Das besetzte Teatro Valle in Rom wird nach drei Jahren geräumt

Die letzte Aufführung

Drei Jahre lang hielten prekär Kulturschaffende das Teatro Valle, das älteste Theater Roms, besetzt. Das »Valle Occupato« wurde zur Ikone einer neuen Bewegung für die Gemeingüter. Im August räumten die Besetzerinnen und Besetzer das selbstorganisierte Theater.

»Das wars jetzt? Dafür habt ihr das Theater drei Jahre besetzt?« Der junge Mann gestikuliert wild, je öfter er seine Fragen wiederholt, desto lauter wird seine Stimme. Ileana Caleo, Schauspielerin und Aktivistin des Kollektivs, das das Teatro Valle in Rom 2011 besetzte (Jungle World 39/11), redet ruhig auf ihn ein, aber ihre Erklärungsversuche dringen nicht zu ihm durch. In der Loge hinter den beiden rollt ein Techniker Kabel auf und schimpft: »Was will der Typ? Wo war er die ganzen letzten Wochen?« Andere, die alleine und ­gedankenverloren in den roten Sesseln sitzen, schenken dem Streitgespräch keine Beachtung, sie lassen noch einmal den Blick durch den Saal schweifen. In den oberen Rängen brennt kein Licht mehr, nur das Transparent aus den Anfangstagen hängt noch über einer der Balustraden: »Wie traurig ist doch die Vorsicht!« Auf der Bühne werden Matratzen gestapelt, im Foyer stehen Umzugskartons. Die letzte Vollversammlung, zu der das Teatro Valle Occupato eingeladen hat, ist vor einigen Minuten zu Ende gegangen, ehe sie überhaupt richtig eröffnet wurde. Es gibt nichts mehr zu diskutieren: Nach 37 Monaten räumen die Besetzerinnen und Besetzer das Theater.
Nachdem die nationale Theaterbehörde (ETI) 2010 aufgelöst worden war, unterstand das älteste Stadttheater Roms der Stadtverwaltung. Als Gerüchte aufkamen, die Stadt bereite eine öffentliche Ausschreibung vor, um einen privaten Investor zu finden, entschlossen sich einige Dutzend prekär Kulturschaffende am Ende der Theatersaison 2011, mit der Besetzung des Theaters gegen den geplanten Verkauf oder eine etwaige »Umnutzung« zu protestieren. Aus der symbolischen Aktion wurde ein drei Jahre währendes Projekt: das Teatro Valle Occupato. Fast 300 Theateraufführungen, mehr als 100 Filmabende, unzählige Konzerte, Vollversammlungen, Seminare, Buchpräsentationen und Radiosendungen, regelmäßige Workshops und fünf Preisverleihungen fanden dort statt. Vor allem international hatte das Teatro Vallo Occupato Erfolg, unter anderem mit dem preisgekrönten Stück »La Merda«, das im Mai auch im Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen war.
In Rom hatte die Stadtverwaltung unter dem rechten Bürgermeister Gianni Alemanno zwei Jahre lang keinen ernsthaften Räumungsversuch unternommen. Auch sein Amtsnachfolger, Ignazio Marino von der Demokratischen Partei, hatte im vergangenen Jahr andere Prioritäten. Doch Anfang Juni kündigte Marino in einem Fernsehinterview überraschend an, noch vor den Sommerferien eine endgültige Lösung zu präsentieren. Wenige Wochen später ernannte er seine Parteigenossin Giovanna Marinelli zur neuen Kulturstadträtin, die ebenso entschlossen, aber weniger martialisch auftrat. Sie gab an, im Dialog mit dem Besetzerkollektiv das Stadttheater in einen »legalen Kontext« zurückführen zu wollen. Im besetzten Valle erklärte man sich zu Gesprächen bereit, unter der Bedingung, dass die kulturellen, politischen und sozialen Errungenschaften der vergangenen drei Jahre anerkannt und über die Fortsetzung des Modells eines selbstorganisierten Theaters in einem offenen und öffentlichen Prozess entschieden würde.
Während im Theater die letzten Garderobenräume leergeräumt werden, wird draußen Kritik laut: »Das Kollektiv hat ganz alleine entschieden, sich auf Verhandlungen mit der Stadt einzulassen, das war ein Fehler.« Und: »Ausgerechnet mit Ma­rinelli! Sie gehört doch genau zu jener staatlich-korrupten Kulturbürokratie, gegen die wir immer gekämpft haben.« Nicht alle sind so aufbrausend wie der junge Mann, der inzwischen auf seinem Roller davongefahren ist. Trotzdem überwiegt die Unzufriedenheit, auf Facebook werden wütende Kommentare gepostet.

Andrea, der in den ersten Wochen der Besetzung dabei war, mit seiner Band mehrmals im Valle aufgetreten ist, aber in den vergangenen Monaten keinen Kontakt mehr zum Kollektiv hatte, versteht den Unmut nicht: »Es ist doch ein gutes Zeichen, wenn sich die Institutionen endlich wieder um eines der wichtigsten Theater des Landes kümmern. Die Besetzung war doch längst ein unhaltbarer Zustand. Und Sinibaldi ist das Beste, was dem Kollektiv passieren konnte.«
Marino Sinibaldi ist seit Januar Präsident des Teatro di Roma, der städtischen Bühnen, denen nun auch das Teatro Valle wieder unterstellt ist. Für die Kulturschaffenden Italiens ist Sinibaldi eine Garantie. Der ehemalige Bibliothekar und Aktivist der linksradikalen Bewegung Lotta Continua hat 1999 für das Kulturprogramm von Radio Rai 3 die Literatursendung »Fahrenheit« ins Leben gerufen, in der seither täglich drei Nachmittagsstunden lang Bücher und Autoren vorgestellt werden und allgemein über die Literaturszene berichtet wird. Anders als die Kulturstadträtin ist Sinibaldi über jeden Zweifel erhaben. Er hat das Teatro Valle Occupato von Anfang an unterstützt, lange bevor ihm die offizielle Vermittlerrolle zugesprochen wurde.
Doch kaum hatte das Besetzerkollektiv Dialogbereitschaft signalisiert, setzte Marinelli ein Ultimatum: Bereits zum 31. Juli sollte das Theater geräumt sein. Die Ankündigung unmittelbar bevorstehender Restaurierungsarbeiten wertete man im Valle als Vorwand, die zugesagten Verhandlungen platzen zu lassen. Die Fronten verhärteten sich. Nach drei Jahren drohte plötzlich sogar wieder die Gefahr einer polizeilichen Räumung. Erst jetzt wurden die externen Unterstützerinnen und Unterstützer mobilisiert, erst jetzt lud das Valle Occupato zu öffentlichen Vollversammlungen. Noch einmal solidarisierten sich Intellektuelle und linke Oppositionspolitiker. Kampflos sollte das Theater nicht geräumt werden, die Stadt sollte wenigstens zu schriftlichen Zusagen gezwungen werden. Doch auch der wohlwollende Vermittler blieb hart: Die Forderung nach Unterzeichnung einer »Konvention« könne, so Sinibaldi, erst erfüllt werden, wenn die illegale Besetzung aufgehoben sei. So geriet die lange Nacht zum »32. Juli«, die als künstlerisch-friedliche Widerstandsaktion angekündigt worden war, zu einem ersten Abschiedsfest. Das einzige Zugeständnis, das den städtischen Behörden abgerungen werden konnte, betraf die »freie« Wahl des Auszugsdatums: Es durfte der 10. August sein, die Nacht von San Lorenzo. Der Legende nach fallen in dieser Nacht zum Andenken an das Martyrium des auf dem Scheiterhaufen verbrannten Heiligen Laurentius besonders viele Sternschnuppen.

Über der engen Via del Teatro Valle ist jedoch nur ein schmaler Streifen tiefblauen Nachthimmels zu erkennen. Ein Bund weißer Luftballons schwebt an einer langen Leine hoch über dem Theaterdach, aber Sternschnuppen fallen nicht in die schmale Gasse. Der Wunsch, die Ereignisse könnten im letzten Augenblick durch einen coup de théâtre noch eine unerwartete Wendung nehmen, erfüllt sich nicht. Im Laufe des Abends sieht man viele bekannte Gesichter aus der autonomen Szene, auch die Buchhändler aus den umliegenden Buchläden sind da, viele Kollegen von linken Zeitungsredaktionen, alle kommen zu einem letzten Abschiedsgruß. Eine traurige, depressive Stimmung wabert durch die Straße. Roberto, einer der zahlreichen prekären Wissensarbeiter, die zum externen Unterstützerkreis des Valle gehören, kommt mit einem Bier aus der gegenüberliegenden Bar. Auch er ist enttäuscht: »Am Ende hat die Gruppe ihre beruflichen Interessen verteidigt, Sinibaldi wird dafür sorgen, dass die für den Herbst geplanten Premieren auf anderen römischen Bühnen stattfinden können.« Durch die offene Glastür fällt sein Blick auf das Wandbild im Foyer: »Teatro Valle – Bene Comune« steht inmitten vieler Namen, die für andere Hausbesetzungen, selbstverwaltete Projekte, Centri sociali, Kulturinstitutionen und soziale Bewegungen stehen. Roberto wirft dem Besetzerkollektiv vor, zugunsten der eigenen künstlerischen Interessen den gemeinsamen Kampf für weiterreichende politische Ziele aufgegeben zu haben. Noch ein Bier später wird er zugeben, dass der Entschluss zur freiwilligen Räumung auch den veränderten gesellschaftlichen Umständen geschuldet sein dürfte.
»Wie die Luft, wie das Wasser, das Valle ist ein Gemeingut«: Von der Witterung zerzaust und vergilbt erinnert das alte Transparent an der Außenfassade an die Aufbruchsstimmung im Sommer 2011. In der Euphorie nach dem erfolgreichen Volksentscheid gegen die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung schien die Entstehung einer größeren, emanzipativen Gesellschaftsbewegung möglich. Doch die Hoffnung auf ein dauerhaftes Bündnis verschiedener sozialer Gruppierungen erfüllte sich nicht. Im Teatro Valle Occupato zeigten sich von Beginn an die Widersprüche zwischen den künstlerisch-professionellen Anliegen und politisch radikaleren Forderungen. Schließlich konzentrierte sich das Kollektiv auf die Gründung der Stiftung »Teatro Valle – Bene Comune«. In einer über Monate andauernden öffentlichen Diskussion wurde in Zusammenarbeit mit namhaften Verfassungsrechtlern ein Statut verfasst, das zwar von gesellschaftsverändernden Ambitionen getragen wird, letztlich aber doch die rechtlich-bürokratische Organisation eines »Theaters der Partizipation« in den Vordergrund rückt. Die Besetzung des Theaters wird in der Präambel als konstitutiver Rechtsakt interpretiert: Die Selbstorganisation verteidige das Theater als Gemeingut sowohl gegen privatwirtschaftliche Interessen als auch gegen antidemokratische und korrupte Strukturen öffentlich-staatlicher Institutionen. Heute zählt die Stiftung mehr als 5 000 Mitglieder und verfügt über ein Stiftungskapital von knapp 150 000 Euro. Roberto ist sich sicher, dass die freiwillige Räumung des Theaters das vorläu­fige Ende der Bewegung für Gemeingüter bedeutet. Der Versuch, das traditionelle Verhältnis zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor aufzubrechen und eine neue Form des Öffentlichen und Gemeinsamen zu etablieren, sei gescheitert. »Sollte die Stiftung nach der Räumung tatsächlich anerkannt werden, dann übernimmt sie in der Kooperation mit den staatlichen Bühnen des Teatro di Roma die Rolle eines ›privaten‹ Partners, wie jede andere Stiftung auch.« Es ist inzwischen so spät geworden, dass niemand aus dem Kollektiv der Kritik etwas entgegenzusetzen hat. Tatsächlich werden Robertos Befürchtungen auch von denen geteilt, die am nächsten Morgen Zuversicht und Kampfgeist demonstrieren müssen.
Es ist kurz vor elf  Uhr, die Anspannung ist schon an der Ecke zur Via del Teatro Valle zu spüren. Der Schriftsteller Christian Raimo läuft unruhig auf und ab. Auch er gehört zu den externen Unterstützern, die die Besetzung des Theaters immer als Teil eines größeren Kulturkampfs betrachtet haben. Er deutet in die Gasse: »Wo ist das Publikum, das drei Jahre regelmäßig zu den Veranstaltungen kam? Wo sind die, die nicht wollten, dass es so zu Ende geht?« Die vielen virtuellen Unterstützer, die in den vergangenen Tagen zu Hunderten Online-Petitionen unterzeichnet haben, sind dem letzten Aufruf, zur offiziellen Schlüsselübergabe an Ort und Stelle präsent zu sein, nicht gefolgt. Vor dem Eingang zum Theater drängen sich vor allem Journalisten, jeder Fernsehsender hat ein Kamerateam geschickt. Ileana tritt noch einmal als Pressesprecherin auf, gibt Interviews, wiederholt wie eine Beschwörungsformel den Satz: »Mit dem Ende der Besetzung beginnt eine neue Phase.«
Nach einem Neuanfang sieht es aber nicht aus. Monatelang hat die rechtskonservative Stadtpresse gefordert, den Besetzerinnen und Besetzern die laufenden Unterhaltskosten in Rechnung zu stellen, jetzt ist ihnen tatsächlich in den letzten Stunden noch der Strom abgedreht worden. Als der Vertreter der Stadtverwaltung zur Schlüsselübergabe erscheint, müssen ihm die Fernsehkameras den Weg in den Saal ausleuchten. »Ein Missverständnis«, wird die Kulturstadträtin später behaupten. »Das ist kein gutes Zeichen«, stellen die Besetzerinnen und Besetzer zu Beginn der Pressekonferenz klar, »dass die Stadt uns nicht vertraut. Wir halten uns an unsere Zusagen und verlassen uns darauf, dass sich auch die Stadt an ihre Zusage hält, im Herbst an den Verhandlungstisch zurückzukehren.« Applaus brandet auf. Der zur Schau gestellte Optimismus tut weh, viele haben Tränen in den Augen. Auch die letzte Forderung, wenigstens das Foyer nicht zu schließen, um für die Stiftung und die interessierte Öffentlichkeit die angekündigten Restaurationsarbeiten transparent zu gestalten, wird ab­gelehnt. Sinibaldi, der hager und müde zwischen den Besetzerinnen und Besetzern sitzt, will sich dafür einsetzen, dass das Foyer schnellstmöglich wieder zugänglich gemacht wird. Noch ein Versprechen, das vorerst letzte.
Am Ende der Woche hängen in den Fensterscheiben des Foyers noch die Polaroids der letzten Solidaritätsaktion. Die Bar gegenüber ist geschlossen, auf den heruntergelassenen Rollläden kleben Durchhalteparolen, die obsolet geworden sind: Teatro Valle Occupato hat den Sommer nicht überstanden. Der kleine Elektrobus 116 gleitet lautlos an der verwaisten Haltestelle vorbei. Nichts deutet in der stillen Leere des trägen Augustsonntagnachmittags darauf hin, dass wie im Schaukasten des Theaters angekündigt, im September der Stern der Stiftung »Teatro Valle – Bene Comune« wieder aufsteigen wird. Sicher ist nur, dass die erste im Valle Occupato entstandene, kollektive Produktion von Silvio Paravidino mit dem Stück »Il Macello di Giobbe« in Brüssel im Bozar-Palais des Beaux Arts am 15. und 16. Oktober internationale Premiere feiern wird.