Eine Reportage über die John Coltrane Church in San Francisco

Der Gott des Jazz

Die John Coltrane Church in San Francisco ist Club und Kirche zugleich. Für ihren Liedgottesdienst ist die Gemeinde berühmt. Hier lauscht man dem Wort des Herrn und den Stücken des schwarzen Musikers John Coltrane.

Neben dem Altar stehen ein Schlagzeug, ein paar Mikrophone und ein elektrisches Klavier. Darüber hängt ein Bild, das im Stil der Ikonenmalerei den Jazz-Musiker John Coltrane mit Heiligenschein und einer feuerspeienden Trompete zeigt. Hinter einer Wand verborgen, setzt ein Chor summender Soulstimmen ein. Nach einem gemurmelten Gebet treten die Zelebranten, angeführt von Bischof Franzo King, aus dem Altarraum in den weihrauchvernebelten Kirchenraum. Eine Ministrantin im Batikkleid verteilt kleine Schellen, der Bischof greift zum Saxophon, Männer und Frauen gehen vors Mikrophon oder greifen sich ein Instrument und die sonntägliche, vierstündige Jam Session in der Saint John Coltrane African Orthodox Church beginnt.
Die Kirche hat das Flair eines Jazzclubs. Hier wird die göttliche Botschaft durch die Jazzmusik von John Coltrane verkündet. Die Kirche ist zudem ein Ort, der für die Befreiung der Afroamerikaner steht. Die Coltrane Church wurde Anfang der siebziger Jahre von Franzo Wayne King, einem Predigersohn aus Los Angeles, und seiner Ehefrau Marina in San Francisco gegründet und gehört zur African Orthodox Church, die 1919 in den Vereinigten Staaten entstand. Der Name der kleinen Kirche in San Francisco leitet sich von dem Jazz-Saxophonisten John Coltrane her, der mit seiner Musik in der Kirche eine zentrale Rolle spielt. »1971 haben wir in einer kleinen Garage begonnen, ich und mein Mann. Heute sind wir eine richtige Kirche, wer hätte das gedacht!« erzählt Reverend Mother Marina King. Dann steht sie auf, greift zum Mikrophon, und die kräftige Stimme der zierlichen Frau schallt durch den Raum. Der Chor singt Coltranes »A Love Supreme«, begleitet von Saxophonen, Trommeln, und Schellen. Im Verlauf der Session steigern sich Musik und Gesang, einzelne Mitglieder der Gemeinde stehen auf und tanzen. Gesungen wird aus dem Repertoire John Coltranes, gelesen aus den Evangelien. Der auf dem ersten Backcover von Coltranes Album »A Love Supreme« (1965) erschienene, vom Musiker selbst verfasste Text ist das erste Gebet, das gesprochen wird.
Die Kirche liegt im ärmeren Teil des Stadtteils Fillmore, zwischen noblem Einkaufsviertel und Japantown, und nimmt die unteren Räume eines schlichten Wohnhauses ein. Hinter der nüchternen Fensterfront würde man eher eine Versicherungsagentur erwarten, nicht aber das farbenprächtige Interieur einer ungewöhnlichen Kirche: Ikonen John Coltranes, Bilder schwarzer Engel mit feuerroten Flügeln, von der Decke herabhängende, mit Saxophonen bedruckte Altartücher und Batikdecken mit afrikanischen Madonnen.
Die Ikonen der Kirche wurden von dem Maler Mark Dukes gefertigt. Er schuf 2009 für die in Potrero Hill gelegene Kirche Saint Gregory of Nyssia die überlebensgroße Rundikone »Tanzende Heilige«. Sie zeigt 90 »Heilige«: Musiker, Mathematiker und andere Persönlichkeiten, Menschen aller Glaubensrichtungen, darunter Anne Frank, Malcolm X und John Coltrane.
Das Erscheinungsjahr des Albums »A Love Supreme« ist für Bischof Franzo King das Jahr seiner »musikalischen Taufe«. Als er in den frühen sechziger Jahren mit seiner damaligen Verlobten Marina in den San-Francisco-Jazz-Workshop ging, in dem Coltrane auftrat, glaubte er die Stimme Gottes zu hören. Bis zu diesem Zeitpunkt war Franzo King eher ein Fan von James Brown und fühlte sich irritiert von Coltranes »Gottestrip«. Während der fünfziger Jahre hatte Coltrane sich einen Ruf als außergewöhnlicher Tenorsaxophon-Spieler erworben und war mit Miles Davis aufgetreten. Als der heroinabhängige Coltrane einen kalten Entzug durchmachte, sei ihm, so der Musiker in einem Interview, Gott erschienen.
Charlie Perkins, James Brown, Miles Davis und Coltrane haben die Big-Band-Kultur vorangegangener Dekaden abgelöst und große Orchester durch kleinere Improvisationsgruppen ersetzt, die nicht mehr den musikalischen Geschmack der weißen Oberschicht bedienten. Für Künstler wie Coltrane war Jazz eine Rebellion, die Unabhängigkeitserklärung der afroamerikanischen Kultur. »Es gab damals keine African-American Studies«, erklärt Bischof Franzo King, »sondern nur die Geschichte der Sklaverei als Identifikationsgrundlage für die afroamerikanische Kultur, und dann gab es den Jazz. Als ich als Jugendlicher einmal ein Jazz-Lexikon aufschlug, war es etwas Besonderes, all die Leute mit ihrer würdevollen und intelligenten Ausstrahlung in Anzügen zu sehen, mit respekteinflößenden Namen wie Duke, Count oder Lady.«
Als ein japanischer Journalist Coltrane 1966 fragte, was er in fünf Jahren sein wolle, antwortete er: »ein Heiliger«. Es ist ein Wunsch, den ihm Franzo King in einem gewissen Sinn erfüllt hat. Kurz nach Coltranes Tod 1967 sei dieser ihm im Traum mit riesigem Afro erschienen. Da Coltrane zu Lebzeiten die Haare kurz getragen hatte, so King, sei ihm klar gewesen, dass diese ungewöhnliche, neue Erscheinung des Sängers eine göttliche Botschaft gewesen sein muss. Für ihn war es die Aufforderung, zwar nicht Gottes Wort, so aber doch Gottes Musik zu verbreiten.
Franzo King hatte bereits eine kleine Kirche gegründet, den Yardbird Temple zu Ehren Charlie Parkers, dessen Spitzname Yardbird oder Bird war – für Franzo King war der Künstler die Reinkarnation von Johannes dem Täufer. Der Tempel befand sich aber außerhalb jeder kirchlichen Institution. Mit der Coltrane Church trat Franzo King ganz offiziell dem Verband der African Orthodox Church bei. Dies geschah allerdings unter der Auflage, es mit dem spirituellen Fantum nicht zu übertreiben und Coltrane zukünftig nicht als Gott, sondern lediglich als Verkörperung Gottes im Klang zu feiern: »Lobt ihn mit Posaunenschall, lobt ihn mit Harfe und Zither, lobt ihn mit Tamburin und Reigen. Alles, was Atem hat, lobe den Herrn«, heißt es im Psalm 150, eine der liturgischen Grundlagen des Ritus der Coltrane-Kirche.
Die Vorstellung von der erlösenden Kraft der Musik entspricht den Ansichten Coltranes. Wie Christus einst die Religion von der starren Tempelordnung habe befreien wollen, um in freier Natur zu predigen, habe Coltrane den Jazz aus dem Notationskorsett holen wollen; er setzte stattdessen auf die Energie freier Improvisation. Musik und insbesondere der Jazz, so sah es Coltrane, sollte das Denken verändern. Zwar meinen Kritiker, dass die Theologie der Coltrane Church sehr traditionell beschaffen ist, was jedoch für Kontroversen und Aufsehen sorgt, ist der Einsatz der Jazzmusik und der Worte eines Künstlers des 20. Jahrhunderts.
Die Kirche fühlt sich den Armen verpflichtet, will spirituellen Trost und materielle Unterstützung gewähren, Kleider und Konserven werden für die Bedürftigen gesammelt, und es gibt eine vegetarische Suppenküche. Im Mai hat die San Francisco Travel Association die klamme Kirche in ihr Subventionsprogramm aufgenommen. Für zwei Jahre fließen der Kirche Gelder der Gemeinde zu. Der Reiseverband der Stadt finanziert außerdem Treffen zwischen möglichen Partnern der Kirche.
Auf dem diesjährigen Fillmore Jazz Festival ist die Kirche erneut durch einen eigenen Informationsstand vertreten. Das Festival ist eines der größten der Westküste und ging aus der Jazzclubkultur der Nachkriegszeit hervor. Treffpunkt der Szene war ein Hinterzimmer in Jimbos Waffle Shop, in dem auch John Coltrane auftrat. Jimbo Edwards war einer der ersten afroamerikanischen Autohändler San Franciscos. Als Jazz in den sechziger Jahren Variationen des Bebop aufnahm, nannte sich Jimbos Waffle Shop in Bop City um und zog neben Coltrane Musiker wie Miles Davis, Billie Holiday, Charlie Parker und Dizzie Gillespie an.
Der Gottesdienst der Coltrane Church ist weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt geworden. Werbung aber kann nicht von Schaden sein: Jeden Dienstag moderiert Pastorin Wanika King Stephens, die Tochter von Franzo King, eine vierstündige Radioshow für KPOO Radio und legt vor allem Platten von John Coltrane auf. KPOO ist eine von der Organisation Poor People’s Radio gegründete Station für San Francisco und Oakland. Der Sender ist der armen Bevölkerung der Gegend verpflichtet, berichtet von Gemeindetreffen und Veranstaltungen und spielt vor allem Jazz, Reggae und HipHop. Neben Coltranes Musik verbreitet Wanika auch die Worte des Künstlers, liest aus Interviews vor oder befragt selbst Leute nach den Musiker.
Erbauung durch Jazz und ein Nachklang von Rebellion und Befreiung, religiöse Verehrung einer Kulturikone und Radioshow im Namen des Prekariats: Die Coltrane-Kirche verbindet Gemeindearbeit und Jazz-Szene, Gedenken an und Fortschreibung der Emanzipation der afroamerikanischen Community Nordamerikas.