Filme von Isild Le Besco im Berliner Kino Arsenal

Die Zärtlichkeit von Dosenravioli

Vielleicht hat das deutsche Kino Isild Le Besco bislang verschmäht, weil sie zu radikal ist. Nun widmet das Berliner Kino Arsenal der französischen Regisseurin und Schauspielerin eine Reihe.

Wir waren glücklich. Ich weiß nicht, ob wir glücklich waren«, sagt eine weibliche Stimme aus dem Off, fast flüsternd und wie aus großer Entfernung. Mit diesem Widerspruch beginnt der Film »Demi-tarif« (2004), das Regiedebüt der französischen Schauspielerin Isild Le Besco. Es ist eine Aussage, die programmatisch ist für die anarchische Ordnung, die der Film ebenso beschreibt wie selbst herstellt. Zwei Mädchen und ein Junge, Halbgeschwister im Alter von sieben, acht und neun Jahren, leben ohne Eltern in einer Pariser Wohnung. Die Mutter ist abwesend und dennoch präsent, gelegentlich, so berichtet die Stimme, komme sie vorbei, bringe Geschenke und fülle den Kühlschrank, der Film aber zeigt sie nicht. Allein auf sich gestellt, schaffen sich die Kinder ihre eigene Ordnung und versinken in der schönen Welt ihrer Spiele und geheimen Abmachungen. Sie klauen, fahren ohne Ticket Metro, schleichen sich nachts heimlich ins Kino und rennen im Freien nackt herum. Sie schminken und verkleiden sich. Oder sie sprechen tagelang nicht miteinander und kommunizieren nur über Zettel. Isild Le Besco beschwört in »Demi-traif« die grenzenlose Freiheit der Kinder, anstatt ihre Lebensumstände als Verwahrlosung darzustellen. Die bewegliche Kamera ist dabei Teil der Wirklichkeit der Kinder, sie hat nichts zu tun mit dem Handkameraherangeschnüffel des sogenannten Authentizitätskinos. Auch die Off-Stimme sprengt die erzählerischen Normen: Die Stimme spricht von »wir«, sie gehört aber weder den Kindern noch der Mutter, sie konturiert, umarmt die Kinderwelt und ist ihre bedingungslose Komplizin.
Kompromisslosigkeit ist auch den Figuren eigen, die die Schauspielerin Le Besco verkörpert hat. Allein die Filmtitel erzählen von schwer zu bändigenden Energien: »Camping sauvage«, »Pas douce« (Nicht sanft), »Je te mangerais« (Ich werde dich verschlingen). Oft spielt Le Besco junge Frauen, die aus ihrem langweiligen, bürgerlich-gesättigten oder kleinbürgerlich-stickigen Alltag ausbrechen, Frauen, die sich mit den falschen Typen einlassen, mit einem Bankräuber (»À tout de suite« von Benoît Jacquot, 2004) oder wie in Cédric Kahns großartigem Film »Roberto Succo« (2001) mit einem Serienmörder. Selbst wenn diese Frauen nicht frei von Naivität sind, legt Le Besco in diese Figuren so viel Eigensinn und Widerspenstigkeit, dass sie nie in die Position der Mitläuferin oder einfältigen Romantikerin geraten. Handlungen, die gegen Sinn und Verstand verstoßen, sind ihre Form der Rebellion, ihre Triebkraft ist die Neugierde: In »Sade« (Benoît Jacquot, 2000) spielt Le Besco die junge und unerfahrene Emilie des Lancris, die 1794 in einem Pariser Luxusgefängnis dem Marquis de Sade begegnet. In Erwartung der Guillotine ist sie fest entschlossen, nicht aus der Welt zu gehen, ohne ihr noch unartikuliertes Begehren auszuleben.
Isild Le Besco, 1982 in Paris geboren, ist hierzulande – wenn überhaupt – durch ihre Zusammenarbeit mit Benoît Jacquot bekannt. Sie spielte in sechs seiner Filme mit, darunter »L’intouchable« (2006) und »Au fond des bois« (2010). Le Besco kommt aus einer Künstlerfamilie, in »La Puce« (Emmanuelle Bercoz, 1998) tritt sie 15jährig neben ihrer Mutter, ihren Geschwistern und Halbgeschwistern auf. Ihre Ausstrahlung ist schwer zu fassen: Sie verbindet Unscheinbarkeit mit extremem Charisma. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob man sie nun eigentlich schön finden soll oder nicht. Ihre Physiognomie hat etwas Verrutschtes, irgendwie Vogelartiges, der Schmollmund dazu irritiert erst recht.
Le Bescos eigene Filme, von denen bislang keiner in den deutschen Kinos zu sehen war, handeln von Kindheit und Jugend jenseits der gesellschaftlichen Ordnung. Was die eigentliche Radikalität der Filme ausmacht, ist der Umstand, dass sie dies »andere« Leben der Kinder und Jugendlichen nicht als Ausbruch und als Reaktion beschreiben, sondern als ein autonomes System in den filmischen Raum stellen. »Demi-tarif«, den sie im Alter von 21 Jahren gedreht hat, ist konsequent aus der Welt der kindlichen Protagonisten heraus erzählt, es gibt weder mitleidige Blicke noch sozialpädagogische Beurteilungen aus der Perspektive der Erwachsenen. Würden sie nur irgendetwas davon begreifen, müssten die Macher und Förderer des sich in moralischen Standpunkten behaglich einrichtenden Thesenfilms durch Le Bescos Filme entsetzlich beschämt sein.
In »Charly« (2007) trifft der antriebsarme 14jährige Ausreißer Nicolas auf die kleine Welt der Prostituierten Charly, die den Teenager ein paar Tage in ihrem armseligen Wohnwagen aufnimmt. Jeder Gegenstand hat seinen Platz, jeder Handgriff seine vorgeschriebene Choreographie und Chronologie. Nicolas fügt sich diesem Regime mit unglaublichem Phlegma, aber doch dankbar, ein wenig in Bewegung gesetzt zu werden. Inmitten der Zwanghaftigkeiten schimmern Freiräume durch: Einmal lesen beide sehr gelöst zusammen aus Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«.
»Bas-fonds« (2010), was so viel wie Abschaum heißt, ist verstörend. Drei junge Frauen, von Laiendarstellerinnen gespielt, hausen und wüten zusammen in einer heruntergekommenen Wohnung, die Einrichtung beschränkt sich auf ein paar schmutzige, unbezogene Matratzen, ein Sofa und zwei Fernseher, auf einem steht ein schwarzer Dildo. Der Film nennt diese Gemeinschaft ménage à trois, was seltsam elegant klingt für die monströse Mischung aus Apathie und Schrecken. Die Frauen lungern herum, schauen Pornos, bewerfen sich mit Essen, verwüsten die Wohnung, sie beschimpfen sich gegenseitig oder steigern sich in manische Glückseligkeit. Ab und zu wird die Sauerei aufgeräumt, der Müll in Tüten verpackt, der Dildo abgewischt, wieder hingestellt. Die dickliche Magalie ist die brüllende Tonangeberin der Drei: »Bring Bier, halt’s Maul, ich hab Hunger, du Arsch, zeig deine Fotze.« Ihre Schwester Marie-Steph trägt lange geflochtene Zöpfe, brüllt zurück und schreibt »Ich hasse mein Gesicht« auf die Wände. Barbara, die Magalie verfallen ist und kaum ein Wort spricht, ist die einzige, die noch einen Fuß draußen im Leben hat: Sie putzt in einem Büro und zahlt die Stromrechnung. Fast scheint es, als seien Aggression und Lärm der Frauen weniger Ausdruck emotionaler Verfasstheit als vielmehr unausgesprochenes Gebot. Als bei einem Überfall auf eine Bäckerei der Besitzer zu Tode kommt, funktioniert dieses System nicht mehr. »Bas-fonds« lässt sich nicht instrumentalisieren, nichts daran ist radical chic. Es ist ein roher und unbehaglicher Film, und man muss schon genau hinsehen, um zwischen dem Herumgeschreie, Getrete, dem Dosenravioligeschlabber und Pornogestöhne so etwas wie Poesie und Zärtlichkeit ausfindig machen kann. Und doch gibt es sie.

Die Reihe »Wild Child – Filme von und mit Isild Le Besco« läuft vom 18. bis 31. Oktober im Berliner Kino Arsenal.