein internationaler Beobachter ohne Wissen um diese Feinheiten kann helfen, Frieden zu erreichen. Ich möchte also mit dem Aufruf zu einem genauen Blick auf die Feinheiten der Konflikte im Nahen Osten enden und ganz besonders bei unserem Konflikt.