Erinnerungen an die Zeit vor CDs und MP3s

Die gute alte Kassette

Was war die Welt noch schön, als wir von Kassette zu Kassette überspielten. Mixtapes waren bedeutsamer als jeder Liebesbrief, nicht nur die Auswahl, auch die Reihenfolge der Songs sagte viel über den Charakter aus. Die Kassette ist eine verkannte Königin. Ist es traurig, dass die guten Tapes von früher, als die Musik eh noch besser war, nicht mal mehr im Autoradio abgespielt werden können? Vermissen wir nicht alle ein bisschen den Bandsalat?

Ein Bericht von den 37. Bamberger Mediennostalgikertagen

Für Furore sorgte auf den diesjährigen Bamberger Mediennostalgikertagen ein Vortrag des bekannten Essener Funkamateurs und Schlümpfesammlers Karl-Dietrich (»Didi«) Hartmann, der für ein Revival der »Kassettenkultur« plädierte. »Wir erinnern uns alle an die sogenannte ›bleierne Zeit‹ nach dem ›Deutschen Herbst‹«, rief er mit Stentorstimme in den Saal und fuhr dann überraschend leise fort: »Die späten siebziger Jahre waren aber eben auch das Goldene Zeitalter des Kassettenbespielens. Ich weiß noch, wie ich mir von einem Zivildienstkollegen das weiße Album der Beatles geliehen und es in stundenlanger Arbeit auf zwei Kassetten überspielt habe. Man musste genau darauf achten, wie viele Stücke auf die Kassette passten. Und sich am besten vorher schon überlegen, ob man besser eine Sechziger- oder eine Neunziger-Kassette nimmt. Oder ob man das eine oder andere Stück weglässt. Oder ob man sich lieber eine ganz eigene Hitparade zusammenstellt. Auf einer Kassettentauschbörse in Idar-Oberstein habe ich 1978 ein Exemplar erworben, das als zeittypisch gelten kann. Die A-Seite dieser Kassette möchte ich Ihnen gern vorspielen. Der Sound ist natürlich nicht mehr so ganz taufrisch …« 
In den folgenden 30 Minuten wurden die verblüfften Konferenzteilnehmer zu Ohrenzeugen der folgenden Kompilation: Cat Stevens: »Morning has broken«, Neil Diamond: »Song sung blue«, Wolfgang: »Hey, Leute, kauft beim Trödler Abraham«, Inga und Wolf: »Gute Nacht, Freunde«, Doors: »Riders on the storm«, Vicky Leandros: »Theo, wir fahr’n nach Lodz«. Als Didi Hartmann anschließend auch die B-Seite abspielen wollte, gab es leider einen üblen »Bandsalat«, der auch durch das Drehen eines zwischen die Zahnrädchen der hinteren Kassettenspule gesteckten Schraubenziehers nicht behoben werden konnte.
Der Vortragende nahm diese vielbeschmunzelte kleine Panne zum Anlass einer Würdigung der in Vergessenheit geratenen »Kulturtechnik des Vor- und Zurückspulens« und erläuterte sie an zwei prägnanten Beispielen: »Nehmen wir mal an, Sie hätten von Ihrem großen Bruder eine Kassette geerbt, die Ihnen gut gefällt, mit Ausnahme eines mittendrin platzierten Panflötensolos von Gheorghe Zamfir. Wenn das gekommen wäre, hätten Sie oben auf ihrem Kassettenrekorder die Taste für schnellen Vorlauf gedrückt und das Band bis zum nächsten Stück vorgespult. Und wenn Sie ein anderes Stück mehrmals nacheinander hätten hören wollen – sagen wir: ›Block buster‹ von Sweet oder ›Ich liebte ein Mädchen‹ von Ingo Insterburg –, dann hätten Sie, wenn es zu Ende gewesen wäre, die Taste für schnellen Rücklauf gedrückt. Und anhand des Zählwerks hätten Sie feststellen können, ob Sie schon weit genug vor- beziehungsweise zurückgespult hätten … «
Zum Schluss ging Didi Hartmann auf die leidige Zerbrechlichkeit der Kassettenhüllen ein. »Die kriegten ganz leicht Sprünge, denn sie waren ja aus Plastik. Und die Scharniere waren auch nicht eben die haltbarsten! Und wenn die Hülle im Eimer war, dann ging selbstverständlich sehr bald auch das kleine Kartonpapier mit der handschriftlich vermerkten Kassetteninhaltsangabe den Weg allen Fleisches. Nach mehreren Jahren des Überspielens und Beschriftens besaß man in der Regel bloß noch einen Haufen leerer und kaputter Hüllen und eine ganze Menge hüllenloser Kassetten, die unsortiert in irgendwelchen Schubladen herumflogen oder – schlimmer noch! – unter, auf und vor dem Beifahrersitz einer Nuckelpinne, mit der man als Neunzehnjähriger den Verkehr unsicher machte. Ich danke Ihnen.«
Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle starken Beifall. Es entspann sich jedoch sofort eine Kontroverse zwischen den zahlreich vertretenen eingefleischten Kassettenliebhabern und einigen noch sichtlich älteren Semestern, die sich vehement für die Wiedereinführung der Schellackplatte und des Grammophons aussprachen. Ein 102jähriger Greis, der immer wieder »Volksempfänger! Volksempfänger!« schrie, wurde von den gutgebauten Saalordnern hinausgeleitet. Das war aber auch der einzige Missklang, wenn man davon absieht, dass die sechzehnköpfige, spontan gebildete Arbeitsgruppe, die in der Lobby des Tagungshotels den Ursprung der Schreibweise »MusiCassette« googeln wollte, seit Dienstagabend als verschollen gilt.
Insgesamt bleibt festzustellen, dass auch die 37. Bamberger Mediennostalgikertage ihr Versprechen, uns auf unbequeme Weise in die Vergangenheit zu entführen, voll und ganz eingelöst haben.
Gerhard Henschel
Von Gerhard Henschel erschien zuletzt der Roman »Bildungsroman« (Hoffmann und Campe, 2014)
Nicht das Wahre

»Mein Kassettendeck ist vor einigen Jahren kaputt gegangen. Seitdem höre ich leider keine Kassetten mehr. Ich müsste das mal reparieren lassen.« Hier zitiere ich mich selbst, aber genau diese Sätze höre ich immer von Leuten über ihre Plattenspieler, wenn ich von Schallplatten erzähle. Es ist der Lauf der Dinge. Sachen gehen kaputt und werden von neuer Technik ersetzt. Dann setzt irgendwann die Nostalgie ein.
Mixkassetten hingegen vermisse ich gar nicht, und darüber bin ich froh, denn ich sammle auch so schon genug Zeug. Früher habe ich sie mit größter Leidenschaft selbst hergestellt. Die Cover meiner Mixkassetten waren natürlich immer selbstgezeichnet. An den Mixkassetten meiner Freundin konnte ich ablesen, was für einen coolen Musikgeschmack ihre Ex-Freunde in den Achtzigern hatten. Der größte Makel der Kassetten war aber immer, dass sie wieder zu überspielen waren. Außer wenn du die kleinen Teile am Rand rausgebrochen hast. Als Künstler mag ich Endgültigkeit. Endgültige Entscheidungen, die zu einer Version führen, die dann gedruckt wird. Schwarze Tusche auf weißem Karton. Auf Papier gedruckt. In Rillen gepresst. Endgültig. Fertig. Die Mixkassette war streng genommen nie fertig, weil sie immer wieder überspielt werden konnte. Und oft genug auch wurde. Mixkassetten waren der Anfang der Beliebigkeit, die dazu führte, dass es heute immer mehr Leuten schwer fällt, sich zwischen tausenden von Optionen zu entscheiden, noch nicht mal dazu, wem sie ihre Liebe schenken sollen.
In der Punkszene gibt es bis heute eine vernünftige Veröffentlichungshierarchie: erstes Kassettendemo, erste selbst veröffentlichte Single, erste Indie Label-LP, erste Major-CD, dann Auflösung. In der gleichen Hierarchie steht die Kassette hinter der Platte, aber vor digitalen Formaten. Mixkassetten sind wie Soundcloud-Mixe. Oder wie Pornographie. Sie können Anregungen geben. Aber sie sind nicht das echte Ding. Wenn ich früher einen Track gut fand, wollte ich immer die Platte haben. So ist es noch heute.
Andreas Michalke
Kunstwerke

Es ist 1996 und ich bin in der ersten Klasse. Das Debüt der Spice Girls ist gerade erschienen und ich erinnere den Moment, in dem ich die eingeschweißte Kassette von der Zellophanfolie befreie und sie in meinen Kassettenrekorder lege.
Während das Band anfängt sich zu bewegen, entblättere ich das Inlay, studiere die Texte und Fotos der von mir damals vergötterten Girlgroup und gröle aufgeregt in Phantasie-Englisch mit. Meine erste Kassettenerfahrung ist somit eine Spitzenangelegenheit. Trotzdem wird dieses Medium für mich in der darauffolgenden Zeit keine Rolle mehr spielen: Die Compact Disc erobert den Markt. Anschließend MP3. Letztlich entdecke ich Vinyl-Platten für mich und schenke dem rechteckigen Fach der Stereoanlage keine Aufmerksamkeit mehr. Es ist 2010, als ich während meines Auszugs von Zuhause im Keller auf eine Kiste voller Mixtapes meiner Mutter stoße und Kassetten in meine Lebensrealität zurückfinden. Ich bin beeindruckt von diesen kleinen Kunstwerken mit selbstgemalten, collagierten Covern, persönlichen Widmungen und phantastischen Playlists. Eine Kassette, auf der sich Psychic TV, Siouxie and the Banshees, Talk Talk, My Bloody Valentine und Grauzone befinden, ist plötzlich mehr als nur ein Stück Plastik. Mir wird klar: Ich habe es bei den Herstellern dieser Tapes mit wahren Musikliebhabern zu tun. Ich bin begeistert. Auf dieser Entdeckung basierend selbst welche zu machen, kommt mir dabei nicht in den Sinn, da mir das ganze Prozedere dann irgendwie doch zu unpraktisch und aufwendig erscheint. Es werden weitere Jahre vergehen, bis die Tape-Idee wieder aufkommt. Diesmal ist es 2012, und die Bands Trümmer und Zucker sind im Begriff ihre erste Tour zu spielen. Beide Gruppen haben eine Handvoll Songs in Proberaumqualität vorzuweisen und den Wunsch, das irgendwie unter die Leute zu bringen. Es soll etwas Besonderes sein, nicht einfach nur ein Bandcamp-Download, etwas, das man in der Hand hält, etwas mit einer eigenen Optik. Wir entscheiden uns also, ein Tape zu machen, und so verbringen Paul, Christin und ich einen Tag damit, die 100 Kassetten zu bekleben, zu beschriften und zu bedrucken. Sie werden binnen kurzer Zeit vergriffen sein und so freue ich mich jedes Mal, wenn ich mein Exemplar im Bücherregal erspähe, denn ja, es hat einfach einen emotionalen Wert. Ich spiele die Kassette nie ab. Ich kann auf die digitalen Versionen der Songs zugreifen. Darum geht es mir nicht so sehr. Es geht mir vielmehr um das komplexe und aufgeladene Gefühl zu diesem Gegenstand, zu diesem Bild, das klingt.
Pola Lia Schulten
Pola Lia Schulten spielt in der Band Zucker. Als eigenständige Veröffentlichung erschien zuletzt »Es passiert immer irgendetwas«, ein Split-Tape mit Trümmer.
Analoge Jugend

Analog ist sooo letztes Jahrtausend! Aber ich bin da geboren. Als ich aufgewachsen bin, waren die Aufnahmemöglichkeiten begrenzt. Als ich in eurem Alter war, haben wir uns noch Sachen erzählt und gemerkt, das war am billigsten. Ich kann mir auch den ganzen Tag Musikstücke im Kopf abspielen, so dass ich richtig gute Laune davon kriege oder auch ein bisschen weinen muss.
Aber man brauchte eine Vorlage, und dafür waren Kassetten ganz gut. Wir hätten uns die ganze Musik nie leisten können (die aus dem Osten schon mal gar nicht). Für meine eigenen Sachen verwendete ich Vier- oder Achtspurmaschinen. Na? Auch mit Kassette.
Mein Tape-Deck ist uralt, es quietscht ganz furchtbar. Aber Michael hat mir so viele Platten aufgenommen, da wäre es blöd, jetzt alles wegzuschmeißen. Die Tapes vergammeln im Regal, bis auf das von Jimi Hendrix. Jimi Hendrix verträgt alles. Verspielen kann der sich auch nicht – es kann keine falschen Töne in seiner Musik geben. Quietschkassetten frisst der zum Frühstück. Analoge Musik braucht nicht zwingend analoge Technik. Aber der Hörer ist analog, das passt ganz gut zusammen.
Jürgen Kiontke
Piraten sonnten sich auf dem Kassettendeck
Am Anfang von »Irgendwas mit Medien« stand der unschuldige Kassettenrekorder. Ein Panasonic, der coole Schnappgeräusche machte, wenn man die Tasten drückte oder das Kassettendeck öffnete. Musik aufnehmen wurde irgendwann langweilig. Hörspiele auf Kassette konnte man in der sogenannten Mediathek der lokalen Bücherei ausleihen. Hatte man die Kassette mit Bandsalat ruiniert, hatte man natürlich ein Problem, wenn man sie zurückbrachte. In Mode kam damals, seine Hörspiele selbst zu produzieren. Jedenfalls bei den Mädchen, besonders bei solchen, die später mal in die Medien wollten. Dunkel erinnert wird zum Beispiel die nachmittägliche Produktion eines Hörspiels frei nach Siegfried Lenz. Keine Ahnung, warum es gerade »Das Feuerschiff« sein musste. Wahrscheinlich hatte man es im Deutschkurs gelesen. Die einen waren Piraten, die anderen Kapitän und Besatzung. Wichtigstes Requisit war eine Reitgerte, mit der die ganze Zeit wie wild rumgeschlagen wurde. Wegen des Sounds. Die meiste Zeit stritt man sich bei den Hörspielproduktionen allerdings über die Rollenverteilung und die Dialoge. Natürlich auch bei dieser Produktion. Niemand wollte diese Hörspiele später wirklich anhören. Nicht mal die eigenen Eltern. Aber irgendwie waren die Mitschnitte immer schon der Vorschein zukünftiger, bahnbrechender Karrieren in Kunst, Kultur und Medien.
Anne Kreby
My aim is true

Anders als Facebook war das Mixtape, natürlich zusammengestellt aus der eigenen Plattensammlung, ein einigermaßen diskretes Medium. Es sollte zwar das »kulturelle Kapital« (Bourdieu) des Aufnehmenden klar erkennen lassen, das aber ganz zielgerichtet auf eine bestimmte Person zugeschnitten. Kurz, meist fungierten Mixtapes als das, was Verhaltensforscher Balzgeschenk nennen. Deshalb hatte es zwei Anliegen auf einem chrombeschichteten Band zu vereinen: Es musste zeigen, welch coole Bands der Aufnehmende kannte, und zugleich, welch tiefgreifende Emotionen und dazugehörige musikalische Reflexionen die – manchmal auch der – Beschenkte beim Kompilator auslöste. Ein schwieriger Spagat, fühlte man sich doch wie »Love hurts« oder »Sexual healing«, hätte das aber zumindest in nüchternem Zustand niemals durchblicken lassen; andererseits waren musikalisch anspruchsvollere Stücke gerne nicht zu knapp misanthrop und alkoholabhängig, wie, na sagen wir Tom Waits oder Sonic Youth. Die Anzahl der um Liebe und Begehren sich drehenden Songs, die weder allzu dämlich noch allzu negativ wirkten, war nicht sehr groß, die Gefahr, sich zu wiederholen, hingegen umso mehr.
Der Titel, auf den ich in dieser Schnittmenge immer wieder stieß, war Elvis Costellos »Alison« mit der für die LP titelgebenden Textzeile »My aim is true« (zu deutsch: Ich meine es ernst); das war – sowohl von der Botschaft als auch vom Absender her gesehen – optimal, galt Costello bis Mitte der Achtziger doch als Poet und Punk zugleich und wirkte entsprechend auch nicht blamabel. Blamabel wurde meine diesbezügliche Kreativschwäche erst, als eines Abends in froher Runde das Gespräch eben auf Mixtapes kam: »Das, worauf man wetten konnte bei Ulis Kassetten, war, dass Elvis Costello drauf vorkam«, hieß es da von einem Ende des Tisches, während es am anderen antwortete: »Ach, hat er dir das auch immer vorgespielt?« Seit diesem Abend habe ich die bewusste Costello-LP keines Blickes mehr gewürdigt, dabei hat sie das gar nicht verdient, ist sie doch ein schönes Beispiel für die Metamorphose von Pub-Rock in New Wave. Aber was interessiert dich das noch, wenn du dich damit so ins Fettnäpfchen gesetzt hat? Dass Costello seinen Ruf in den letzten Jahren mit furchtbar schmalzigen Auftritten im Berliner RBB-Sendesaal endgültig ruiniert hat, macht die Sache by the way auch nicht eben besser.
Uli Krug
We are the world

Notiz an mich selbst: Gemeinsames Hören selbst aufgenommener alter Kassetten als Veranstaltungsform etablieren, mit dem Konzept reich und berühmt werden! Das Erfolgsrezept der »Diary Slams« genannten öffentlichen Tagebuchlesungen ließe sich bestimmt auf die fast vergessene Kulturtechnik des Kompilierens und Gestaltens von Tapes übertragen. Wo es um die Lust am öffentlich gemachten Privaten und das sympathisierende Belächeln des im Rückblick banal Erscheinenden geht, könnten sorgfältig gestaltete Mixkassetten als Aufhänger ebenso gut funktionieren wie Tagebucheinträge eines unglücklich verliebten Teenagers. Das Schöne an selbstaufgenommenen Kassetten ist, dass sie nicht nur eine bestimmte Haltung und Ära verkörpern, in der Pop mach- und manipulierbar wurde, sondern jedes Tape selbst Zeit konserviert. Die 60 oder 90 Minuten Spiellänge (120-Minuten-Kassetten haben nie so recht funktioniert) bilden genau ab, wieviel Zeit sich einmal eine Person für sich selbst oder jemanden anderes genommen hat. Deshalb war das Verschenken von Mixtapes aus romantischen Interessen so populär – und deshalb ist das Übersenden einer MP3-Playliste vergleichsweise lieblos. Auch die persönlichen Umstände zum Zeitpunkt der Aufnahme schwingen immer mit: Welche Musik mochte ich gerade, welche Radiosendungen haben mich interessiert, wie sah meine Handschrift in der 9. Klasse aus. Es fällt schwer, diese Kassetten wegzuwerfen, obwohl Inhalt und Aufmachung oft naiv oder übertrieben emotional sind und man sie nur noch selten anhört. Bis zum ersten »Hometaping Slam« jedenfalls, auf dem man sich gemeinsam freut und manchmal ein bisschen fremdschämt. Königsdiziplin wären selbstaufgenommene eigene Lieder oder Cover, eine weitere Sonderform der Kassettenkultur. Ich hätte beispielsweise eine allein eingesungene Chorversion von »We are the world« beizusteuern, mit der ich als Teenager ausprobiert habe, wie oft sich auf eine Kassette im Ping-Pong-Verfahren mit dem Vierspurrekorder aufnehmen lässt. Die Kassette, und auch das ist schön und erinnerungswürdig an ihr, hat eine solche Emanzipation vom musikindustriell Vorgegebenen erstmals erschwinglich gemacht. Ihr subversives Potenzial kam im großen Stil bei HipHop und Punk zum Ausdruck – und im Kleinen bei jeder in einem Jugendzimmer aufgenommenen Kassette.
Jana Sotzko
Die Mamas und die Papas

Eins vornweg. Ich vermisse die Kassette nicht. Überhaupt nicht. Aber ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich meinen USB-kompatiblen Voice-Recorder »Kassettenrekorder« nenne, obwohl er doch eher aussieht wie ein altmodisches Handy. Und wer beschreibt mein Erstaunen, als neulich bei der Bandprobe gleich zwei meiner Mitmusiker von meinem Voice Recorder ebenfalls als »Kassettenrekorder« sprachen. Irgendwie scheint sich dieses Gefühl also ganz hartnäckig zu halten, dass es sich wohl nur um einen Kassettenrekorder handeln kann, wenn man auf so eines kleines Aufzeichnungsgerät spielt oder spricht. Auch wenn wir uns schon lange nicht mehr wundern, dass wir statt der Leerkassette das Computerkabel suchen.
In unserem Unbewussten lebt sie also ohnehin weiter: die Kassette. Diese charmante Zaubertechnologie aller ersten kreativen Lebenzeichen. Denn auf Kassetten konnte man ja nicht nur wunderbar Lieblingslieder aufnehmen, sondern auch selber Lieder singen oder plappern.
Und ich weiß wovon ich rede.
Jedesmal – und zwar seit Jahren! – wenn ich meine Mutter besuche, heißt es: ich soll mir endlich mal die Kassette anhören. Die Kassette ist ein Tape, das sie über all die Jahre und Umzüge hinweg aufbewahrt hat und worauf sich angeblich meine ersten Sprechversuche befinden, all die Mamas und die Papas. Bisher bin ich immer darum herum gekommen, mir mein frühkindliches Gebabbel anzuhören. Aber wer weiß wie lange mir noch Ausreden einfallen? Wie zum Beispiel »Ich hab gerade einen Tinnitus« oder »meine Tage«. Auch deshalb hoffe ich insgeheim, dass es bald gar keine Kassettenrekorder mehr gibt. Aber das ist gemein gedacht. Man muss ja auch mal an all diejenigen denken, die die Kassette als kreative Plattform zu schätzen wissen. Eben als »verkannte Königin.«
Bei mir allerdings standen auch Mixtapes nie hoch im Kurs. Wie soll ich sagen? Seit meiner frühen Jugend hänge ich mit Musikern und Musikerinnen ab, und das höchste aller Gefühle war für mich nie, wenn mir jemand liebevoll ein Mixtapes zusammenstellte. Und auch ich selber habe nie Energie und Leidenschaft darauf verwendet, Joy Divisons »Love will tear us apart« mit Pulps » Common people« zu paaren. Viel zu durchsichtig, das Ganze. Es galt in Zeiten schwerer Verliebtheit im Kaffeesatz selbstgeschriebener Songs von befreundeten Musikern und Musikerinnen zu lesen. Oder selber Lieder und Gedichte zu schreiben. Daher habe ich wahrscheinlich immer schon ein wenig auf das Mixtape als romantischem Gefühlsüberbringer herabgeschaut. Um mein Herz zu kriegen, musste jemand schon eigene Songs schreiben!
Ich hab aber auch nur einmal ein Mixtape bekommen. Der Absender war ausgerechnet Jochen Distelmeyer. Ich habe es mir aber nie angehört. Es waren, glaube ich, Prefab Sprout und Atztec Camera drauf. Prefab Sprout konnt ich nicht leiden und Atzec Camera erst recht nicht. Gut also, dass ich nicht noch öfters Mixtapes bekommen habe. Denn die Gefahr ist doch zu groß, dass man den charmanten Überbringer des Mixtapes mit dessen Lieblingsbands verwechselt. Wie viele große Lieben sind schon am unterschiedlichen Musikgeschmack gescheitert! Auch deshalb ist es gut, dass diese komische Kassettenkultur allmählich aus der Mode kommt.
Kerstin Grether
Von Kerstin Grether erschien zuletzt der Roman »An einem Tag für rote Schuhe« (Ventil-Verlag, 2014)