Westliche Jihadisten und der »Islamischen Staat« im Irak

Auch Deutsche unter den Tätern

Mindestens jeder siebte Terrorist des »Islamischen Staats« kommt aus dem Westen. Warum machen sich Tausende auf den Weg, um für den Kalifen zu köpfen?

Die Ermordung des US-Journalisten James Foley, für die offenbar bewusst ein mit Londoner Akzent sprechender Jihadist ausgesucht wurde, hat die Beteiligung von Bürgern westlicher Staaten am islamistischen Terror erneut in die Diskussion gebracht. Um eine Randerscheinung handelt es sich nicht. Die Schätzungen über die Zahl der Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) variieren, derzeit sollen es – verbündete sunnitische Milizen im Zentralirak nicht mitgerechnet – etwa 15 000 sein. Vage sind auch die Angaben über den Anteil der Rekruten aus Europa, Australien und den USA, doch 2 000 – darunter 400 aus Deutschland – sind es wohl mindestens. Ihr Anteil liegt somit bei etwa 15 Prozent, deutlich höher ist er unter den ideologisch Motivierten, denn der IS beschäftigt auch Söldner und mehr oder minder freiwillig haben sich ihm viele Angehörige besiegter Milizengruppen angeschlossen.
Debattiert wird darüber im Westen vornehmlich, weil man annimmt, Rückkehrer könnten Terroranschläge begehen. Eine berechtigte Befürchtung, derzeit aber sind es die Menschen im Nahen und Mittleren Osten, die unter den west­lichen Jihadisten zu leiden haben. Doch der muslimische Extremismus wird in der Debatte als Fremdkörper behandelt, so dass ein Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn hervorgebracht haben, vermieden werden kann. So wird in der unsinnigen Debatte darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre, das Land zu einer Schultüte, in die nur hineingepackt werden soll, was pädagogisch wertvoll ist. Im wirklichen Leben aber gehören Sufis, muslimische Reaktionäre und Jihadisten ebenso zu Deutschland wie Margot Käßmann, Thilo Sarrazin und Beate Zschäpe.
Mit der Migration ist eine neue Variante des Rechtsextremismus in den Westen gekommen, deren Herleitung sich von den indigenen Formen unterscheidet, während der ideologische Kern dem klassischen Muster entspricht. Das Kalifat des IS ist ein Führerstaat, in dem jede Form von Dissidenz beseitigt werden soll. Antisemitismus, patriarchalen Extremismus und Kriegerkult teilen die Jihadisten ebenfalls mit dem traditionellen westlichen Rechtsextremismus.

Im Unterschied zu den Faschisten und fast allen christlichen Fundamentalisten sind die Jihadisten universalistisch. Zwar gibt es auch im islamistischen Milieu Rassismus, es ist jedoch gelungen, eine internationale Bewegung des globalen Jihad aufzubauen. Anwerbeversuche gibt es überall in der Welt, doch obwohl die Zahl der Muslime etwa in Indonesien und im subsaharischen Afrika viel höher ist, fühlen sich wesentlich mehr Muslime aus dem Westen vom IS angezogen.
Über ihre Motive befragt, beschreiben sie die Berufung zum Jihad als Erweckungserlebnis, das sie dazu bewogen habe, ihren früheren »unmoralischen« Lebenswandel aufzugeben. Die eigene Sündhaftigkeit zu erkennen, zu bereuen und fortan ein gottgefälliges Leben zu führen, ist ein im Islam wie im Christentum bekanntes Motiv, das für gewöhnlich aber nur eifrige Prediger und griesgrämige Asketen hervorbringt.
Jihadisten hingegen interessiert allein der heilige Krieg. Religiöses Empfinden lässt sich nicht messen, nachweisbar ist jedoch, dass zwischen religiöser Indifferenz und dem ersten zur höheren Ehre Gottes abgeschnittenen Kopf oft nur eine Zeitspanne von ein paar Monaten liegt – sicherlich nicht genug Zeit, um sich mit den Feinheiten der islamischen Theologie zu befassen. »Als sie sich dem Jihad anschlossen, waren die Terroristen nicht sehr religiös«, stellte der Psychiater Marc Sageman fest. »Sie wurden erst religiös, als sie sich dem Jihad angeschlossen hatten.« Sageman (»Understanding Terror Networks«, 2004) untersuchte die Persönlichkeitsprofile von Terroristen der ersten Generation des globalen Jihad und stellte fest, dass die meisten wohlhabende Familienväter Ende 20 waren, die ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen hatten.
Umfassende Untersuchungen über die neue Generation des globalen Jihadismus gibt es noch nicht, das Durchschnittsalter ist aber wohl gesunken und statt aus der oberen Mittelschicht kommen die meisten nun offenbar aus Milieus mit niedrigerem Einkommen. Eine immense Rolle spielt offenkundig die Freude an der Gewalt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Jungs vom IS bei ihrem kollektiven Amoklauf einen Riesenspaß haben, sich selbst wundern, wie einfach das alles ist, aber auch ahnen, dass es nicht ewig so weitergehen wird. Es gibt Ähnlichkeiten mit Serien- und Massenmördern – die Columbine-Attentäter Eric Harris und Dylan Klebold hatten ursprünglich ein Flugzeug über New York zum Absturz bringen wollen –, deren Wahnsystem meist aus einem rechtsextremem Weltbild abgeleitet ist.

Die aus dem Salafismus hervorgegangenen Jihadisten hingegen folgen einer Lehre, deren Tradition auf den Wahhabismus des 18. Jahrhunderts zurückgeht, der heute die Staatsdoktrin Saudi-Arabiens ist, und auf dem Hanbalismus, einer der als orthodox anerkannten sunnitischen Rechtsschulen, beruht. Die Ideologie muss daher auch in ihrer religiösen Legitimierung ernst genommen werden. Charles Manson, der sich für den fünften Engel der Apokalypse ausgab, und Anders Breivik, der sich zum Kommandanten eines nicht existierenden Kreuzritterordens ernannte, beriefen sich auf das Christentum, aber in so obskurantistischer Form, dass auf dieser Grundlage keine Bewegung aufgebaut werden könnte. Der IS hat durch die Gründung seines Kalifats nun aber auch theologische Befehlsgewalt in Anspruch genommen und sich damit von den Bindungen an die religiöse Tradition gelöst.
Der IS zieht Männer an, für die das Morden keine im Verborgenen zu absolvierende Drecksarbeit ist, die für das edle Ziel nun einmal erledigt werden muss, sondern die erstrebte Lebensform, mit der man sich obsessiv vor aller Welt brüstet. Verroht sind auch viele der Rekruten aus Syrien und dem Irak, bereits Isi (al-Qaida im Irak), die Vorläuferorganisation des IS, fiel durch eine exzessive Brutalität auf, die sogar Ussama bin Laden kritisierte. Die Atomisierung der Gesellschaft im Irak unter Saddam Hussein und die Allgegenwart eines Repressionsapparats, der wöchentlich Hunderte tötete, führten zu einer Traumatisierung. Diktatur und wirtschaftsliberale Reformen zersetzten die traditionellen Strukturen, die durch informelle Konsensfindung und die Autorität der Älteren den Männlichkeitswahn unter Kontrolle hielten. Im Geheimdienststaat Syrien war das Ausmaß offener Gewalt vor 2011 zwar geringer, doch gibt es nun kaum noch jemanden, der vom Bürgerkrieg nicht direkt betroffen ist.

Traumatisierung und Gewalterfahrung sind keine Rechtfertigung für Mord, doch besteht ein Unterschied zu jenen Freiwilligen, die sich ohne Not dem IS anschließen. Von einer Radikalisierung zu sprechen, ist hier verharmlosend. Herauszufinden wäre, welche Rolle die Sozialisation im Westen spielt. Dass viele Rekruten Konvertiten sind, spricht gegen die These, Rassismus und Diskriminierung seien die Ursache. Auch in den Bekenntnissen westlicher Jihadisten ist davon nie die Rede.
Es gibt Parallelen zum Millenarismus, doch fehlt nicht nur der mit dem Puritanismus solcher Bewegungen einhergehende Egalitarismus, sondern jegliches Interesse für soziale Belange. Auffällig ist auch, dass die westlichen Jihadisten als Einzelkämpfer in ein fremdes Land ziehen, dessen Sprache sie nicht verstehen, also eine individuelle »Heldenreise« unternehmen, statt daheim das sonst unter Rechtsextremisten so beliebte Gemeinschaftsgefühl zu suchen. Die Ideologie bietet eine Rechtfertigung, die Motive westlicher Jihadisten aber sind in der Psychopathologie des Spätkapitalismus zu suchen.