Die antifaschistische Linke nach dem NSU muss Staatskritik und Solidarität mit den Betroffenen vereinen

Antifa im Zwiespalt

Zehn Jahre nach den NSU-Anschlägen in der Kölner Keupstraße geht der Staat in die Gedenkoffensive: Mit allen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit kämpfen Joachim Gauck, Verfassungsschutz und Co. um die Deutungsmacht über die Anschläge. Währenddessen steht die radikale Linke vor dem Problem, eine radikale Staatskritik zu formulieren, ohne Politik über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu machen.

Im Jahr 2004 wurden Bewohnerinnen und Bewohner der Keupstraße in Köln im Zuge der terroristischen Aktivitäten der neonazistischen Organisation NSU Opfer eines Nagelbombenanschlags. Nach dem terroristischen Anschlag mussten die Betroffenen jahrelang ein perfides Programm der Ermittlungsbehörden über sich ergehen lassen, das sie gezielt von Opfern zu Tätern machen sollte. Die Kriminalisierungspraxis führte dazu, dass das Leid durch staatliche und gegenseitige Verdächtigungen verstärkt und verlängert wurde.
Seit der Aufdeckung der wirklichen Verantwortlichen, der neonazistischen Mörderinnen und Mörder des NSU, wird hektisch Schadensbegrenzung betrieben. Außerdem zeichnet sich ein Drang seitens der Politikerinnen und Politiker ab, eine Positionierung für die Betroffenen PR-technisch zu verwerten. Als ein Paradebeispiel für schamlose Instrumentalisierung der Gedenk- und Aufarbeitungspolitik durch diejenigen, die dem Leid der von rassistischer Ermittlungspraxis betroffenen Menschen gleichgültig gegenüberstanden oder diese Praxis sogar unterstützten, kann die Beteiligung verschiedener Politiker und Prominenter aus Medien und Kultur an der Kampagne »Birlikte – Zusammenstehen« gelten. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Keupstraße wurden während der Inszenierung zu Statisten degradiert. Zugleich kämpft der Staat um die Deutungshoheit über die Anschläge. So reagierte Bundespräsident Joachim Gauck auf ein Transparent, welches die Verstrickung von Geheimdiensten in den NSU-Skandal thematisierte, mit den Worten, das könne er »nicht erfassen«. Nahezu alle Medien berichteten ausschließlich von den Auftritten und Reden jener Staatsorgane, die vor Jahren noch maßgeblich Kriminalisierung und Stigmatisierung der Betroffenen mit zu verantworten hatten.

Neben der offiziellen Reaktion und dem herrschenden Diskurs, wie er von Staat und Mainstreammedien geführt wird, versuchten jedoch auch linksradikale Gruppen, die Anschläge, das auf sie folgende Vertuschungshandeln des Staates und ihre eigene Rolle aufzuarbeiten. Auch die radikale Linke hatte lange Zeit der offiziellen Erklärung der Anschläge geglaubt. Nach der Aufdeckung dominiert eher eine Beschäftigung mit den Neonazistrukturen hinter dem NSU als eine öffentliche Kampagne zur Skandalisierung der Geschehnisse und Solidarität mit den Betroffenen.
Auf die Aufdeckung des neonazistischen Hintergrunds der Bombenanschläge in der Keupstraße reagierte das Bündnis »Rosen auf den Weg gestreut« im Jahr 2011 in Köln mit einer Demonstration. Aufgrund von Kommunikationsversäumnissen bei der Vorbereitung von linksradikaler Seite kam eine Kooperation mit den Betroffenen der Anschläge zunächst nicht zustande. Dies wurde von den Betroffenen aus der Keupstraße kritisiert. Weil sich diese von der Demonstration nicht ausreichend repräsentiert fühlten, entschieden die Veranstalter, nicht über die Keupstraße zu ziehen. Die Kritik der Betroffenen konnte dennoch fruchtbar gewendet werden: Bewohner und Bewohnerinnen der Keupstraße hielten einen Redebeitrag auf der Demonstration. Aus der Kritik entstand ein Dialog, der entscheidend zur Gründung der Initiative »Keupstraße ist überall« beitrug. Als Antifa AK nehmen auch wir an dieser Initiative teil. Unser Anspruch ist es, die Betroffenen der Anschläge zu den Gerichtsprozessen zu begleiten und Unterstützung zu bieten, damit sie den Nazis, die sie ermorden wollten, und dem Staat, der sie nicht schützen wollte, nicht allein gegenübertreten müssen. Mit einer überregionalen Mobilisierung zur Unterstützung der Betroffenen aus der Keupstraße beim NSU-Prozess in München wollen wir unseren Anspruch in die Tat umsetzen.

Wer sich jedoch aus linksradikaler Perspektive mit Solidaritätsarbeit für von Rassismus Betroffene auseinandersetzt, sollte sich mit Stellvertreterpolitik beschäftigen. »Stellvertreterpolitik« ist ein Begriff, der in der radikalen Linken dieser Tage oft zu hören ist. Viele Aktionskonzepte werden mit diesem Schlagwort kritisiert. Schaut man sich die Tradition linksradikaler Bewegungen an, erscheint dies als Fortschritt: Oft wurde eine bestimmte soziale Gruppe, zu der die Linke nicht notwendigerweise aufgrund ihrer Zusammensetzung einen direkten Bezug hatte, als Projektionsfläche für eigene Wünsche und Vorstellungen sowie als Legitimationsquelle für politische Aktionen verwertet. Dies geschah oft bei großer Distanz zu Angehörigen dieser Gruppen.
Antifaschistinnen und Antifaschisten, die versuchen, die Kritik an der Stellvertreterpolitik ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln, stehen jedoch vor neuen Problemen. Verständlicherweise haben Betroffene von Rassismus oft wenig Interesse, mit szenig auftretenden Aktivisten zusammenzuarbeiten, die einen Slang sprechen, der manchmal in der Szene selbst nicht verstanden wird. Die meisten Antifa-Gruppen sind weiß, männlich und von Angehörigen der bürgerlichen Mittelschicht dominiert. Kontakte zu Betroffenen sind oft schlecht etabliert oder überhaupt nicht vorhanden. Die Abstimmung mit den Opfern der rassistischen Zumutungen, gegen die gerade vorgegangen werden soll, bleibt oft aus, da die Etablierung von Kontakten zu diesem Zweck ein langwieriger Prozess ist. Der Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck und anderen Repräsentanten des deutschen Staates stellte uns als Linksradikale vor ein Problem. Für uns war völlig klar, dass Gauck und Co. mit einer tiefgehenden Aufarbeitung des NSU-Komplexes wenig am Hut haben. Allerdings gingen wir vor dem Fest auch davon aus, dass der Besuch des Bundespräsidenten zumindest von einem Teil der Betroffenen der Anschläge erwünscht sei. Eine öffentliche Fundamentalopposition haben wir aus Rücksichtnahme auf die Meinungen der Betroffenen daher unterlassen.

Nun steht eine radikale Linke, die die Wurzeln des Rassismus in der durch tagtägliche Konkurrenz und Ausgrenzung geprägten kapitalistisch und nationalstaatlich verfassten Gesellschaft sucht, vor einem Dilemma. Denn eine Instrumentalisierung der Opfer durch Vertreter ebenjenes Staates, dessen Geheimdienst in den Aufbau der NS-Terrorzelle verstrickt war und dessen Polizei jahrelang die Betroffenen als Täter verfolgte, muss mit Protest und Widerstand beantwortet werden.
Die Kampagne »Birlikte – Zusammenstehen« war jedoch nicht etwa ein Produkt von PR-Strategen der SPD oder anderer Organisationen der gesellschaftlichen Macht, sondern geschah auch unter Mitwirkung der IG Keupstraße, einer Interessenvertretung der Anwohnerinnen und Anwohner. Wir gingen daher davon aus, dass die Beteiligung von Vertretern von Parteien und Medien zumindest von einigen Betroffenen der Anschläge gewünscht wird. Die Gründe dafür sind verständlich: Nach Jahren der Denunziation und Verdächtigung fordern die Betroffenen der Anschläge berechtigterweise eine Entschuldigung und Anerkennung durch die Verantwortlichen in Politik und Medien. Da diesen solche Gesten aufgrund der Möglichkeit, sie zur Selbstinszenierung als die Guten im Skandal zu instrumentalisieren, nur allzu leicht von der Hand gehen, entsteht jedoch ein problematisches Wechselspiel zwischen berechtigter Forderung der Betroffenen und PR-Kalkulation seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
Nun müssen es staatskritische Linksradikale schaffen, einerseits das Verhalten von Staatsorganen und Medien im Fall Keupstraße zu kritisieren und andererseits die Wünsche derjenigen Betroffenen zu respektieren, die wollen, dass Staatsorgane und Medien bei ihnen auftreten und ihre Mitschuld eingestehen. Die Menschen in der Keupstraße sind außerdem keine politisch homogene Masse, sondern haben die verschiedensten Weltanschauungen. Wenn auf den Treffen der Initiative »Keupstraße ist überall« Betroffene der Anschläge die Möglichkeit hatten, von ihren Erfahrungen zu berichten, zeigte sich deren Zorn darüber, dass der Staat sie systematisch kriminalisiert und mit jahrelangen Ermittlungen gegen sie terrorisiert hatte. Diesen Menschen ist die staatliche Verstrickung in den NSU-Komplex und die Realität des gesellschaftlichen Rassismus vollkommen bewusst. Sie brauchen keine weißen deutschen Linksradikalen, die zu ihnen kommen und ihnen das erzählen. Eine radikale, antiautoritäre Linke muss es schon aufgrund ihres Selbstverständnisses vermeiden, ihre Positionen unabhängig von den Wünschen oder gegen die Wünsche der von Rassismus betroffenen Menschen durchzusetzen, die sie zu unterstützen beansprucht. Im Gegenteil muss zusammen mit den Betroffenen, die aus eigenen Rassismuserfahrungen den Schluss ziehen, das Problem an der Wurzel zu bekämpfen, eine Kritik am deutschen Staat und am gesellschaftlichen Rassismus formuliert werden.