Das Sarajevo Film Festival

Kino in Ausnahmesituationen

1995 fand in den Ruinen der Stadt zum ersten Mal das Sarajevo Film Festival statt. Die Veranstaltung ist zum wichtigsten Schauplatz des südosteuropäischen Films geworden.

Estragon: Komm, wir gehen! Wladimir: Wir können nicht. Estragon: Warum nicht? Wladimir: Wir warten auf Godot. Estragon: Ah!« 1993 kam Susan Sontag in das belagerte Sarajevo, um dort Samuel Becketts »Warten auf Godot« aufzuführen. Während sich Bosniaken, Kroaten und Serben im Rest des Landes bekriegten, spielten sie im Zentrum der belagerten Stadt gemeinsam Theater. Einer der Schauspieler wurde bei der Vorbereitung des Stücks getötet. Für die eingeschlossenen Bewohner Sarajevos gestaltete sich die Interpretation von Becketts Meisterwerk folgendermaßen: Godot stand für das Ende der Belagerung, den Frieden. Die Hoffnung auf etwas, das nicht eintritt, galt dem Eingreifen der sogenannten internationalen Gemeinschaft, um die Massaker zu beenden. Die Stadt sollte noch zwei weitere Jahre warten und Tausende Tote in Kauf nehmen, bis Godot endlich kam. Damals war in der Bevölkerung umstritten, ob Susan Sontags Tätigkeit als humanitäre Geste oder Kriegstourismus einzuordnen war – heute ist der Platz vor dem Nationaltheater nach ihr benannt.
In diesem Jahr wurden alle Wettbewerbs­filme des Festivals im Nationaltheater gezeigt. 2005 war es Jasmila Žbanićs Film »Grbavica – Esmas Geheimnis«, der eine Debatte über die systematische Vergewaltigung von über 20 000 Frauen während des Krieges auslöste. Eine Auseinandersetzung, die im serbischen Landesteil, der Republika Srpska, bis heute weitgehend ignoriert wird. Die Hauptrolle der Bos­niakin Esma, deren Tochter bei den systematischen Vergewaltigungen im Krieg gezeugt wurde, wurde von der Serbin Mirjana Karanović gespielt. Karanović war 2003 die erste serbische Schauspielerin, die in einem kroatischen Film mitwirkte.
In diesem Jahr ist Karanović im kosovarischen Wettbewerbsbeitrag »Three Windows and a Hanging« zu sehen. Sie spielt eine ausländische Reporterin, die in ein kosovarisches Bergdorf kommt, um über die Vergewaltigungen im Krieg zu berichten. Ein mehr als deutlicher Hinweis darauf, dass »Three Windows and a Hanging« für den Kosovo das leisten soll, was Grbavica für Bosnien-Herzegowina geleistet hat. Der Regisseur Isa Qosja sagte: »Es war der schwierigste Film meiner Karriere. Diese Frauen werden von der Gesellschaft und auch von ihren Familien ausgestoßen. Die kosovarische Perspektive ist eine rein männliche. Ich bin glücklich, dass die Premiere in Sarajevo stattfindet, weil ich glaube, dass das hiesige Publikum den Film versteht. Ich widme diesen Film allen vergewaltigten Frauen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.« »Three Windows and a Hanging« ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer unabhängigen kosovarischen Filmindustrie und galt vielen Besuchern als Favorit für das »Herz von Sarajevo«, den Hauptpreis des Festivals.
Der Preis für den besten Film ging jedoch an das Spielfilmdebüt »Song of My Mother« des Regisseurs Erol Mintaş: Ali und seine Mutter Nigar leben, wie viele andere kurdische Flüchtlinge, im Istanbuler Stadtteil Tarlabaşı, dem Zentrum der Gentrifizierung in der Türkei. Die Familie muss umziehen und landet in einer Betonwüste am Rande der Stadt. Nigar glaubt, all ihre Nachbarn seien zurück in ihre kurdischen Dörfer gezogen. Jeden Morgen packt sie ihre Sachen, um sich ebenfalls auf den Weg zu ihrem Herkunftsort zu machen. Sie zieht durch die Stadt auf der Suche nach ihrem Dorf und einem Lied, das sie immer wieder in ihren Träumen hört. In der Begründung der Jury heißt es: »Wir unterstützen die mutige Simp­lizität, die reine cineastische Sprache und die Entscheidung, das alltägliche Leben auf eine Art und Weise darzustellen, die uns die Charaktere lieben lässt. Wir sind entzückt, dass die Filmemacher in der Lage waren, den Verlockungen des Mainstream zu widerstehen.«
Mirsad Purivatra, der Direktor des Sarajevo Film Festivals, bekam dieses Jahr einen Anruf von den Organisatoren des Odessa International Film Festival. Diese wollten wissen, wie man ein Festival in einer Bürgerkriegssituation realisiert. Als 1995 das erste Sarajevo Film Festival stattfand, war die Stadt noch belagert. Wer sich auf die Straße traute, riskierte damit sein Leben. Dennoch kamen 15 000 der eingeschlossenen Menschen, um sich die 37 Filme des Festival anzuschauen. Die Geburt des Sarajevo Film Festivals fand zu einer Zeit statt, als es weder fließendes Trinkwasser noch funktionierende Heizungen oder auch nur genügend zu essen gab. Mirsad Puritvara freut sich über die Entwicklung des Festivals: »Wenn wir sehen, wo wir angefangen und welchen Weg wir zurückgelegt haben, dann ist das 20. Sarajevo Film Festival ein Grund zum Feiern. Das Filmfestival spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Films in der Region.«
Der Filmexpertin Dina Iordanova zufolge symbolisierte Sarajevo lange Zeit den Herkunftsort der Apokalypse, weil der Erste Weltkrieg hier seinen Anfang genommen hatte. Als Folge der Belagerung geriet dieses Bild in Vergessenheit und wurde ersetzt durch eine Imagination Sarajevos als eines kosmopolitischen Ortes, der dunklen Mächten zum Opfer fiel. Zu dieser Zeit wurde die Provinzhauptstadt Sarajevo zu einer globalen Allegorie für Toleranz, Multikulturalität und für die Bedeutung von Kunst und Kultur in Ausnahmesituationen. Letztlich auch, weil der Bosnien-Krieg zu einem internationalen Medienereignis wurde, das in Dutzenden Filmen und Hunderten Dokumentationen festgehalten ist. Das schlechte Gewissen einer Weltgemeinschaft, die nicht eingreifen wollte, manifestierte ironischerweise das Bild Sarajevos als multikulturelle Stadt.
Das Sarajevo Film Festival ist heute der wichtigste Schauplatz des südosteuropäischen Films, wobei auch der Kaukasus und die Türkei eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere georgische Filme scheinen es der Jury dieses und vergangenes Jahr angetan zu haben. »Amour Fou« von Jessica Hausner, ein deutschsprachiger Film über Heinrich von Kleist und das Berlin der Romantik, soll hingegen während der Vorführung mit einem genervten »Those Germans!« kommentiert worden sein.
Die Rolle des Films bei der Aufarbeitung des Krieges kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Während große Teile der Medien, Literatur und Wissensproduktion den Ethnonationalismus propagierten, zeigte sich die Filmindustrie in Bosnien und Herzegowina als relativ wenig anfällig für solche Bestrebungen. Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel, aber im Großen und Ganzen haben es die Nationalisten nie geschafft, den bosnischen Film für sich zu vereinnahmen. In einer unerträglichen Stimmung voller Ressentiments wurde der Kinosaal zum Raum, in dem Selbstreflexion und Kritik möglich waren. Das Sarajevo Film Festival bildete während der längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts die Grundlage für diese Entwicklung und war letztlich ein Aufbegehren der Kultur gegen die Barbarei. Die wohl größte internationale Anerkennung dafür war der Oscar 2002 als bester fremdsprachiger Film für Danis Tanovićs »No Man’s Land«. Tanović erhielt dieses Jahr neben dem Schauspieler Gael García Bernal und der Designerin und Filmemacherin Agnès B. auch das »Ehrenherz von Sarajevo«.