Hilfe bei der Auswahl der Literatur der Frankfurter Buchmesse

Drei Sprachen, eine Sauna

Zur Frankfurter Buchmesse 2014 erscheinen rund 120 finnische, finnlandschwedische und samische Bücher in deutscher Übersetzung. Was soll man davon lesen?

Als Island vor drei Jahren das Gastland der Frankfurter Buchmesse war, schien das Land in den Medien, Buchläden und Kulturprogrammen allgegenwärtig zu sein. Das diesjährige Gastland Finnland präsentiert sich zurückhaltender, manchmal könnte man glatt vergessen, dass gerade Finnland-Jahr ist. Natürlich hatte Island große Vorteile, als es um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ging; da waren die Finanzkrise, die Wutbürger, die eine unfähige Regierung vom Thron stießen, und noch dazu Vulkanausbrüche. Finnland, das ohne Vulkane und revolutionäre Energien auskommen muss, hat es schwerer, und dass die kreativen Geister des Landes sich für den Messeauftritt den einmalig einfältigen und nichtssagenden Slogan »Finnland:cool« ausgedacht haben, ist sicher keine große Hilfe. Immerhin gibt es dieses Jahr einen Haufen finnischer Bücher auf dem deutschen Markt; wenn wir der Website des Finnland-Instituts glauben wollen, nicht weniger als 120. Also mehr als doppelt so viel, wie Island vor drei Jahren schaffte. Wer soll das alles lesen, denkt die Rezensentin gequält, aber ein Blick auf die Liste beruhigt. Da sind zum Beispiel alle Titel von Arto Paasilinna aufgeführt, gleichgültig, in welchem Jahr sie erschienen sind. Und eine stattliche Menge Romane von Mika Waltari (1908–1979), zweifellos eine verdienstvolle Literatur, aber ihre große Zeit liegt doch über ein halbes Jahrhundert zurück. Es bleiben aber noch genug Titel, und da ist es leichter, erstmal nachzusehen, was denn wohl fehlt. Erkennen wir verlegerischen Mut, spannende Wiederentdeckungen, welche Chancen wurden genutzt und welche vertan?
Eine große Autorin würden wir in diesem Jahr gern neu beziehungsweise wiederentdecken: Minna Canth (1844–1897). Sie verfasste Romane, Theaterstücke und Essays. Leider fehlt sie auf Finnlands cooler Liste. Dabei gibt es sie in deutscher Übersetzung. Der kleine Verlag Grin hat einige ihrer Werke im Programm. Oder Hella Wuolijoki (1886–1954), Brecht-Freundin und die eigentliche Autorin des »Herrn Puntila«, auch sie wurde ins Deutsche übersetzt. Doch statt weiter darüber zu lamentieren, was alles fehlt, werfen wir jetzt einen mutigen Blick auf die Bücher, die es gibt.
Allgegenwärtig ist Tove Jansson (1914–2001), deren 100. Geburtstag gerade gefeiert wird. Endlich sind ihre »Mumins« – in Deutschland bekannt geworden durch eine sensationelle Adaption der Augsburger Puppenkiste – zu dem Ruhm gelangt, der ihnen gebührt. Es gibt zudem Erzählungen von Tove Jansson und ihre Kindheitserinnerungen »Die Tochter des Bildhauers«. Schade nur, dass kein Verlag ihren Erzählband »Lyssnerska« von 1971 herausbringen mochte, in dem die Autorin frech und erotisch schreibt. Wenn wir erwähnen, dass die Heldin in einer Geschichte plant, einen Arsch aus Marmor zu stehlen, sagt das genug? Die neuaufgelegten Kindheitserinnerungen erschienen in Deutschland erstmals vor rund 30 Jahren, damals bei Rowohlt in der Reihe »Neue Frau«. Dort veröffentlichte ebenfalls Märta Tikkanen ihren Roman »Wie vergewaltige ich einen Mann?«. Tikkanen ist eine der bedeutendsten finnischen Autorinnen, viel diskutiert wurde zuletzt ihr Buch »Emma & Uno« (2010). Auf Deutsch gibt es den Roman leider auch im finnischen Jahr 2014 nicht. Und dann hat Finnland noch den Klassiker Zacharias Topelius (1818–1898) zu bieten, dessen Erzählung »Das Kind aus den Schneebergen« noch bis vor wenigen Jahren in keiner Weihnachtssendung im Radio fehlten durfte. Doch auch er teilt das Schicksal seiner Kollegin Tikkanen.
All diese Autoren schreiben auf Schwedisch. In Finnland werden drei Sprachen gesprochen, Finnisch, Schwedisch und Samisch. Nils-Aslak Valkeapää (1943–2001), als erster und bisher einziger samischer Autor mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet, ist vertreten auf der Buchmessenliste. »Grüße aus Lappland« heißt das Buch. Leider geht beim Verlag nie jemand ans Telefon und die Website ist leer, deshalb kann über dieses Buch an dieser Stelle nichts gesagt werden. Prinzipiell aber gilt: Valkeapää ist einfach sensationell gut. Antiquarisch gibt es Übersetzungen seiner Gedichte, die hiermit dringend empfohlen werden. Kurz vor seinem Tod teilte er mit, er werde aus Zorn über die finnische Sami-Politik so schnell wie möglich die norwegische Staatsbürgerschaft annehmen. Samische Werke fehlen auf der Buchmesse weitgehend; was wir daraus schließen können, sei dahingestellt. In dem Buch »Alles absolut bestens mit mir« ist immerhin die Samin Kirsti Paltto vertreten, mit einer Geschichte, in der eine Frau sich völlig anpasst, den Wünschen ihres Mannes einerseits, der klare Vorstellungen von einer »richtigen Frau« hat, und der Gesellschaft andererseits, die verlangt, dass Finnisch gesprochen und alles Samische aufgegeben wird. Im selben Buch finden sich Erzählungen von acht finnischen Autorinnen aus dem gesamten 20. Jahrhundert, und dieses Buch ist durch seine Vielseitigkeit und die kluge Auswahl geradezu ein Kleinod – aber was hat dagegen gesprochen, den biographischen Hinweisen hinzuzufügen, welche Werke es von den Autorinnen sonst auf Deutsch zu lesen gibt?
Die meisten der jetzt auf Deutsch erschienenen Bücher sind Übersetzungen aus dem Finnischen, darunter die allgegenwärtigen Krimis, die derzeit überall die Buchläden verstopfen. Wer einen oder zwei lesen will: Empfehlenswert sind Leena Lehtolainen und Matti Joensuu. Zu den finnisch Schreibenden gehören ebenfalls der bereits erwähnte Paasilinna oder Sofi Oksanen, deren Bücher teilweise in Estland spielen. Ihr neuer Roman, »Als die Tauben verschwanden«, setzt zur Zeit der deutschen Besatzung ein. Judit, die Hauptperson, verliebt sich in einen deutschen Offizier, während ihr Mann versucht, mit Hilfe eben dieses Mannes Karriere zu machen. Dann kommen aber die Sowjets und alles wird ganz anders. »Wie ein Thriller«, schreibt der Verlag, und so blöd es klingt, es stimmt. Dann ist da Leena Lander zu nennen, deren neuer Roman »Eine eigene Frau« in die Zeit des Bürgerkriegs führt, ins Jahr 1918. Ein Mann sucht Abstand von seiner gescheiterten Ehe und versucht, die Geschichte seiner Großmutter zu rekonstruieren. Und findet, natürlich, mehr Geheimnisse, als er jemals geahnt hätte, und der so harmlos beginnende Roman wird plötzlich zur spannenden Familiensaga mit düsterem politischen Hintergrund.
Ein einziger Finne wurde bisher mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet und zwar Frans Eemil Sillanpää (1888–1964), und der neu gegründete Verlag Guggolz, den man sich unbedingt merken sollte, legt Sillanpääs Roman »Frommes Elend« vor, die Geschichte eines Kleinbauern, der mehr als genug damit zu tun hat, sich und seine Familie einigermaßen satt zu bekommen, und der dann in die Wirren des finnischen Bürgerkriegs gerät. Noch einen klassischen Roman müssen wir unbedingt nennen: »Sieben Brüder« von Aleksis Kivi (1834–1872). Dieses Buch gilt als erster Roman in finnischer Sprache überhaupt und verursachte bei seinem Erscheinen einen Skandal, denn die sieben Brüder sind so arm wie die Menschen bei Sillanpää, tragen ihr elendes Schicksal aber nicht mit Würde, sondern saufen und huren herum und intrigieren gegeneinander und gegen alle Welt, dass es eine Lust ist. Darin ähneln sie den Figuren im Werk des norwegischen Nobelpreisträgers Knut Hamsun (1859–1952) – wenn das kein Lob ist! Der Verlag hat keine Übersetzerangabe ins Netz gestellt, unsere Kurzvorstellung orientiert sich an der hervorragenden alten Übersetzung von Edzard Schaper.
Wer früher in Finnland etwas werden wollte, sprach Schwedisch. Dass Finnisch, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als primitive Arme-Leute-Sprache galt, überhaupt so schnell zur Literatursprache werden konnte, ist dem »Kalevala« zu verdanken, dem finnischen Nationalepos, das wilde Mythen und Heldensagen versammelt. Es wurde von dem Philologen Elias Lönnrot (1804–1884) zu 22 795 Versen zusammengefasst und 1835 erstmals veröffentlicht. Dieses Jahr erscheint es in einer alten Übersetzung in Neuauflage. Außerdem erscheint ein von Kat Menschik schön illustrierter Band, in dem Tilman Spreckelsen die Geschichten »nacherzählt«. Wie gut und umfassend Spreckelsens Finnischkenntnisse sind, war nicht zu ermitteln. Dass im vergangenen Jahr etliche Autoren von etlichen Verlagen gefragt wurden, ob sie für 2014 das »Kalevala« neu erzählen möchten, dass sie aber alle ablehnten, weil sie kein Finnisch könnten, lässt hoffen, dass er es kann. Die Illustrationen allein sind den Erwerb jedenfalls wert.
Kinder- und Jugendbücher gibt es auch, erwähnt sei der Roman »Wir fallen nicht« von Seita Vuorela – eine Dystopie für Jugendliche. Anfangs erinnert die Atmosphäre sehr an die »Hungergames«, dann verdüstert sie sich und die Geschichte entfaltet atemberaubende Spannung. Es geht um zwei Brüder, von denen einer verschwindet. Auch wäre es schön gewesen, ein paar Klassiker neu aufzulegen, nicht nur die gesammelten Geschichten der »Mumins«. Ein Bestseller in Deutschland und 1958 vorgeschlagen für den Deustchen Jugendbuchpreis, war »Geh nicht fort, Inkeri« von Aili Konttinen (1906–1969), die übrigens auch eine fünfbändige Fassung der »Kalevala« für Jugendliche veröffentlich hat (gibt’s natürlich nicht auf Deutsch!). Es ist von der Thematik her ein brandaktuelles Buch, denn es behandelt das Schicksal von Kriegskindern, die, von ihren Eltern in ein vermeintlich sicheres Land geschickt, in keinem mehr richtig zu Hause sind.
Als Island 2011 Messeschwerpunkt war, nahmen die isländischen Organisatoren die Literatur der Färöer-Inseln mit ihrer dem Isländischen eng verwandten Sprache mit in ihren Veröffentlichungskanon auf, wohl wissend, dass die Färöer allein so schnell keinen Messeschwerpunkt bilden und unter den Tisch fallen würden, sollte Dänemark (zu dem die nur teilautonomen Inseln noch immer gehören) je zu Schwerpunkt-Ehren gelangen. Grund also, es den Isländern gleich zu tun und sich an dieser Stelle in den finnischen Nachbarländern umzusehen, was die offizielle finnische Auswahl leider versäumt hat.
In Schweden gibt es eine finnischsprachige Minderheit, die in der Gegend von Tornedalen in Nordschweden siedelt, sie nennen ihr Finnisch im Unterschied zum Finnlandfinnischen Meänkieli (»unsere Sprache«). Es gibt Literatur auf Meänkieli, aber nichts davon wurde bisher ins Deutsche übersetzt. Der aus der Gegend gebürtige Autor Mikael Niemi war vermutlich gut beraten, als er beschloss, lieber gleich auf Schwedisch zu schreiben – seinen internationalen Durchbruch hatte er mit dem Roman »Populärmusik aus Vittula«, der hier nochmal ganz energisch empfohlen werden soll, denn Niemi bringt darin mehr finnische Seele unter, als ein ganzer finnischer Männergesangverein sonst liefert. 2014 erscheint auf Deutsch sein neuer Roman »Die Flutwelle«, in dem er die Machenschaften des nicht nur in Schweden berüchtigten Konzerns Vattenfall untersucht. In Norwegen gibt es eine finnischsprachige Minderheit, die Quänen – erste Berichte über ihre Siedlungen nördlich des Polarkreises finden sich schon im Mittelalter. Der Historienschreiber Adam von Bremen hielt ihren Namen für eine Ableitung des griechischen Wortes für »Frau« und beschrieb sie als matriarchalischen Volksstamm mit Hang zur Vielmännerei. Leider leben sie heute ganz angepasst als Minderheit in Norwegen, worin ihre Sprache vom Finnlandfinnischen abweicht, ist unklar, die Website ihrer norwegischen Interessenorganisation teilt einfach mit, sie unterscheide sich in »in Vokabular und Grammatik«.
Ein vor einigen Jahren von dieser Interessensorganisation veröffentlichter Band mit quänischer Literatur enthält vor allem Naturlyrik und Erinnerungen an schöne Zeiten, als noch viel mehr Quänisch gesprochen wurde. Vielleicht ist es also verständlich, dass die quänische Verwandtschaft bei Finnland:cool unerwähnt bleibt. Viel weiter im Süden, in Ostnorwegen, im Gebiet an der Grenze zu Schweden, leben die Nachkommen von Finnen, die im 18. Jahrhundert aus Finnland in dieses unbesiedelte Waldgebiet auswanderten. Ihr Siedlungsbereich heißt noch heute Finnskogen (»Finnenwald«). Orts- und Personennamen, allerlei Brauchtum und die Tatsache, dass noch heute alle dauernd in die Sauna gehen, zeigen die finnische Herkunft der Bevölkerung. Noch bis ins 20. Jahrhundert wurde in Finnskogen Finnisch gesprochen, heute sind in der Alltagssprache nur noch einige finnische Lehnwörter zu finden. Und doch ist alles eher finnisch als norwegisch, und jede Familie weiß genau, woher die Vorfahren damals kamen, und alle haben von diesen Vorfahren mindestens eine alte Axt oder Säge und eine ebenso alte finnische Bibel geerbt. Aus Finnskogen stammt der Autor Levi Henriksen, dessen Roman »Die Geschichte meiner Familie in Äxten und Sägen« es auch nicht auf die besagte Liste geschafft hat, und der in seinem Buch auf das mitgebrachte Werkzeug und den langsamen Verlust der finnischen Kultur eingeht.
Zum Schluss noch etwas, das die Vortrefflichkeit der finnischen Sprache (samt Meänkieli und Quänisch) belegt. Zu verdanken ist dieser Hinweis der in Oslo lebenden Sprachforscherin Margherita Podestà: Auf Norwegisch wird die Person, mit der jemand ein Verhältnis hat, als kjæreste bezeichnet, geschlechtsneutral, in etwa »geliebtes Wesen«, auf Schwedisch sagt man älskling (»Liebling«), auf Finnisch aber mulkvisti – »die Person, die ich etwas weniger hasse als die anderen«. Das ist schön und feinsinnig und die hier erwähnten Bücher sind von dieser Haltung gegenüber Umwelt und Mitmenschen aufs Hinreißendste geprägt.